Die Entscheider
Es gibt zurzeit nur wenige Jobs, die stärker im Fokus der Öffentlichkeit stehen als die sogenannten Fall-Entscheider im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Doch was diese Schlüsselfiguren im Asylverfahren genau machen, ist kaum bekannt.
Keller: "Ich denke, man muss schon sich selbst irgendwo einordnen können, ob man eher jemand ist, der bereit ist zu helfen oder ob man eher auf dem Standpunkt steht möglichst viele von der Zuwanderung in die Bundesrepublik abzuhalten beziehungsweise dem Asylantrag dann eben nicht zu entsprechen, obwohl vielleicht Schutz zu gewähren sein könnte. Dazwischen gibt es meines Erachtens nach nicht viele Möglichkeiten, sich selbst zu positionieren."
Jochen Keller arbeitet seit 22 Jahren als Entscheider im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Er ist auch Trainer für Berufseinsteiger und schult Entscheider europaweit.
Fabrice: "Der Zaun zwischen Marokko und Spanien ist wie ein Krieg, viel schlimmer als das Mittelmeer. Die spanische Guardia Civil fliegt mit Hubschraubern ganz knapp über die Köpfe der Leute, die versuchen über den Zaun zu klettern. Vom Wind der Rotoren fliegen viele runter. Unten warten dann die marokkanischen Polizisten mit Schlagstöcken und hauen sofort auf dich ein. Sie schlagen so lange und so hart, bis sie deine Hände und Füße gebrochen haben. Einen Freund von mir haben sie so stark am Kopf erwischt, dass Blut aus Mund und Nase strömte. Er ist vor meinen Augen gestorben. Sie haben ihn getötet, nur weil wir nach Europa wollen. Das hat mich sehr mitgenommen."
Fabrice Womé ist 19 Jahre alt und stammt aus Kamerun, Zentralafrika. Er war zwei Jahre lang auf der Flucht, bis er in Deutschland ankam.
Die Fälle nicht mit nach Hause nehmen
Julia Schäfer: "Ich muss halt, ich (Pause) muss gefasst bleiben. Ich kann mir das halt auch nicht anmerken lassen in der Anhörung, klar, gibt es Situationen, wenn ich mir vorstelle: würde ich so was erleben: was würde ich in dem Moment machen? Aber sofern ich hier das Haus verlasse, ich darf nichts mit nach Hause nehmen. Wenn ich mir alles zu Herzen nehmen würde, könnten man diesen Job nicht wahrnehmen."
Julia Schäfer, 27, arbeitet seit zwei Jahren als Entscheiderin in der Außenstelle des Bundesamtes in Eisenhüttenstadt, in einer ehemaligen NVA-Kaserne, kurz vor der polnischen Grenze.
"Also man muss ja erst damit umgehen mit diesen Geschichten und ich würde sagen, dass ich ganz am Anfang das doch mal mit nach Hause genommen habe, aber man selber schnell begreifen muss, dass es so nicht geht, das macht einen dann einfach kaputt."
Die Entscheider sind die Schlüsselpersonen im deutschen Asylsystem. Sie bestimmen, wer in Deutschland bleiben darf und wer nicht.
Ich warte im Büro von Julia Schäfer auf den Beginn der Anhörung. Der Raum ist auffallend nüchtern eingerichtet: 15 Quadratmeter klein, Linoleumboden, Raufasertapete. Das einzige in ihrem Büro, das einen persönlichen Bezug hat, ist ein Foto auf dem Schreibtisch. Sie informiert mich kurz, dass der heutige Antragsteller, wie der Flüchtling in der Behördensprache heißt, aus Kamerun kommt.
Chance und Stress zugleich für die Antragsteller
Die Dolmetscherin führt den jungen Mann aus dem Wartebereich herein.
Entscheiderin: "Schönen Guten Tag, ich bin eine Mitarbeiterin des Bundesamtes, führe mit Ihnen heute die Anhörung durch."
Dolmetscherin: "Elle dit: Bonjour. Elle va faire votre interview avec vous aujourd'hui."
Entscheiderin: "Sie haben in Deutschland einen Asylantrag gestellt und heute die Möglichkeit, alle Asylgründe vorzutragen."
Dolmetscherin: "Vous avez demandé un asyl en Allemange ..."
