Astrologie im Hinduismus

Ein Tempel für die Planeten

Ein Mann blickt in den Sternenhimmel.
Vor einer möglichen Ehe werden in Indien die Sterne befragt. © Unsplash / Klemen Vrankar
Antje Stiebitz |
Was die Sterne über das eigene Lebensglück sagen? In Indien ist das eine berechtigte und ernstzunehmende Frage für viele. Die Astrologie ist selbstverständlicher Teil des Alltags - in hinduistischen Tempeln gibt es sogar Statuen der Planeten.
Navi Mumbai, eine Satellitenstadt von Mumbai am Ostufer der Meeresbucht Thane Creek. Der Shree Vara Siddhi Vinayaka Navagraha Temple ist dem elefantenköpfigen Gott Ganesha gewidmet. Das Wort "Navagraha" steht für die neun Himmelskörper der hinduistischen Astrologie, die hier ebenfalls verehrt werden. Links vom Eingang ist für die "neun Lichter", wie sie in Indien auch genannt werden, ein kleiner Raum eingerichtet. Wer den Schrein betritt, schlägt zunächst eine Glocke.
In der Mitte des engen Raums stehen auf einem Podest neun Figuren aus schwarzem Stein, relativ grob behauen, doch ihre Gesichter sind fein herausgearbeitet und um ihre Hälse hängen Blumengirlanden. Bei welcher der Figuren es sich um Sonne, Jupiter oder Saturn handelt, verraten die Farben der Stoffe, die die Bildnisse umhüllen.
Suriya etwa, die Sonne, trägt orange. Jupiter, in Indien Brihaspati oder Guru genannt, ist in Blau gekleidet. Neun Mal umrunden die Gläubigen die neun Himmelskörper. Prema, eine mittelalte Frau in einem grünen Sari, hat das Ritual gerade beendet. Sie erklärt, dass jedem Wochentag eine andere Gottheit zugeordnet ist:

Für jedes Gebet der richtige Zeitpunkt

"Heute ist Freitag, auf Hindi heißt der Tag Sukrvar. Am Freitag verehren wir Venus. Die Tageszeit zwischen 10.30 und 12 Uhr nennen wir Rahu Kal und da ist es günstig, die Göttin Durga zu verehren."
Prema dreht sich um und deutet mit ihrer Hand auf zwei Frauen, die im Zentrum des Tempels auf Plastikstühlen sitzen:
"Deshalb singen die beiden Damen Verse über Durga."
Prema erzählt, dass viele Gläubige ein jährlich erscheinendes Astrologie-Buch kaufen, das Auskunft darüber gibt, welche Tage im Kalender glücksverheißend und welche eher ungünstig seien. Was die Gläubigen machen, wenn sich unglückliche Tage ankündigen, erklärt Prema so:
"Wir gehen zum Astrologen und erklären ihm: Bei uns passieren gerade viele negative Dinge. Dann wird er uns sagen, dass wir ihm unser Horoskop bringen sollen. Er wird uns erklären, dass unsere Probleme mit diesem oder jenem Planeten zusammenhängen und dass wir deshalb eine rituelle Verehrung durchführen sollen."
Axel Michaels: "Also in Indien geschieht eigentlich fast nichts Wichtiges, ohne dass ein Astrologe gefragt wird."
Axel Michaels ist Indologe und Religionswissenschaftler an der Universität Heidelberg. In seinem Buch "Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart" stellt er fest, dass die Bedeutung der Astrologie für das religiöse Leben der Hindus zu wenig wissenschaftliche Beachtung findet. Er vermutet, das könne mit der komplexen Materie von Jyotish, wie die indische Astrologie genannt wird, zusammenhängen. Bei seinen Forschungen hat er jedenfalls die Erfahrung gemacht, dass Jyotish, was übersetzt so viel bedeutet wie die "Wissenschaft vom Licht", in Indien eine außerordentliche Bedeutung hat:

