Nils Minkmar, geboren 1966 in Saarbrücken, besitzt einen deutschen und einen französischen Pass. Der promovierte Historiker arbeitete für Roger Willemsen, dann für die „Zeit“, die „FAZ“ und den „Spiegel“. Heute schreibt er für die „Süddeutsche“ und seinen Newsletter „Der siebte Tag“. Er lebt mit seiner Familie in Wiesbaden.
Gutes Leben
Die Freude, die man bei einem Strandspaziergang empfindet, ist nicht größer, wenn man ein fettes Aktiendepot besitzt. © picture alliance/dpa
Von Ballast befreit
Wer verzichtet, hat erstmal weniger. Doch wer andererseits gelernt hat, ohne Not auf bestimmte Dinge bewusst zu verzichten, der hat die Chance, sein Leben zu entschlacken. Der Journalist Nils Minkmar mit seinem Lob auf den Verzicht.
Wenn es um ein Sinnbild für Glück, Wohlstand und Sorgenfreiheit geht, greifen Werbeagenturen auf der ganzen Welt immer zu demselben Motiv, dem Strandspaziergang. Ob es um Medikamente geht, die ein langes, gesundes Leben versprechen, um Versicherungen, Geldanlagen, Immobilien oder Reisen, die Möglichkeiten eines Lottogewinns – das irdische Glück, das Wohlbehagen, das dem Menschen auf Erden versprochen ist, realisiert sich am Strand.
Es lohnt sich, etwas bei diesem vertrauten Symbol zu verweilen. Der Strand, Inbegriff des guten Lebens, von Wohlstand und Gesundheit, ist ein Ort des Friedens, der sich auch dadurch einstellt, dass man dort so wenig Zeug braucht. Das Glück begnügt sich mit Badesachen oder, wenn es dafür zu kalt ist, einigen groben Klamotten.
Das Glück finden die, die mit wenig da sind
Der ganze Charme des Strands entfaltet sich, weil man dort verzichten muss: Ob man ein Haus besitzt, ein schönes Auto oder viele elektronische Gerätschaften ist am Strand gleich, man kann dort nichts damit anfangen. Hier ist man all den Kram los und oft genug hilft der Strand aktiv beim Verzicht, verschluckt Autoschlüssel, Geldbeutel und Schmuck, als wolle er die Botschaft ganz klar vermitteln: Das Glück finden die, die mit wenig hier sind. Die Freude, die man bei einem Strandspaziergang empfindet, ist nicht größer, wenn man ein fettes Aktiendepot besitzt.
Verzicht ist gewissermaßen die Abkürzung zum Glück. Verzicht führt genauso zu Genuss und Sorgenfreiheit, als hätte man den langen Weg genommen, alles andere zu erreichen und deshalb loslassen darf. Um diese Weisheit zu studieren, muss man sich nicht in die asiatischen buddhistischen Kulturen begeben. Schon der alte Sokrates nervte seine Zeitgenossen mit entsprechenden Hinweisen. Er erinnerte die Männer daran, die so eilig die Agora in Athen überqueren, um ihren Geschäften nachzugehen, sich als Bürger einer Demokratie um die öffentliche Sache, ja um ihre Seele zu kümmern.
Der Fischer dösend in der Sonne
Später hat Heinrich Böll das leistungs- und kaufsüchtige Publikum der bundesrepublikanischen Gesellschaft in seiner Geschichte zur Senkung der Arbeitsmoral aus dem Jahr 1963 ins Visier genommen.
Diese bekannte Anekdote erzählt von einem Fischer, dem ein eifriger Tourist ungebetene Ratschläge gibt. Der Mann döst in der Sonne und hört sich an, wie er mehr verdienen könnte, wenn er stattdessen zur See führe. Wenn er mehr Gewinn machen würde und sich eine Flotte an Schiffen zulegen könnte – und auf die Frage des Fischers, wozu er all diese Mühen auf sich nehmen sollte, bekommt er zur Antwort, dann könne er ja in der Sonne liegen und dösen. Nun, das tue er bereits jetzt, lautet die Antwort des Fischers und die Pointe der Geschichte.
Böll sah seine Geschichte als Provokation, die auch ein Element der Pädagogik enthält.
Wichtig ist also, weswegen man verzichtet
Bewusst zu verzichten, um besser und länger genießen zu können ist eine Kunst, die man lernen kann und muss. Das gilt es zu unterscheiden vom Verzicht aus bitterem Mangel oder schlimmer noch, aus Geiz. Es gibt schließlich nicht wenige Zeitgenossen, die ihre Sucht nach Geld und Besitz dadurch überhöhen, dass sie ihre übertriebene Sparsamkeit, ihre Genussfeindlichkeit zum hehren Verzicht erklären.
Wichtig ist also, weswegen man verzichtet: um noch mehr Geld und Sachen zu haben oder um die Gegenwart besser zu genießen? Um mehr Sonne in den Moment zu lassen? So verstanden schärft der Verzicht die Sinne für die Empfindung des Glücks.
Was aber, wenn der Strand und die Sonne weit weg sind? Wenn uns Kälte, Schnee, dunkle Tage und lange Nächte unser schicksalhaftes Ausgeliefertsein an die Naturgewalten besonders deutlich nahebringen? Wenn selbst ein Spaziergang draußen mehr Tristesse als Trost vermittelt? Dann, in den Tagen vor der Wintersonnenwende, ist es völlig in Ordnung, auf den Verzicht zu verzichten.