Dolmetscherin: "Elle dit: Bonjour. Elle va faire votre interview avec vous aujourd'hui."
Entscheiderin: "Sie haben in Deutschland einen Asylantrag gestellt und heute die Möglichkeit, alle Asylgründe vorzutragen."
Dolmetscherin: "Vous avez demandé un asyl en Allemange ..."
Zwischen Entscheiderin und Antragsteller steht ein weißer Tisch. Darauf nur ein Plastikbecher mit Wasser und Taschentücher.
Entscheiderin: "Die Anhörung stellt in Ihrem Asylverfahren den wichtigsten Bestandteil dar. Sie haben heute die Möglichkeit, alles zu berichten, was dafür ausschlaggebend war."
Dolmetscherin: "Elle dit..."
Dolmetscherin: "Elle dit..."
Fabrice Womé antwortet leise und nickt dabei leicht mit dem Kopf. Nur ab und zu blickt er zu seiner Entscheiderin auf.
Entscheiderin: "Ein späteres Vorbringen der Asylgründe kann nämlich unberücksichtigt bleiben, dafür ist es heute wichtig, vollständig zu berichten, was passiert ist."
Dolmetscherin: "C' est très, très important..."
Dolmetscherin: "C' est très, très important..."
Die Anhörung dauert ungefähr zwei Stunden. Es ist eine einmalige Chance und gleichzeitig eine gewaltige Prüfungssituation.
Schäfer: "Das werden vielleicht auch einige Antragsteller damit vergleichen, aber sie müssen in dem Moment wirklich alles abrufen. Darauf nehmen wir in der Anhörung Rücksicht. Es wird ja jetzt nicht gleich überstürzt am Anfang gefragt: "jetzt schildern Sie mir Ihre Asylgründe!", sondern für mich ist es auch wichtig, die Person erstmal kennen zu lernen, damit der Antragsteller mit mir vertraut ist, damit er mir das auch erzählen möchte, damit er zu mir eine Beziehung aufgebaut hat."
Das geht allerdings nur über die Dolmetscherin. Und es kommt auf die Tagesform an – bei allen dreien.
Entscheiderin: "Die Anhörung wird heute wie folgt ablaufen: wir werden zunächst noch mal mit Ihnen Ihre persönliche Daten durchgehen, dann stelle ich ein paar ergänzende persönliche Fragen, wo Sie gearbeitet und gelebt haben und dann kommen wir auf die Asylgründe zu sprechen."
Familie, Militärdienst, Gesundheit – alles kann wichtig sein
Julia Schäfer fragt Fabrice Womé zu seinen Eltern, ob er Militärdienst geleistet hat und zu seiner gesundheitlichen Verfassung. Er erzählt, dass sein Vater tot ist. Seine Mutter verkaufte Obst und Gemüse, um für seinen kleinen Bruder und ihn zu sorgen. Acht Jahre ist er zur Schule gegangen. Mit 16 floh er aus Kamerun.
Entscheiderin: "Mit ihrem Einverständnis nehmen noch zwei weitere Personen an Ihrer Anhörung teil."
Dann muss ich das Aufnahmegerät ausschalten. Ich darf aber weiterhin im Raum bleiben, und das bis zum Ende der Anhörung. Die folgende Passage beruht auf Notizen, die ich mir vom Gespräch machen konnte.
Sprecherin: "Ich gehe mit Ihnen jetzt noch mal den Reiseweg durch, den Sie bereits bei der Aktenanlage angegeben haben: Sie haben Kamerun am 05.01.2013 verlassen, sind nach Nigeria und weiter nach Niger, waren 6 Monate in Algerien, dann 5 Monate in Marokko und sind weiter über Spanien dann nach Deutschland gekommen?"
Sprecher: "Ja."
"Sind Sie auf dem Landweg gereist?"
"Ja."
"Und dann mit dem Schlauchboot nach Spanien gekommen, richtig?"
"Nein, nicht mit dem Schlauchboot!"
"Okay, was dann?"
"Ich bin über den Zaun nach Melilla."
"Wissen Sie, was die Reise insgesamt gekostet hat?"
"Und dann mit dem Schlauchboot nach Spanien gekommen, richtig?"
"Nein, nicht mit dem Schlauchboot!"
"Okay, was dann?"
"Ich bin über den Zaun nach Melilla."
"Wissen Sie, was die Reise insgesamt gekostet hat?"