Sternbefragung auch in Politik und Wirtschaft

"Das gilt jetzt nicht nur für die Familie und das Dorf, sondern das gilt auch bis hin in die Politik. An den Schaltstellen von Politik und Wirtschaft werden solche Kriterien mit berücksichtigt. Und das nicht erst seit kurzer Zeit, seit die Modi-Regierung wieder auf traditionelle Werte setzt, sondern eigentlich schon immer."
Jyotish gilt als eine von sechs Hilfswissenschaften, die zur Durchführung von vedischen Ritualen notwendig sind. Mit Hilfe von Jyotish wird eine günstige Zeit für eine Unternehmung bestimmt. Deshalb kümmerten sich die frühen indischen Astrologen vor allem darum, günstige Daten für die Durchführung von Opferritualen zu ermitteln.
In den indischen Schriften aus dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung lassen sich Einflüsse hellenistischer Astrologie nachweisen. Die Schriften des Mathematikers und Astronomen Aryabhata, der im Jahr 476 geboren wurde, gelten als Grundstein für die indische Astrologie.
Axel Michaels erklärt, wie das Leben vieler Hindus bis heute von der alten Hilfswissenschaft geprägt ist:
"Die Astrologie ist religiös durchsetzt, nicht nur, aber sehr stark und dementsprechend wichtig wird sie für das Leben eines Hindus. Das fängt schon mit der Geburt an. Es wird ein Geburtshoroskop erstellt, das dann auch im weiteren Leben außerordentlich wichtig wird, etwa bei der Heirat."
Vor einer möglichen Ehe wird mit Hilfe der Horoskope von Braut und Bräutigam bestimmt, ob die Konstellation günstig ist. Die Sterne sollten ein ausgewogenes Verhältnis anzeigen:
"Und wenn es das nicht gibt, dann kann durchaus trotz Liebe und allem die Hochzeit daran scheitern. Und so gilt das ebenfalls für die wichtigen Unternehmungen, die zu einem astrologisch günstigen Zeitpunkt beginnen sollen, das gilt eigentlich für alle Rituale, wo der Astrologe vorher gefragt wird, wann dieser Zeitpunkt ist und dann wird darauf geschaut, dass der Höhepunkt des Rituals genau an diesem Zeitpunkt stattfindet."
Das kann dann unter Umständen auch dazu führen, dass beispielsweise ein Hochzeitsritual mitten in der Nacht oder am frühen Morgen durchgeführt wird.

Astrologie als Schicksalsmanagement

Mumbai, im Stadtteil Andheri East: eine kleine Agentur mit dem Namen "Ashok S. Sharma". Auf dem Schild ist unter dem Namen das Wort "Schicksalsmanagement" zu lesen. Ashok Sharma trägt ein orangefarbenes Hemd, keine Strähne seines Haares liegt quer. Die Stifte auf seinem Schreibtisch liegen in Reih und Glied, die vielen Bücher sind millimetergenau in den Regalen angeordnet. Ashok Sharma ist als beratender Astrologe tätig. Auch er spricht sofort von der ganz speziellen Rolle des richtigen Zeitpunktes:
"Eine Pflanze wächst ja auch nicht irgendwann. Eine Pflanze hat eine spezifische Zeit oder Jahreszeit, in der man sie pflanzt und dann wächst sie von ganz allein. Genauso ist es mit der Suche nach dem richtigen Zeitpunkt durch die Astrologie, wann ein Gebet oder ein Opferritual abgehalten werden soll."
Hinduistische Planetenstatuen im Shree Vara Siddhi Vinayaka Navagraha Temple (Navi Mumbai)
Die Figuren im Tempel von Navi Mumbai stehen für die neun Gestirne, die hier verehrt werden.© Deutschlandradio / Antje Stiebitz
Die Planeten seien nicht der Grund für ein bestimmtes Ereignis, erklärt Ashok Sharma, sondern sie dienten als Indikatoren für eine bestimmte Atmosphäre. So, wie uns eine niedrigstehende Sonne den Winter anzeigt, und dass wir uns darauf einstellen müssen, warme Kleidung zu tragen. Allein das Wissen um die positive oder negative Qualität einer bestimmten Zeit, erklärt der Astrologe, schärfe unsere Aufmerksamkeit. Jede Zeit bringe eine bestimmte Qualität oder Beschaffenheit mit sich. Und zu welchem Ergebnis eine solche Zeit führe, hänge davon ab, wie wir auf sie reagierten:
"Man muss auf die richtige Art und Weise reagieren und sollte sich gemäß der Hindu-Ethik korrekt verhalten. Man sollte die richtige Lebensweise kennen, damit man den richtigen Weg geht, egal ob in der falschen oder richtigen Atmosphäre."

