Hörbuch: Die Menschheit hat den Verstand verloren - Tagebücher 1939 bis 1945 von Astrid Lindgren
gelesen von Eva Mattes, 5 CDs mit 382 Minuten Laufzeit, Hörbuch-Hamburg, 19,99 Euro.
"Der Boden unter mir ist bis auf die Grundfesten erschüttert"
Kinderbuchautorin Astrid Lindgren hat während des 2. Weltkriegs ihre Gedanken und Gefühle einem Tagebuch anvertraut. Nach der Veröffentlichung als Buch unter dem Titel "Die Menschheit hat den Verstand verloren" folgt nun das gleichnamige Hörbuch, kongenial gelesen von der Schauspielerin Eva Mattes.
"1. September 1939 – "Oh! Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben. Gestern Nachmittag saßen Elsa Gullander und ich im Vasapark. Die Kinder liefen und spielten um uns herum, und wir schimpften ganz gemütlich auf Hitler und waren uns einig, dass es wohl keinen Krieg geben würde – und dann das!"
Vom ersten Tag an nimmt Astrid Lindgren diesen Krieg als das wahr, was er ist: eine Katastrophe für die Menschheit. 31 Jahre alt ist sie da, verheiratet, Mutter zweier Kinder und - gänzlich unliterarisch - als Sekretärin beim schwedischen "Königlichen Automobilclub" tätig. 6 Jahre und 17 Kladden später – Ende 1945 wird sie zur gefeierten Kinderbuchautorin und Schöpferin Pippi Langstrumpfs.
Familienrat am Wohnzimmertisch
Mit Ausbruch des Krieges, wird sie später in einem Interview sagen, habe sie zum ersten Mal eine tiefe politische Überzeugung gehabt. Die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel beschreibt in ihrem Vorwort zu den Tagebüchern, wie Lindgren ihre gesamte Familie mit in die Diskussion um die Kriegsereignisse einbezog. Wie sie den Kindern aus ihren Aufzeichnungen vorlas, wie gemeinsam im Familienrat Zeitungsartikel, Radiobeiträge und Frontverläufe diskutiert und analysiert wurden.
Und das in einem Land, das sich bis zum Schluss aus diesem Krieg heraushalten konnte. Dieses enorme Privileg ist der Autorin immer bewusst.
Astrid Lindgren waren Deutschland und die deutsche Kultur durchaus vertraut. Sie hatte in der Schule Deutsch gelernt, und so bekam sie ab 1940 einen Nebenjob beim schwedischen Nachrichtendienst. Dort bestand ihre Aufgabe darin, Briefe, die aus Deutschland oder den okkupierten Gebieten kamen, auf staatsgefährdende Inhalte zu prüfen. Am 27. März 1941 schrieb sie in ihr Tagebuch:
"Heute hatte ich einen sehr traurigen Brief von einem Juden, ein Zeitdokument in seiner Art. Ein Jude, der kürzlich nach Schweden gekommen ist, hat in einem Brief einem jüdischen Bekannten in Finnland von der Umsiedlung Wiener Juden nach Polen erzählt. Ich glaube, täglich wurden 1.000 Juden unter den schrecklichsten Bedingungen zwangsweise nach Polen transportiert."
Sparsame Innenschau
Im Dezember 1943 zitiert Lindgren ausführlich die Zeitung "Dagens Nyheter", die – unter Berufung auf zuverlässige Quellen – über die "Ausrottung" der europäischen Juden und ihre "Vernichtung in physischer Bedeutung" schreibt. Selbst im fernen Schweden konnte man also etwas über den Holocaust erfahren. Gleichzeitig klingen Lindgrens Schilderungen der idyllischen Sonntagsausflüge und der Sommerurlaube in Smaland fast schizophren neben den Kriegsgeschehnissen im Rest Europas.
Auch wenn die Autorin wenig Innenschau betreibt und wenig über ihre eigenen Gemütszustände berichtet, weisen lange Schreibpausen auf persönlichen Probleme hin. Ihr Mann Sture hatte sich in eine andere Frau verliebt, die Ehe bröckelte und Sture verfiel mehr und mehr dem Alkohol, an dem er 1952 starb.
Lindgren schreibt nur beiläufig über ihre Nervosität und Schlafprobleme. Ihre eigene Katastrophe, die Angst, ihre Familie könne zerbrechen, klingt dennoch deutlich in Einträgen wie diesen an:
"Die zweite Hälfte von 1944 ist die Hölle gewesen, und der Boden unter mir ist bis auf die Grundfesten erschüttert worden. Ich bin verzweifelt, deprimiert, enttäuscht, häufig traurig. Aber eigentlich bin ich nicht unglücklich."
Die Schauspielerin Eva Mattes spricht das Hörbuch. Sie hatte als Kind in der Fernsehserie Pippi Langstrumpf ihre Stimme gegeben, hier setzt Eva Mattes kongenial den desillusionierten Blick Astrid Lindgrens in Szene, der dennoch immer auf dem Unmöglichen besteht: Es möge endlich Frieden auf der Welt geben.