Aleida Assmann, Jan Assmann: "Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn"
© C.H.Beck Gemeinsinn. Der sechste, soziale SinnC.H.Beck, München 2024
Was uns einigen könnte
06:51 Minuten
262 Seiten
25,00 Euro
Das letzte gemeinsame Buch von Jan und Aleida Assmann fühlt dem allseits beschworenen "gesellschaftlichen Zusammenhalt" auf den Zahn - historisch, philosophisch und ganz praktisch.
Was wird eigentlich aus Gesellschaften, in denen jeder eine kleine Ich-AG ist? Dass es in Zeiten der extremen Polarisierung nicht mehr selbstverständlich ist, was unsere Demokratien im Innersten zusammenhält, das ist ein Gedanke, der sich einem in letzter Zeit gelegentlich aufdrängen konnte.
Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann und ihr im Februar 2024 verstorbener Ehemann, der Ägyptologe Jan Assmann, haben sich darum in den letzten Jahren ihres gemeinsamen Denkens und Schreibens dem Thema und der Frage des „Gemeinsinns“ gewidmet.
Ihr nun erschienenes Buch leuchtet die Frage nach den dem gesellschaftlichen Zusammenhalt jenseits von spröden Verfassungen und Gesetzen vielfältig und anregend aus: von historischen Überlegungen bis zu aktuellen Beispielen, von philosophischen Begriffsbestimmungen bis zu konkreten politischen Forderungen.
Ein mehrdeutiger Begriff
Begriffsgeschichtlich geht der Gemeinsinn auf den antiken „sensus communis“ zurück, der eine verwirrende Mehrdeutigkeit hat: Er bezeichnet sowohl den „sechsten“ Sinn, der alle anderen Sinne in unserem Inneren zu einer Einheit zusammenführt, als auch den „common sense“, also das, worüber sich alle Mitglieder einer Gesellschaft grob einig sind. Drittens bedeutet er so etwas wie eine soziale und moralische Verpflichtung unseren Mitmenschen gegenüber. Wichtig ist für die Tradition, die die Assmanns interessiert, vor allem die dritte Bedeutung, die in der Nähe steht von Ideen aus dem Revolutionszeitalter des 18. Jahrhunderts wie „Solidarität“ und „Brüderlichkeit".
Die geteilte Humanität
Die Assmanns zeigen nun nicht nur, dass diese moralische Dimension von Gesellschaften einer großen Idee der geteilten Humanität verpflichtet ist und sich oft in sehr kleinen Taten zeigen kann, sondern auch, wie unumgänglich sie ist, wenn man über die menschenfeindlichen Alternativen nachdenkt, die wir aus der Geschichte kennen.
Sie gehen die starken destruktiven Denktraditionen durch, die dem Gemeinsinn entgegenstehen, angefangen bei Carl Schmitts für die Nazis so zentraler Freund-Feind-Unterscheidung, bis hin zu zynisch die Gesellschaft spaltenden gegenwärtigen Formen des Populismus.
Auch warnen sie vor falsch verstandenen Identitätspolitiken: Identitäre Formen der Gemeinschaftsbildung, die auf die Ausgrenzung eines „Anderen“ angewiesen sind, wirken stets kontraproduktiv; das Gemeinsame muss sich auf alle Menschen ausdehnen lassen, also letztlich einem universalistischen Ideal verpflichtet sein.
Ein durchwachsenes, aber wichtiges Buch
Die Assmanns folgen der Spur eines positiven Menschenbildes, das die grundsätzliche Möglichkeit des Für-Einander-Einstehens aufrechterhält, durch viele Verästelungen der realen und der Denk-Geschichte sowie der politischen und kulturellen Gegenwart. Von philosophischen Klassikern wie Kants kategorischem Imperativ oder Karl Löwiths Idee des „Mitmenschen“ bis zu aktuellen Beispielen von solidarischem Handeln wie der Tafelbewegung.
Das ist gelegentlich etwas eklektisch, manches wird nur angetupft, einiges hat den Charakter eines Werkstattberichts. Aber gerade angesichts unserer gegenwärtigen akuten Polarisierungsprobleme ein allemal höchst aktuelles und wichtiges Buch.
Das ist gelegentlich etwas eklektisch, manches wird nur angetupft, einiges hat den Charakter eines Werkstattberichts. Aber gerade angesichts unserer gegenwärtigen akuten Polarisierungsprobleme ein allemal höchst aktuelles und wichtiges Buch.