Europarechtler fordert Freizügigkeit für Flüchtlinge
Die Forderung nach einer Umverteilung von Asylbewerbern innerhalb Europas hält der Gießener Europarechtler Jürgen Bast für falsch. Er fordert Freizügigkeit für anerkannte Flüchtlinge, aber zentrale Asylverfahren in den EU-Grenzstaaten.
Das Dublin-Abkommen über die Zuständigkeit für Asylbewerber innerhalb der EU gilt inzwischen allgemein als gescheitert. Als Alternative streben einige EU-Staaten, darunter auch Deutschland, die quotenmäßige Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas an. Für den Gießener Europarechtler Jürgen Bast ist das kein praktikabler Weg. Er fordert stattdessen Freizügigkeit für Flüchtlinge innerhalb der EU.
Es würde zu einer enormen Entlastung der Staaten an der EU-Außengrenze beitragen, wenn sich anerkannte Schutzberechtigte "das Land innerhalb der Europäischen Union aussuchen können, in dem sie dauerhaft leben wollen", so der Experte für Flüchtlingsrecht. Bei dieser Entscheidung spiele dann beispielsweise eine Rolle, wo sich bereits Angehörige der eigenen Gemeinschaft fänden und wo es Jobs gebe.
"Da ist am besten dadurch ein Interessenausgleich zu finden, dass man den Leuten kein bürokratisches Verfahren vorschreibt, sondern sie selbst wählen lässt."
Angesichts der Verschärfung in Syrien droht auch 2016 hohe Zahl von Flüchtlingen
Allerdings sollten die Asylsuchenden sich nicht aussuchen dürfen, in welchem Land ihr Asylverfahren durchgeführt würde, betonte Bast. Vielmehr sei es "plausibel", diese Verfahren in den Grenzstaaten der EU anzusiedeln. Gegebenenfalls mit finanzieller und personeller Unterstützung der Europäischen Union könne dann beispielsweise auch Griechenland eine große Zahl an Asylverfahren bewältigen.
Griechenland werde jedoch nicht akzeptieren, das "große Flüchtlingslager Europas" zu sein, warnt der Europarechtler. "Wir erleben im Moment eine Verschärfung des Bürgerkriegs in Syrien, wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass auch 2016 eine große Zahl von Flüchtlingen Schutz innerhalb der Europäischen Union sucht. Und das kann Griechenland, das können die grenznahen Staaten nicht alleine bewältigen."
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Es ist wieder Gipfelzeit heute und morgen in Brüssel, wo sich die EU-Regierungschefs treffen, und neben der Gefahr eines drohenden Austritts von Großbritannien aus der Europäischen Union geht es da vor allem darum, ob und wie eine gemeinsame Lösung für die vielen Flüchtlinge gefunden wird. Wer und wo soll deren Asylverfahren durchführen? Wann und wohin dürfen sich anerkannte Flüchtlinge frei innerhalb der Europäischen Union bewegen? Alles keine akademischen Fragen, sondern Fragen, deren Beantwortung konkrete Folgen hat. Jürgen Bast, er ist Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Universität Gießen und Experte für Flüchtlingsrecht, er fordert jetzt, Asylverfahren dort durchzuführen, wo die Flüchtlinge ankommen, und nach der Anerkennung den Flüchtlingen sofort die Möglichkeit zu geben, sich frei das Land zu wählen, in dem sie in Europa leben wollen. Damit würden Länder wie Griechenland oder Italien entlastet. Das ist also ein sehr konkretes Konzept, über das ich mit ihm gesprochen habe und das wir hier zur Debatte stellen wollen. Herr Bast, ich grüße Sie!
Jürgen Bast: Ich grüße Sie auch!
von Billerbeck: Wenn anerkannte Flüchtlinge nach Ihrem Vorschlag selbst entscheiden können, in welches Land sie gehen, dann kommen doch vermutlich alle nach Schweden oder nach Deutschland, oder?
Bast: Ich denke, es ist wichtig, dass wir sehen, dass das gegenwärtige System zur Verteilung der Flüchtlinge innerhalb von Europa, das Dublin-System, nicht funktioniert hat, weil es nicht auf Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten aufgebaut war. Wenn man den Buchstaben der entsprechenden asylrechtlichen Regelungen angewendet hätte, wäre die gesamte Last der Erstversorgung und der Durchführung von Asylverfahren bei den Staaten an den Außengrenzen.
