In den Sternen sieht man den Menschen
Horoskope haben im christlichen Umfeld keinen so guten Ruf – ganz anders als in China zum Beispiel. Dort sind Horoskope und Vorhersagen Teil des religiösen Lebens, von Aberglauben würde niemand sprechen. Wie kommt das?
Kirsten Dietrich: Heilige Drei Könige – der Feiertag erinnert an die berühmtesten Sterndeuter in der christlichen Kultur. Abgesehen von diesen drei Herren haben Horoskope im christlichen Umfeld aber keinen so guten Ruf, ganz anders als in Indien zum Beispiel oder auch in China. Dort gehören Horoskope und Vorhersagen einfach dazu, von Aberglauben würde niemand sprechen. Warum das so ist und warum Astrologie überhaupt funktioniert, darüber habe ich mit Michael Lackner gesprochen. Er ist Sinologe an der Universität Erlangen, und er beschäftigt sich besonders mit Schicksalsmanagement und Zukunftsdeutung – Michael Lackner leitet das internationale Kolleg "Schicksal, Freiheit und Prognose". Ich wollte von ihm wissen: Glaubt jemand, der sich beruflich mit Astrologie beschäftigt, eigentlich an Horoskope?
Michael Lackner: Das ist eine sehr gute Frage. Aber da müsste ich sagen, genauso gut könnte man mich fragen, ob ich an die Medizin glaube oder an bestimmte Arten von Doktoren. Ich selbst, muss ich sagen, habe unterschiedlichste Erfahrungen gemacht, aber die habe ich natürlich auch mit Doktoren gemacht. Glauben Sie nicht an irgendwelche Zeitungsrubriken und dergleichen. Aber bestimmte Konstellationen, Zeitpunkte im Leben, da scheint die Astrologie in manchen Dingen über so etwas wie Erfahrung zu verfügen. Aber daran muss man nicht unbedingt glauben, und ich bin auch niemandem böse, wenn er sagt oder sie sagt, das wäre völlig abwegig und absurd.
Dietrich: Das heißt, Sie haben schon mal für sich selbst ein Horoskop erstellen lassen?
Lackner: Durchaus, ja. Auch von chinesischer Seite. Die haben eine ganz andere Technik, weil die die Zeitpunkte berechnen. Die schauen nicht in den Himmel. Die Moderne – also Moderne heißt seit dem 12. Jahrhundert für die chinesische Astrologie – schaut eigentlich nur auf die Qualität von Zeitpunkten, also Stunde, Tag, Monat, Jahr, und kombiniert die dann auf eine sehr trickreiche, wirklich ausgesprochen intrikate Art und Weise. Also: ja, ich habe mir Horoskope erstellen lassen, auch abendländische, und habe eigentlich nur unterschiedliche Grade von Virtuosität in der Interpretation gefunden.
Das Horoskop schaut auch zurück, nicht nur nach vorn
Dietrich: Man verbindet das Horoskop ja immer damit, dass es in die Zukunft schaut. Aber das ist vielleicht gar nicht notwendig so, oder? In welche Zeitrichtung schaut ein Horoskop denn?
Lackner: Sicher in den Moment der Geburt. Das war auch lange umstritten – ist es der Moment der Empfängnis oder der Geburt? Die meisten Astrologen arbeiten mittlerweile mit dem Moment der Geburt und schauen dann sicher auch in die Zukunft. Aber im 20. Jahrhundert bis heute ist die westliche Astrologie sehr stark eine Charakterologie geworden, die sagt, okay, du hast ein Wesen, und das ist dein Geschick, und daraus ergibt sich alles Übrige. Und dann gibt es sicher immer noch Astrologen, die sozusagen in die Zukunft schauen. Aber das ist bei Weitem nicht mehr so verbreitet wie eine Art Charakterbild, was die Astrologie vermittelt.
