Junge Elite ohne Einfluss
Sie sind gebildet, haben im Westen studiert - und werden trotzdem nicht gebraucht: junge Eliten in Aserbaidschan. Einen Job bekommt nur, wer sich mit der Korruption und dem autoritären Regierungsstil von Präsident Ilham Aliyev arrangiert.
Pause im Institut für Tourismus in Baku. Studenten drängen ins Freie. Eine zierliche Frau in schwarzer Hose und rosa Pullover kämpft sich dem Strom entgegen die Treppen hoch.
"Eine Sache irritiert mich hier immer wieder: der öffentliche Nahverkehr. Ich wusste das natürlich vorher, aber wenn du einmal ein entwickeltes Verkehrssystem erlebt hast, dann ist das hier schwer zu ertragen. Die Busse sind in Baku hoffnungslos überfüllt. Normalerweise würde die Fahrt zur Arbeit nicht länger als 20 Minuten dauern, aber wegen der ständigen Staus dauert es manchmal eine Stunde. Oft ist der Bus zu voll, dann warte ich auf den nächsten. Ich ärgere mich jeden Tag darüber."
Günel Ibrahimova ist 24 Jahre alt und vor einem Jahr aus Großbritannien nach Aserbaidschan zurückgekommen. Sie hat in Glasgow einen Master in Tourismus gemacht, mit einem Stipendium der aserbaidschanischen Regierung. Zuvor hatte sie in Baku Internationale Beziehungen studiert. Das Regierungsprogramm verpflichtet die Stipendiaten, im Anschluss an das Auslandsstudium in ihre Heimat zurückzukehren. Hier hat die 24-Jährige nun eine Stelle am Institut für Tourismus angenommen und unterrichtet selbst.
Auf dem Flur im oberen Stock hängen Poster aus Deutschland: Eine Landkarte mit berühmten Schlössern und Burgen, die Dresdner Frauenkirche, der Nürnberger Christkindlesmarkt. Touristenattraktionen. Günel war noch nie in Deutschland. Aserbaidschan könnte auch viele Touristen anziehen, meint sie.
"Aserbaidschan ist zwar ein kleines Land, aber seine Landschaften sind sehr vielfältig. Und in Aserbaidschan treffen Asien und Europa aufeinander. Wir sind von den Römern beeinflusst, von Arabern, von Persern. Das macht unsere Geschichte faszinierend. Und das spiegelt sich auch in unserer Architektur. Wir haben gute Voraussetzungen für den Tourismus. Aber um ihn zu entwickeln, müssen wir erst mal das System ändern. Die Regierung tut wirklich viel für den Tourismus, es geht dabei aber immer nur um Luxusreisen. Das ist aus Bürgersicht überhaupt nicht wünschenswert, denn davon profitieren nur einzelne."
Schere zwischen Arm und Reich geht auseinander
Günel macht einer Putzfrau Platz. Sie wäscht die Plastiktüten in den Mülleimern aus. Ihre Füße stecken in dicken Socken und zerschlissenen Plastiklatschen. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft in Aserbaidschan weit auseinander. Das Land exportiert Öl und Gas. Das spült Geld in den Staatshaushalt. Die Hauptstadt Baku boomt. Doch nicht alle profitieren davon. Auch Günels Gehalt ist gering, deshalb gibt sie zusätzlich noch Englischstunden. Die junge Frau ist aber nicht wegen des niedrigen Gehalts frustriert, sondern weil sie das Gefühl hat, ihr Wissen sei nicht gefragt:
"Ich glaube, das Stipendienprogramm zählt zu dem Besten, das unsere Regierung in den letzten fünf Jahren gemacht hat. Ich schätze unsere Regierung sehr für diesen Versuch. Aber die Ergebnisse stehen auf einem anderen Blatt. Mein Studium in Großbritannien hat mir erlaubt, meinen Horizont zu erweitern. Ich habe dort begriffen, vor welchen Herausforderungen Aserbaidschan steht. Ich habe zum Beispiel verstanden, dass unsere Entwicklung überhaupt nicht nachhaltig ist. Das Problem ist aber: Das System hier lässt gar nicht zu, dass sich gut ausgebildete Leute für eine nachhaltigere Entwicklung einsetzen. Weil einige Leute überhaupt kein Interesse an einer nachhaltigen Entwicklung haben."
Sie betritt den Dozentenraum. Kleine Tische, Computer. Es ist eng. Hier hängen Plakate aus Bulgarien, der Türkei, Ägypten. Und wie in jedem staatlichen und auch manchem privaten Gebäude ein Porträt des langjährigen Staatsoberhauptes Heydar Aliyev. Das Foto seines Sohnes, des aktuellen Präsidenten Ilham Aliyev, steht in Kleinformat gegenüber im Regal.