Und was wir im Moment erleben, ist ein Boykott eines Systems, das gerade keine faire Lastenverteilung vorsieht. Wir müssen uns also überlegen, wie wir einen Kompromiss finden innerhalb der Europäischen Union, der von allen beteiligten Staaten als fair, als solidarisch verstanden wird.
von Billerbeck: Das klingt nach der eierlegenden Wollmilchsau im Asylrecht. Aber angenommen, Flüchtlinge kommen dann direkt nach Deutschland, und sie wurden noch nicht anerkannt, müssen die dann nicht in die Grenzstaaten, also beispielsweise nach Griechenland wieder zurück?
Flüchtlinge sollen Wohnort selbst suchen können
Bast: Ja, das ist die Konsequenz meines Vorschlags, den ich hier stark mache. Ich bin der Meinung, dass sich die Asylsuchenden innerhalb der Europäischen Union nicht aussuchen können, in welchem Land ihr Asylverfahren durchgeführt wird. Da müssen wir darauf dringen, dass dort auch die Interessen der Staaten eine Rolle spielen können. Ich denke, es ist plausibel, dass für diese Aufgabe, die zügige Durchführung des Asylverfahrens, die Staaten in Grenznähe zuständig sind. Das ist im Grunde die Regelung, wie sie heute existiert.
Was anders werden muss und was zu einer enormen Entlastung für die Grenzstaaten beitragen kann, ist, wenn sich die anerkannten Schutzberechtigten dann das Land innerhalb der Europäischen Union aussuchen können, in dem sie dauerhaft leben wollen. Weil da spielen andere Kriterien als die Grenznähe eine Rolle, beispielsweise wo sich andere Angehörige der eigenen Gemeinschaft finden, wo die Jobs sind. Da ist am besten dadurch ein Interessenausgleich zu finden, dass man den Leuten kein bürokratisches Verfahren vorschreibt, sondern sie selbst wählen lässt.
von Billerbeck: Aber glauben Sie denn, dass beispielsweise ein Land wie Griechenland all die Asylverfahren selbst bewältigen könnte?
Bast: Ich glaube, dass mit ausreichender Unterstützung der übrigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union das möglich ist. Möglicherweise ist es auch ein gangbarer Weg, dass zukünftig zumindest teilweise europäische Beamte die Asylverfahren in den Grenzstaaten durchführen. Ich denke, die übrigen Mitgliedsstaaten werden sich auch deutlich finanziell engagieren müssen.
von Billerbeck: Meinen Sie, das gefällt den Griechen? Wenn man sich erinnert, dass es auch gegen die sogenannten Hotspots ja dort schon Proteste gibt. Denken Sie, Ihr Vorschlag wäre solchen Randstaaten der EU willkommen?
Bast: Ja, ich glaube, dass das als das wahrgenommen wird, was es ist, nämlich eine Entlastung von der Durchführung eines durchaus anspruchsvollen Verwaltungsverfahrens.
von Billerbeck: Ich habe es gesagt, heute und morgen ist ja der EU-Gipfel, das Treffen der Regierungschefs, und da ist das Thema Flüchtlinge eines der großen Themen. Welche Erwartungen haben Sie denn an dieses Treffen?
Keine Hoffnung auf tragfähige Kompromisse
Bast: Tja – wie wir alle bin ich vergleichsweise skeptisch, dass es im Kreis der Staats- und Regierungschefs da zu einer großen Verständigung kommt. Ich habe da mehr Vertrauen in den ordentlichen Gesetzgebungsprozess der Europäischen Union, in dem das Europäische Parlament beteiligt ist, in dem die Vorschläge von der Europäischen Kommission kommen, in dem dann im Zweifelsfall auch mit Mehrheit abgestimmt werden kann. Die großen Gipfelereignisse ziehen viel Aufmerksamkeit auf sich, aber sie sind typischerweise nicht der Ort innerhalb der Europäischen Union, an dem tragfähige Kompromisse in Kleinarbeit gefunden werden.
von Billerbeck: Das heißt auch, Sie erwarten nicht, dass auch nur ein Teil Ihres Vorschlags realistische Chancen hat, da durchzukommen?
Bast: Ich glaube nicht, dass der aktuell auf dem Tisch liegt. Aber der Bedarf für einen solidarischen Interessenausgleich, der ist mit Händen zu greifen. Ich plädiere dafür, die Diskussion über Solidarität neu zu eröffnen und eine Vielzahl von Möglichkeiten und Vorschlägen auf den Tisch zu legen, vielleicht auch den, den ich vorgeschlagen habe.
von Billerbeck: Professor Jürgen Bast war das, Europarechtler von der Universität Gießen und Experte für Flüchtlingsrecht, mit seiner Idee, wie das Problem gelöst werden könnte. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Bast: Sehr gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.