Der schier unüberwindliche Zaun von Melilla
Später frage ich Fabrice Womé noch mal genauer, wie er es schaffte, den berüchtigten Hochsicherheitszaun zwischen Marokko und dem spanischen Melilla zu überwinden. Ein sieben Meter hoher Doppelzaun, umwickelt mit Nato-Draht, das sind rasiermesserartige Klingen, die den Effekt eines Widerhakens haben. Verstärkt werden die Zäune durch engmaschige Gitter, damit Finger und Füße keinen Halt finden. Dazu kommen integrierte Tränengasdrüsen und Wärmebildkameras sowie die marokkanische Polizei auf der einen und die spanische Guardia Civil auf der anderen Seite. Es ist eine der bestgesicherten Grenzanlagen der Welt.
"Als ich das zum ersten Mal sah, dachte ich: das ist aussichtslos, das schaffe ich nie! Ich habe es fünf oder sechs Mal versucht, den Zaun zu überqueren. Sobald du dich näherst, kommen die marokkanischen Polizisten und reißen dich vom Zaun.
Sie rasen mit ihren Autos in die Menge. Einmal schaffte ich es gerade noch zur Seite zu springen, zwei neben mir wurden überfahren. Die Polizisten stürmen dann aus ihren Autos und schlagen mit Stangen auf die am Boden liegenden ein. Du begreifst schnell, dass es hier viele Verletzte und Tote gibt. Ich habe zu Gott gebetet. An dem Tag waren wir viele, die den Zaun stürmten. Das habe ich erst richtig gesehen, als ich oben vom Zaun runterschaute."
Wer es schafft, hat großes Glück
Tausende von Flüchtlingen verstecken sich über Monate in Zelten und unter Plastikplanen in den Wäldern am Berg Gourougou oder im Hinterland der Afra-Berge und warten – auf den einen Moment. Sie haben nur dann eine Chance, wenn sie zu Hunderten auf einmal die Grenzanlage stürmen und die Polizisten damit überraschen.
"Die spanische Polizei hat das Oberkommando. Sie rufen die ganze Zeit: Ihr werdet Europa nie erreichen! Dann rennen die Polizisten zum Zaun und schießen mit Tränengas und Gummigeschossen auf die Leute. Viele fallen von oben runter. Ich kannte etliche in unserem Lager im Wald, die haben dadurch ihre Beine verloren und lagen nur noch auf dem Boden herum. Sie konnten in kein Krankenhaus in Marokko, aber auch nicht mehr zurück in ihre Heimat.
An dem Tag schafften es viele von uns über den Zaun, aber fast alle wurden auf der anderen Seite von der Guardia Civil aufgegriffen und sofort zurück nach Marokko abgeschoben. Ich kann es mir bis heute nicht erklären, warum ich so einfach durch die Reihen der spanischen Polizei laufen konnte."
Jochen Keller: "Es ist häufig so, dass wir in der Anhörungssituation vielleicht auch der Erwartung der Antragsteller nicht gerecht werden können, dass es nicht darum geht, den kompletten Lebenslauf zu schildern, sondern dass wir uns darauf konzentrieren zu ermitteln: welche Gründe haben zur Ausreise geführt? Und welche Gründe müssen wir berücksichtigen bei der Rückkehr?
Das lässt natürlich viele Menschen, die diesen schlimmen Weg über das Mittelmeer nehmen oder die in Libyen von irgendwelchen Sklaventreibern gefangen genommen und wirklich zur Zwangsarbeit gezwungen werden oder was auch immer, das lässt diese Menschen ein Stück weit hintenüber fallen in Bezug darauf, dass sie das nicht schildern können. Oder nur sehr eingeschränkt schildern können, weil das außerhalb dessen ist, was für unsere Entscheidung wichtig ist."
Jochen Keller, der langjährige Entscheider und Trainer.
"Denn das, was auf dem Reiseweg passiert, auch wenn es sehr traumatisierende Erlebnisse sein mögen, spielt ja für die Situation im Heimatland, auf die wir uns konzentrieren müssen, keine große Rolle. Es kann aber natürlich wichtig sein, so was zu erfahren, um dann zum Beispiel zu wissen: Da ist eventuell ein psychologisches Moment, was jemanden daran hindert, seine Geschichte auch hinsichtlich der Ausreisegründe frei und vollkommen zu erzählen."