Dietrich: Dann schauen wir noch mal ein bisschen in die Vergangenheit zurück. Der Tag der Heiligen Drei Könige: Da wird im Neuen Testament der Bibel, im Matthäus-Evangelium, ganz Erstaunliches berichtet. Die Weisen aus dem Morgenland kommen zu König Herodes und fragen, wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, ihn anzubeten. Und Herodes sagt nicht etwa, dass das ja wohl abergläubischer Quatsch ist, sondern er nimmt das ganz tödlich ernst und erforscht zusammen mit den jüdischen religiösen Fachleuten, was an dem Phänomen dran ist. Das ist zumindest die christliche Überlieferung. Das zeugt ja von einem ganz unvoreingenommenen, positiven Herangehen an die Kunst der Astrologie auch in der Bibel, oder?
Von den Ausnahmen zur Regelmäßigkeit
Lackner: Unbedingt. Ich glaube nicht, dass es irgendeinen bedeutenden Römer gegeben hätte, der nicht in irgendeiner Weise davon überzeugt gewesen wäre, dass die Sterne auf uns einen Einfluss haben. Cicero ist vielleicht eine Ausnahme, der so ziemlich alles runtermacht, was an solchen mantischen Künsten, von denen man da spricht, damals geläufig war. Aber wir müssen natürlich schon noch mal unterscheiden. Hier ist es ja ein Stern, und das bedeutet eine Ausnahme – ein Komet oder eine bestimmte Konstellation oder dergleichen – und keine Regelmäßigkeit. Es gibt ja verschiedene Formen der Sternenbeobachtung, und die aus dem babylonischen Bereich stammenden Beobachtungen gehen eigentlich häufig von Unregelmäßigkeiten aus. Eine Sonnenfinsternis, eine Mondfinsternis, ein Komet. Also die Dinge, die eigentlich nicht berechenbar sind, und daraus werden dann Zeichen abgelesen. Und das ist übrigens sehr ähnlich wie im alten China. Auch da hat man mehr auf die Unregelmäßigkeiten geachtet als auf die Regelmäßigkeiten. Im Westen kommt ja dann viel später erst Ptolemäus, der daraus dann ein richtiges System macht, das gewissermaßen für jeden gilt und das auf Regelmäßigkeiten aufbaut.
Dietrich: Sie haben jetzt schon ein paarmal China erwähnt und die Praxis der Astrologie in China. Sie sind selbst Sinologe und beschäftigen sich genau damit. Was ist denn der Stellenwert der Astrologie in China?
Die Stunde zählt, nicht die Sterne
Lackner: Das ist eine Frage, die mich natürlich jetzt in den letzten Jahren doch sehr intensiv beschäftigt hat. Wir haben auf der einen Seite durchaus seit vielleicht 20, 30 Jahren einen Einfluss westlicher Astrologie. Sie können also in Buchläden gehen und da sozusagen die abendländische Astrologie studieren. Aber die einheimische ist eben etwas ganz anderes. Die einheimische, die jetzt noch sehr weit in Gebrauch ist und sehr im Alltag auch verankert ist, ist eine Astrologie, die wir eigentlich gar nicht Astrologie nennen dürften, weil sie nicht mit den Sternen zu tun hat, sondern mit dem Zeitpunkt. Stellen Sie sich vor, Sie haben 60 Möglichkeiten, um die Qualität einer Stunde zu bezeichnen. 60 für den Tag, 60 für den Monat, 60 für das Jahr. Das ist schon ziemlich kompliziert, viermal jeweils 60 Möglichkeiten der Kombination miteinander. Deshalb reden wir eigentlich weniger von Astrologie im chinesischen Bereich, obwohl es das auch mal gegeben hat, sondern von Chronomantie, also einer Art der Erforschung der Qualität von Chronos, dem Zeitpunkt. Aber das Ergebnis ist dasselbe. Die wollen dann auch eine charakterliche Disposition von einem Menschen erstellen.
Dietrich: Welche Bedeutung hat das Horoskop heute in China? Ist das immer noch so wichtig?
Lackner: Ja. Es gibt natürlich eine Grauzone, aber mir ist kaum ein Mensch begegnet in China in meiner doch relativ langen Laufbahn oder Begegnung mit China, der nicht in irgendeiner Weise vertraut war mit diesen Daten aus dem Horoskop. In eher traditionellen Gesellschaften wie etwa in Taiwan ist das Horoskop immer noch de rigueur, auch für Heiraten, die Auswahl eines günstigen Tages etwa, die Auswahl eines günstigen Moments für eine finanzielle Investition. Es ist bei Weitem verbreiteter als bei uns im Westen, würde ich sagen.