Persönlichkeit statt Lottogewinn

Und fast ein wenig verärgert fügt er hinzu:
"Astrologie hat nichts damit zu tun, zu wissen, ob man in der Lotterie gewinnen, einen Job bekommen oder heiraten wird. Heutzutage fragen die meisten Menschen danach, aber dafür ist die Astrologie nicht gemacht. Es geht um dein persönliches Wachstum."
Die Astrologie-Schule Jyotish Bharaty ist im vierten Stock eines College im Stadtteil Chowpatty untergebracht. G. B. Forbes, ehemaliger Rektor und heute aktives Mitglied der Schule, sitzt an seinem mit Büchern vollgestellten Schreibtisch und telefoniert. Auf dem Fensterbrett steht eine gold-kristallene Auszeichnung – der "2016 Lifetime Achievment Award" des Krishnamurti Instituts für Astrologie. G. B. Forbes legt den Hörer auf und erklärt:
"Der wichtigste Teil in einem Horoskop ist der Aszendent, weil er die Persönlichkeit der Person darstellt. Die Sonne zeigt die Seele an und der Mond den Geist. In gewisser Hinsicht sind Sonne, Aszendent und Mond gleich wichtig. Aber wenn man sie einzeln beschreibt, ist der Aszendent am wichtigsten."

Zwiespältige Wirkungen

Die Materie ist komplex: Es gibt zwölf Sternzeichen, zwölf Hauser und neun Planeten, die in unendlichen Varianten (miteinander kombiniert und) aufeinander einwirken können. Das Horoskop eines Menschen soll, wie sein Fingerabdruck, einzigartig sein. Deshalb, so G. B. Forbes, gelte es auch vorsichtig zu sein:
"Es ist nicht immer einfach, sofort eine Antwort zu geben. Manchmal müssen sehr detaillierte Berechnungen gemacht werden."
Planeten, erklärt der Astrologie-Lehrer, wirken niemals nur negativ oder positiv:
"Von Jupiter beispielsweise wird immer gesagt, dass er ein gütiger Planet ist. In gewisser Weise ist er aber auch boshaft, denn Diabetes wird direkt mit ihm in Zusammenhang gebracht."
Um eine negative Wirkung abzuwenden oder eine positive Wirkung zu verstärken, erklärt G. B. Forbes, verordnen Astrologen Gebete, Rituale und astrologischen Schmuck.