Verfolgungsschicksale werden abgefragt
Sprecherin: "Sie können mir jetzt schildern, warum Sie nach Deutschland gekommen sind und hier einen Asylantrag gestellt haben. Jetzt ist es wichtig, dass Sie detailliert über Ihr Verfolgungsschicksal berichten."
Sprecher: "Ich habe Kamerun verlassen, weil es zwischen zwei Parteien zu starken Konflikten gekommen ist. Die Unruhen fingen am 23. Februar 2011 an. Straßen wurden gesperrt. Die Polizei rückte mit Wasserwerfern an. Sie haben viele verhaftet und geschlagen, manche wurden getötet. Ich konnte mich verstecken. Wenn sie mich erwischt hätten, hätten sie mich auch getötet. Deshalb habe ich mein Land verlassen und hier Asyl beantragt."
Sprecher: "Ich habe Kamerun verlassen, weil es zwischen zwei Parteien zu starken Konflikten gekommen ist. Die Unruhen fingen am 23. Februar 2011 an. Straßen wurden gesperrt. Die Polizei rückte mit Wasserwerfern an. Sie haben viele verhaftet und geschlagen, manche wurden getötet. Ich konnte mich verstecken. Wenn sie mich erwischt hätten, hätten sie mich auch getötet. Deshalb habe ich mein Land verlassen und hier Asyl beantragt."
"Haben Sie alle Asylgründe genannt?"
"So wie ich es beschrieben habe, ist es passiert. Wenn Sie meine Freunde kontaktieren, werden die Ihnen sagen, dass ich bei einer Rückkehr ins Gefängnis gesteckt und umgebracht werde. Ich bin nach Deutschland gekommen, um zu überleben."
Nach § 25 Asylverfahrensgesetz muss der Antragsteller in der Anhörung – Zitat: "die Tatsachen vortragen, die seine Furcht vor Verfolgung oder die Gefahr eines ihm drohenden ernsthaften Schadens begründen" –
Die Entscheider glauben dem Flüchtling – oder nicht.
Die Entscheider glauben dem Flüchtling – oder nicht.
Jochen Keller: "Das hängt natürlich nicht allein von meinem Bauchgefühl ab, sondern es kommt da schon darauf an, ob sie in der Lage sind, das glaubhaft zu machen. Sie haben im Asylverfahren nicht die Pflicht, das, was sie vortragen, zu beweisen. Das ist eine Beweiserleichterung zugunsten des Antragstellers.
Wenn wir davon ausgehen, dass jemand, der wegen einer erlittenen Verfolgung aus seinem Land fliehen musste, dementsprechend keine Unterlagen mitbringen kann, mit dem er beweisen kann, was er vorträgt, kommen wir also zu dem Punkt, dass wir uns mit der Glaubhaftmachung beschäftigen müssen."
Nicht alle verkraften die Flucht gleich gut
Es gibt ohne Zweifel Flüchtlinge, die mit der besonderen Situation einer Anhörung besser klar kommen als andere, weil sie besser darauf vorbereitet sind oder sich einfach besser verkaufen können, obwohl sie vielleicht nicht die triftigeren Asylgründe haben.
"Natürlich gibt es Typen, die sehr gut darstellen können, ganz klar. Ich bin sicher im Laufe meiner vielen Jahre hier auch schon mehrmals erfolgreich belogen worden, da mache ich keinen Hehl daraus. Das stört mich aber auch gar nicht, weil ich denke, ich habe lieber eine Person zu viel geschützt als eine Person zu viel nicht geschützt."
Gerade von Flucht und Verfolgung traumatisierte Menschen sind oftmals nicht in der Lage, gegenüber einem Fremden sofort und dann auch noch über einen Dolmetscher ihr Verfolgungsschicksal schlüssig darzustellen. Fraglich ist auch, ob sie gerade in der Anhörungssituation zum ersten Mal von ihren Erfahrungen mit Folter, Misshandlung und Vergewaltigung erzählen können.
Das Bundesamt hat zwar unter seinen Entscheidern besonders geschulte Mitarbeiter, die dann die Anhörung von Folteropfern übernehmen, aber
"Das zu wissen, ist natürlich nicht immer ohne weiteres möglich, insbesondere dann nicht, wenn ich keine Vorinformationen über die Person habe und die Person auch ansonsten keine Anzeichen erkennen lässt, dass eine Traumatisierung vielleicht vorliegen könnte."