Wer einen guten Job will, muss zahlen
Aserbaidschan ist von Clanstrukturen geprägt. Im Mittelpunkt steht die Familie des Präsidenten. Die Korruption ist groß. Arbeitsstellen bekommen deshalb oft nicht die, die qualifiziert sind, sondern diejenigen, die Beziehungen haben oder zahlen:
"Ich weiß, dass andere Auslandsstipendiaten nach ihrer Rückkehr Schmiergeld gezahlt haben, um eine Stelle in einem Ministerium zu bekommen. Wenn ich das auch getan hätte, säße ich jetzt dort. Aber ich glaube seit meiner Kindheit daran, dass du alles, was du willst, auf ehrliche Art erreichen kannst. Das macht einem manchmal das Leben schwer, aber das ist mein Weg."
Viele wählen den einfacheren Weg und passen sich an. Die Behörden Aserbaidschans sind voll mit jungen Leuten, die hervorragend Fremdsprachen sprechen und auf internationalem Parkett, in Brüssel oder Straßburg, eloquent die Linie des Regimes vertreten. Gegen das System stellen sich nur einzelne.
Ein Cafe im Zentrum Bakus. Kleine Tische. Adnan Hajizade war den ganzen Tag unterwegs, hat Videoaufnahmen für einen britischen Ölkonzern gemacht. Er arbeitet dort in der Kommunikationsabteilung. Vor ihm steht ein Teller mit zwei Stück Bruschetta. Es hat ihm nicht geschmeckt. Das Brot war kalt, die Tomaten püriert, das ganze ungewürzt.
"Ich habe ein Gästebuch gesucht, in dem man sich beschweren kann. Aber es gibt wohl keins. Dies Cafe ist nett, aber das Essen schmeckt nicht. So ist das im ganzen Land: Wir haben ein Qualitätsproblem."
Adnan Hajizade ist neben seinem Job bei dem Ölkonzern auch einer der prominentesten Blogger Aserbaidschans. Etwa 10.000 Nutzer folgen inzwischen seinen Einträgen. Zuvor war er vier Jahre in den USA, zuerst als Schüler, später zum Politikstudium – auch mit einem Stipendium. Er setzt sich auf eine Bank im Park. Auch Adnan möchte seinem Land etwas zurückgeben, doch auch er hat das Gefühl, dass sein Wissen bei offiziellen Stellen nicht gefragt ist.
"Ich habe Politische Wissenschaften studiert. Und da es in Aserbaidschan keine Politik gibt, sondern nur eine Fassade, eine Farce, besteht kein Bedarf an meinem Wissen. Nicht an Wahlkämpfen, nicht an Umfragen, nicht an tiefgehenden politischen Analysen. Niemand hat mich je gefragt, was ich weiß. Ich konnte aber die Energie aus dem Studium in USA und aus der lebhaften Zivilgesellschaft dort mitnehmen und sie hier in Aserbaidschan einbringen."
Eine alternative Uni für Querdenker
Mit Freunden gründete er eine Jugendbewegung und die Free Thought University, eine alternative autonome Bildungsstätte für Studenten:
"Wir hatten kein Büro. Wir haben tagsüber Geld verdient und es abends ausgegeben, um einen Saal und ein Mikrofon zu mieten und dann über Philosophie, Recht und Gerechtigkeit zu reden. In dem Saal hatten 140 Leute Platz. Wir hatten zwei Mal die Woche Vorlesungen zu verschiedenen Themen. Sonntags haben wir Filme gezeigt, mittwochs Bücher vorgestellt. Wir hatten Debatten, Diskussionen, Runde Tische. Jeden Tag passierte etwas. Die Leute wussten, dass dort nach sechs Uhr abends immer etwas los ist; dass sie dort neue Ideen finden, neue Freunde. So etwas wollte ich immer haben. Einen Platz, an den junge Leute kommen können, an dem etwas Interessantes, Intellektuelles, Informatives passiert. Wir hatten großen Erfolg. Wir haben unsere Vorlesungen gefilmt und ins Internet gestellt. Wir hatten mehr als 15.000 Facebook-Freunde. Unsere Videos wurden von 3000, 4000 Leuten geguckt. In einem autoritären Staat wie diesem ist das eine sehr hohe Zahl."
Die Behörden sahen sich das eine Weile an. Dann wurde Adnan verhaftet, gemeinsam mit dem bekannten Blogger Emin Milli. Die beiden hatten ein satirisches Video veröffentlicht, in dem sie sich über korrupte Politiker lustig machten. Adnan blieb Monate in Haft. Die Free Thought University lief noch eine Zeit lang ohne ihn weiter. Die Behörden ermitteln gegen acht Aktivisten aus dem Umfeld, unter anderem wegen angeblicher Steuervergehen.
Adnan selbst hat sich zurückgezogen, konzentriert sich auf seine Arbeit bei dem Energiekonzern und auf ein Hobby:
"Seit meiner Kindheit faszinieren mich Ameisen. Ich mag ihre Unbeirrtheit, wie sie arbeiten; die Völker, die sie gründen. Ich wollte immer eine Ameisenfarm haben. Dazu braucht man aber eine Königin, die Eier legt. Heute habe ich zwei Ameisen mit Flügeln gefunden. Keine Ahnung, ob das Königinnen sind, aber ich habe sie gefangen und mitgenommen. Deshalb will ich schnell nach Hause und nach ihnen sehen."