Religiöse Psychotherapie

Berlin-Kreuzberg, Viktoria-Park. Uttaran Das Gupta, ein Journalist aus Delhi, hält sich gerade für drei Monate in Deutschland auf. An der rechten Hand trägt er drei Ringe mit jeweils einem Halbedelstein, einer davon ein Mondstein. Ein Astrologe hat sie ihm verschrieben:
"Ich denke, dabei handelt es sich um so eine Art religiöse Psychotherapie. Du hast das Gefühl, dass dich dein Leben nicht weiterbringt, du bist frustriert, also wird dir ein Ring gegeben und du denkst: Ok, jetzt habe ich einen Ring, er wird mir Glück bringen und meine Bemühungen werden Resultate ergeben."
Er lacht und fügt hinzu:
"Es gibt viele Menschen, die das Gefühl haben, dass die Welt kein besonders schöner Platz ist. Deshalb denke ich, wenn dich so etwas mit einer Art psychologischem Bollwerk ausstattet, dann ist das gut."
Berlin-Kreuzberg, Möckernstraße. In einem Hinterhof in einer geräumigen Fabriketage befindet sich das Astrologie Zentrum Berlin. Hier bietet Markus Jehle astrologische Beratung und Ausbildung an. Den Astrologen hat schon immer interessiert, was Menschen bewegt und motiviert. Deshalb hat er zunächst Psychologie studiert, ist dann mit der Astrologie in Berührung gekommen und war sofort fasziniert:
"In der Psychologie ist es so: wenn wir versuchen einen Menschen nach Charaktereigenschaften beispielsweise jetzt zu bewerten, oder einzuschätzen, einzuordnen, dass immer die Normierung am Durchschnitt stattfindet. Also man nimmt den Durchschnittswert und definiert die Abweichung vom Durchschnittswert als Individuelles. Und die Astrologie hat einfach die tolle Botschaft, jeder Mensch ist einmalig und das ist auch beschreibbar, das ist sozusagen feststellbar."

Zwischen Deutungskunst und Lebensberatung

Die Beratungen finden an einem riesigen Holzschreibtisch statt. Das Horoskop seiner Klienten betrachtet er als eine Matrix, um ihre Anliegen zu besprechen. Eineinhalb Stunden nimmt er sich dafür Zeit. Das Gespräch wird aufgezeichnet, damit es auch Monate später noch einmal angehört werden kann. Der 60-jährige versteht die Astrologie auch als eine Kunst:
"Ja, also es ist eine Deutungskunst und sie gehört eigentlich auch zur Hermeneutik, weil sie generiert Bedeutungen."
Meinrad Wellhäuser: "Was Herr Jehle erzählt, finde ich interessant, weil es immer eine hohe Deckung mit dem gibt, was ich selber wahrnehme."
Meinrad Wellhäuser lebt in Berlin-Treptow, ist Bauleiter und lässt sich einmal im Jahr von Markus Jehle beraten. Meistens im Frühling, er nennt das seinen "Jahrescheck".
"Mein Verständnis vom Leben ist es, dass ich eine Haltung gegenüber den Dingen finden muss. Gegenüber meinen Kindern, gegenüber Partnerschaften, gegenüber dem Beruf. Es geht um eine innere Haltung, die ich finde. Und die muss ich immer wieder überprüfen und auf die muss ich mich immer wieder besinnen."
Seit 12 Jahren lässt sich der 58-jährige astrologisch beraten. Markus Jehle wendet sich entschieden dagegen, Astrologie als Religion oder Religionsersatz zu betrachten. Trotzdem schreibt er ihr einen transzendenten Charakter zu:
"Aber natürlich hat sie diese Dimension in dem Sinne, als dass, wenn wir Religion verstehen, als den Versuch, dem menschlichen Dasein eine Bedeutung zu geben, die über das reine Existieren hinausweist."
Die Geschichte zeige, dass der Mensch schon immer bestrebt war, sein Dasein in einen größeren Zusammenhang zu stellen, erklärt Markus Jehle. Deshalb hätten alle Völker der Welt eine Kosmologie entwickelt. Und so sei auch die Astrologie entstanden. Unabhängig davon, ob sie in der Tradition des Mittelmeerraums oder Indiens steht.
Trotz ihres transzendenten und kosmologischen Charakters hat die Astrologie hierzulande keine religiöse Bedeutung. In Indien ist das anders. Dort ist die Astrologie ein Massenphänomen, eine religiöse und kulturelle Praxis, die ein Landwirt oder Schuster genauso in Anspruch nimmt, wie ein Bollywood-Star oder der Premierminister.
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