Dietrich: Welchen Einfluss hat das? Ich könnte mir vorstellen, wenn es für alles schon die vorherbestimmte richtige Stunde gibt, dann schränkt das das Handeln auch sehr ein, oder?
Mit dem Schicksal kann man verhandeln
Lackner: Ja. Man kann natürlich auch mit dem Schicksal verhandeln. Das ist dann ein Wesenszug wahrscheinlich der chinesischen Kultur, dass ich sage: Ein Horoskop oder auch eine bestimmte Qualität eines Tages, die gibt mir eine Orientierung, die gibt mir eine Tendenz vor. Auf die muss ich reagieren in irgendeiner mehr oder minder schöpferischen Weise. Aber jede Art von obsessivem Aberglauben schränkt die Freiheit des Menschen natürlich ein. Es gibt sehr lustige Anekdoten über Tage, an denen das Reisen verboten war, sagen wir mal Ende des 19. Jahrhunderts. Und just an diesen Tagen sind dann immer die europäischen Missionare gereist, weil keiner unterwegs war und weil ihnen das natürlich auch sehr zugute kam, dass sie dann nicht mit Menschenmassen zusammen reisen mussten.
Dietrich: Das heißt, das ist wahrscheinlich auch etwas, was über die Kulturen hinweg gültig ist: Dass das, was die Sterne oder Zeiten für das eigene Schicksal sagen, dass man das schon gern wissen möchte, aber die Frage, ob man dann wirklich entsprechend handelt, dann noch mal etwas ganz anderes ist.
Lackner: Das ist richtig. Und das ist eine unlösbare Frage. Die Frage, sagen wir mal, nach dem Umfang und den Möglichkeiten des freien Willens, die wird in der westlichen Philosophie seit Zeitenbeginn gehandelt. Ich meine, Gott gibt uns in der Genesis das Geschenk des freien Willens, aber dafür müssen wir einen hohen Preis zahlen, nämlich wir werden sterblich. Und so einen Mythos kennt China gar nicht, also ist da natürlich auch die Möglichkeit einer etwas gelasseneren Auseinandersetzung mit diesen Tendenzen dieser Horoskope, Anzeigen sehr viel deutlicher. Uns hat das Problem des freien Willens bis heute beschäftigt, und wir finden ja nicht wirklich eine Lösung, trotz aller Hirnforschung und allen Fortschritten in der Medizin.
Auch Päpste hatten Hofastrologen
Dietrich: Wie kommt es eigentlich, dass die Astrologie im Westen eher als Aberglaube gilt, und in asiatischen Kulturen als ein ganz normaler alltagspraktischer, auch hilfreicher Aspekt des Lebens?
Lackner: Tja, dieses Therapeutische. Wir können auf der einen Seite sagen, im Westen hat es im Grunde sicher durch das Christentum einen sehr schweren Gegner, einen starken Gegner gehabt, weil das Christentum natürlich doch Wert legt oder eine bestimmte Tendenz des Christentums Wert legt auf die Existenz des freien Willens. Und selbst wenn wir keinen freien Willen hätten, dann ist eben alles Gott unterworfen, und Gottes Ratschluss ist unerforschlich. Also, das ist ein Weg. Wobei wir wissen, dass natürlich die Päpste des Spätmittelalters und der Renaissance alle ihre Hofastrologen hatten, obwohl sie gegen die Astrologie nach außen hin gewettert haben. Dann hatten wir als Zweites die Aufklärung. Und diese beiden Instanzen, möchte ich mal sagen, sind in Ostasien und überhaupt in anderen Kulturkreisen bei Weitem nie so ausgeprägt gewesen. Die Aufklärung kommt spät als europäischer Import sozusagen nach China und nach Ostasien insgesamt. Und deshalb sind diese Möglichkeiten, sich quasi dieser Horoskopie als Therapie auch, als Weg zur Selbsterkenntnis zu versichern, natürlich immer noch sehr viel mehr verbreitet als bei uns, wo man doch ein gewisses Tabu hat. Das sind doch deutliche Kulturunterschiede, würde ich sagen.
