Åsne Seierstad: Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders
Aus dem Norwegischen und Englischen von Frank Zuber und Nora Pröfrock
Kein & Aber-Verlag, Zürich 2016
544 Seiten, Hardcover: 26 Euro, Ebook: 19,99 Euro
Akribische Biografie eines Massenmörders
Für die Recherche zu "Einer von uns" sprach Åsne Seierstad mit Angehörigen Anders Breiviks und Familien der Opfer: Die Journalistin dämonisiert den norwegischen Massenmörder in ihrer Biografie nicht, sondern rekonstruiert seine Geschichte mit forensischer Detailtreue.
"Der erste Schuss traf den Jungen, der außen lag, in den Kopf. Dann zielte er auf ihren Hinterkopf. Ihr lockiges, kastanienbraunes Haar schimmerte im Regen. Die Kugel drang durch den Schädel ins Hirn. Er schoss noch einmal, diesmal in die Stirn."
Die Sätze könnten einem blutrünstigen Krimi entstammen: Scandinavian Noir, der neue Jussi Adler-Olsen, Stieg Larsson, Henning Mankell. Doch diese Zeilen sind keine Genre-Unterhaltung aus dem hohen Norden, sondern beschreiben reale Ereignisse. Sie sind das Ergebnis einer akribischen Recherche und stammen aus der Feder der Journalistin Åsne Seierstad. Die norwegische Auslandskorrespondentin, die zuvor aus dem Irak oder Libyen berichtet hat, rekonstruiert auf über 500 Seiten mit nahezu forensischer Detailtreue die Geschichte des Massenmörders Anders Behring Breivik. Im Kapitel "Freitag" beschreibt sie minutiös, wie Breivik am 22. Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen ermordete. Ein 32-Jähriger, der sich als moderner Tempelritter versteht und als "Retter des Christentums" seiner Regierung den Krieg erklärt.
Kein Studie über das Böse
Es wäre ein Leichtes gewesen, die Biografie über Norwegens Massenmörder als Studie über das Böse anzulegen. Ein Umkreisen des Monsters Breivik, der - jeglicher Menschlichkeit beraubt - abscheuliche Gewalttaten verübt und schließlich aus der norwegischen Gemeinschaft ausgestoßen wird. Doch Åsne Seierstad gelingt es, genau das zu vermeiden: Weder dämonisiert sie Anders Breivik noch versucht sie, die grausamen Taten aus seiner Biografie heraus zu erklären. Vielmehr blickt die renommierte Journalistin genau hin und trägt Mosaiksteine zusammen: Für die Recherche sprach sie mit Angehörigen Breiviks und Familien der Opfer, ein Interview mit Breivik selbst lehnte dieser bis zuletzt ab. Wie die Richter im Gerichtsprozess nimmt die Journalistin den Massenmörder ernst, beschreibt seine Gedanken oder die Entstehung seines 1500 Seiten starken Pamphlets "Eine europäische Unabhängigkeitserklärung". In einem ausführlichen Nachwort beschreibt Åsne Seierstad ihre akribische Quellenrecherche, mit der sie Situationen, Gedanken und Gefühle für das Buch rekonstruiert hat.
Die Erkenntnis ist schmerzlich
Doch der Triumph über das Böse, der die Gesellschaft am Schluss geläutert zusammenrücken lässt, bleibt aus. Es gibt keine Katharsis. Stattdessen hält Åsne Seierstads Buch eine schmerzliche Erkenntnis bereit: Anders Breivik war vor seinen Taten nicht grausamer, monströser oder verrückter als andere Jungen in seinem Alter. Er war "einer von uns", der nach Anerkennung strebte und diesen Kampf im "echten Leben" immer wieder verloren hat. Fünf Jahre verbringt er mit Computerspielen, in denen er Mut und Tatkraft beweisen kann und Verantwortung, Anerkennung und Ruhm erntet - bis er auf islamfeindliche Propagandaseiten im Internet stößt. Anders Breivik bastelt sich im Digitalen eine Weltordnung zurecht, die während seiner Taten untrennbar mit der Realität verschwimmen wird. Endlich ist er jemand. Seinen Namen wird die Welt nicht vergessen.
Bei der deutschen Übersetzung wünscht man sich stellenweise mehr Sensibilität in Sachen rassistisches Vokabular - etwa wenn vom "Schwarzen Peter" oder "Asylantenheim" die Rede ist. Trotzdem: "Einer von uns" ist vielleicht eines der wichtigsten Bücher unserer Zeit. Diese Biografie könnte sich jederzeit wiederholen.