Adnan Hajizade glaubt fest daran, dass sich irgendwann etwas in Aserbaidschan verändern wird. Auch dank der vielen jungen Leute, die im Ausland studiert haben. Es sei nur eine Frage der Zeit:
"In nächster Zeit wird es allenfalls kosmetische Veränderungen geben. Es gibt diese Haie aus alten Zeiten in der Regierung. Die Oligarchen. Sie sind so stark, dass sie Veränderungen verhindern. Selbst wenn einer gute Leute mit Potenzial einstellt, rennen die früher oder später gegen eine Mauer aus Vetternwirtschaft und Korruption. Aber die Free Thought University hat eine große Gruppe junger Leute hervorgebracht, die bei Gelegenheit einen positiven Wechsel in Aserbaidschan herbeiführen werden."
Zu ihnen könnte auch Ulviyya Asadzade gehören. Sie steht vor einer Fußgängerunterführung im Zentrum Bakus. Rolltreppen führen hinab. Der Gang ist mit Marmor ausgelegt. Die Fliesen glänzen. Über dem Eingang ein goldener Schriftzug.
"Dort steht: 'Die erfolgreiche Entwicklung Aserbaidschans ist jetzt Wirklichkeit.' Für mich ergibt das nicht besonders viel Sinn. Es gibt viele dieser sinnlosen Zitate in der Stadt."
Dieses Zitat stammt von Präsident Ilham Aliyev. Viele sind aber auch von seinem Vater. Auch Ulviyya hat einen langen Arbeitstag hinter sich. Die etwa 30-Jährige wertet für eine internationale Organisation Medien aus. Sie hat im US-Bundesstaat Ohio Journalismus studiert. Ende 2011 kam sie nach Baku zurück.
"Manchmal fällt es mir immer noch schwer, mich hier wieder einzugewöhnen. Manche nennen das einen Kulturschock. Es war kein Schock, aber ich bin immer noch überrascht. Ich bin überrascht, jeden Tag Porträts von Heydar Alijew zu sehen. Fast in jeder Straße im Zentrum. Jedes Mal, wenn ich sein Porträt sehe, erinnert es mich daran, dass ich in keinem normalen Land lebe. Dies ist eine Diktatur. Das System einer Monarchie. Und ich bin jedes Mal wieder enttäuscht."
Der Schmerz der Selbstzensur
Ulviyya schreibt auf, was ihr nicht gefällt: In sozialen Netzwerken im Internet. Aber sie schreibt nicht alles. Darunter leidet sie. Es ist das Gegenteil dessen, was sie in den USA kennen und schätzen gelernt hat, das Gegenteil von Freiheit.
"Wenn jemand anders versucht, dich zum Schweigen zu bringen, ist das okay. Du sagst dir, das bin nicht ich, das ist jemand anders, der mich dazu zwingt. Es tut viel mehr weh, sich selbst zu zensieren. Da betrügst du dich, du verrätst deine Identität."
Sie nimmt sich dennoch zurück, aus Rücksicht auf ihre Familie, auf ihren Arbeitgeber, auch aus Angst, wie der Blogger Adnan Hajizade ins Gefängnis zu kommen. Sie geht zur Promenade. Vom Meer weht ein leichter Geruch von Öl herüber. Ulviyya ist mit Freunden verabredet. Ihr Freundeskreis ist in den letzten Jahren immer kleiner geworden, beschränkt sich auf Gleichgesinnte.
"Ich bin ein idealistischer Mensch. Das sind nicht viele. Die meisten Absolventen ausländischer Hochschulen sind pragmatisch und wollen ihren Job behalten. Das ist traurig. Wenn du einen Abschluss einer ausländischen Universität hast, dann hast du viel mehr Freiheiten als andere, und dann hast du auch eine Verantwortung als Bürger, dich zu äußern. Ich bin nicht besonders patriotisch. Aber du schuldest deinem Land etwas, weil du hier geboren wurdest, weil die Menschen hier deiner Entwicklung gedient haben. Wenn du das Glück hast, talentierter zu sein als andere, wenn du sprachbegabter bist als andere, wenn du die Chance hattest, im Ausland zu studieren, dann musst du auch etwas zurückgeben."
Nur weiß sie nicht so recht, wie. Auch Ulviyya hat sich, wie die meisten Stipendiaten, verpflichtet, nach dem Studium im Ausland zunächst in ihre Heimat Aserbaidschan zurückzukehren. In den USA erhält sie zwei Jahre lang kein Arbeitsvisum. Diese zwei Jahre sind bald rum. Ulviyya überlegt ernsthaft, erneut ins Ausland zu gehen.