Dietrich: Sind es auch religiöse Unterschiede, also dass Religionen in Ostasien eben auch mit dieser Art der Horoskopie und der Schicksalsbestimmung besser zusammenpassen?
Lackner: Ganz massiv, ja. Das würde ich völlig unterstreichen. Ich habe gerade schon gesagt, dass das Christentum natürlich auch viele Möglichkeiten bietet, aber unter anderem eben die, dass ich den Zeigefinger hebe und sage, du sollst den Ratschluss Gottes nicht erforschen. Da hat es zwar auch andere Wege gegeben. Manche sagen zum Beispiel, die Gestirne sind ja ein Geschenk Gottes, also sollen wir seinen Willen erforschen. Da gab es im Mittelalter sehr ausführliche Debatten. Aber die Möglichkeit eben, mit seinem eigenen Schicksal kreativ umzugehen, weil es kein höchstes Wesen gibt, das darüber bestimmt, weil wir von Geistern und Dämonen täglich umgeben sind, aber gleichzeitig eben auch uns stetig mit denen auseinandersetzen können – da ist schon eine religiöse Fundierung da, die diese Art von Schicksalsbetrachtung möglich macht.
Dietrich: In Ostasien.
Ein Horoskop für die ganze Stadt
Lackner: Ja. Mehr in China, weniger in Japan. Aber auch dort gehen die großen Politiker immer noch in den Tempel und befragen das Orakel. Und einmal im Jahr lässt sich auch der CEO von Hongkong ein Horoskop für die Stadt stellen, welches dann ausgesprochen lebhaft in den Zeitungen diskutiert wird. Ob das nun jetzt was Gutes bedeutet oder was Schlechtes, und dergleichen.
Dietrich: Warum gibt es eigentlich in allen Kulturen diese intensive Beschäftigung mit Horoskopen, mit Astrologie, mit dem, was die Sterne oder der richtige Zeitpunkt bereithalten? Welches Bedürfnis deckt das ab?
Menschen brauchen Prognosen
Lackner: Ich denke, die Prognose schlechthin, also die Vorhersage, das ist wirklich eine menschliche Konstante. Wir machen das heute über Statistiken, über Extrapolationen, über Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Die fünf Wirtschaftsweisen liefern ja auch dauernd Prognosen ab. Also, die Prognose ist eine Konstante. Und die Wissenschaft hat halt auch ihre Grenzen, und da sind die Menschen dann wahrscheinlich bedürftig, andere Formen der Annäherung an das eigene Schicksal, auch an die eigenen Möglichkeiten, das eigene Potenzial zu erlangen. Eine meiner Lieblingsanekdoten ist die: Es gab eine Zeitschrift in China um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, die hieß so ungefähr "Naturkunde kompakt". Da hat ein westlicher Missionar versucht, die abendländische Wissenschaft den Leuten zu erklären. Und da gibt es eine Leserbriefrubrik, und in dieser Leserbriefrubrik meldet sich ein Chinese und sagt, ach, jetzt habe ich endlich verstanden, was der Blitz ist. Es gibt keinen Donnergott, sondern der Blitz ist ein elektromagnetisches Ereignis. Aber ich möchte doch mal die Frage stellen: Warum hat der Blitz unlängst meinen Bruder getroffen? Sehen Sie, das ist dann der Punkt, wo die Wissenschaft, also moderne Wissenschaft, nur in sehr geringem Maße eine Antwort leisten kann. Und da sind diese eher obskuren, dunklen Wege wahrscheinlich die interessanteren.
Dietrich: Was Horoskope und Astrologie leisten können und warum sie mit "Aberglaube" vielleicht doch ein bisschen zu einfach abgekanzelt sind – ich sprach mit Michael Lackner, Sinologe und Leiter des Forschungskollegs "Schicksal, Freiheit und Prognose" an der Universität Erlangen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.