Wie stellt man die Wahrheit fest?
Julia Schäfer: "Es ist schwierig, die Glaubhaftigkeit festzustellen, aber es kommt auch immer drauf an, dass der Antragsteller halt in sich stimmig und widerspruchsfrei mir sein Anliegen erklärt und ich habe dann durch Nachfragen die Möglichkeit, den Sachverhalt aufzuschlüsseln."
Sprecherin: "Warum sind Sie damals auf die Straße gegangen?"
Sprecher: "Die Parteien sind in unser Stadtviertel gekommen und haben uns Flugblätter gegeben, damit wir sie unter der Bevölkerung verteilen. Dabei sollten wir auch Unruhe stiften. Das haben wir getan. Dann ist die Polizei gekommen und es kam zu schweren Auseinandersetzungen. Einige von uns haben dabei ihr Leben verloren. Ich habe es geschafft zu entkommen."
"Was für Flugblätter haben Sie da gekriegt? Können Sie mir genau beschreiben, wie die aussahen?"
"Die waren rot, in den Parteifarben der UPC."
"Was stand auf dem Flugblatt drauf?"
"Das Foto des Parteichefs."
"Wissen Sie, wie der heißt?"
"Nein."
Fabrice Womé war zu dieser Zeit 15 Jahre alt. Die Entscheider haben nicht nur zu prüfen, ob der Antragsteller aufgrund seiner tatsächlichen politischen Überzeugung verfolgt wird.
Julia Schäfer: "Genau so gut kann aber auch eine andere Person oder der Staat einem Antragsteller die politische Überzeugung unterstellen, das heißt, er mag gar nicht Mitglied einer Partei sein und gar nicht für deren Interessen kämpfen, ihm wird dies aber unterstellt, weil durch Andere irgendwas zu Ohren gekommen ist."
Die Situation in Kamerun
Kamerun wird seit 33 Jahren ununterbrochen von dem inzwischen 82-jährigen Paul Biya autokratisch regiert, gestützt von Militär und Geheimdienst. Regimegegner und die politische Opposition werden systematisch unterdrückt. Amnesty International berichtet von willkürlichen Festnahmen, unfairen Gerichtverfahren und permanenten Einschüchterungen bis hin zu Folter und Todesdrohungen. Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen infolge von Unruhen sind oftmals Kinder und Jugendliche.
Sprecherin: "Warum haben Sie diese Flugblätter verteilt?
Sprecher: "Sie haben uns die Zettel gegeben. Wir sollten zuerst Unruhe stiften. Das Ziel war, dass die Leute dann wegen des öffentlichen Aufruhrs die UPC wählen."
"Wann sollten die Wahlen stattfinden?"
"Im Oktober 2011."
"Im Oktober 2011."
"Können Sie das genaue Datum nennen?"
"10. Oktober 2011."
"Können Sie mir den Tag noch etwas genauer schildern? Wie lief das ab? Wann sind sie raus gegangen? Können Sie mir das Geschehen etwas detaillierter schildern bis die Polizei dann kam?"
"Wir sind raus gegangen zwischen 11 und 12 Uhr. Wir sind bis Deldó gelaufen und da gab es eine große Menschenansammlung. Dort haben wir begonnen, Unruhe zu stiften."
"Und wie haben Sie Unruhe gestiftet?"
"Wir haben angefangen, laut Parolen zu rufen. Dabei haben wir uns an den Händen festgehalten und eine Kette gebildet, um so die Straße zu sperren. Dann ist die Polizei gekommen und hat sofort damit begonnen, Leute von uns zu verhaften."
Fabrice Womé schaffte es in den Tumulten zu entkommen und versteckte sich im Dorf seiner Großmutter.
Schäfer: "Wichtig ist es halt auch, die Widersprüche aufzuklären, nicht, dass ich nachher Widersprüche vorhalte, aber gar nicht versucht habe mit dem Antragsteller aufzuklären, warum dieser Widerspruch vielleicht zu Stande gekommen ist. Auch vielleicht zu falschen Personalien, die er angegeben hat, vielleicht hat ihm das der Schleuser gesagt oder vielleicht hat er mit Landsleuten darüber geredet, dass es besser wäre so was anzugeben und so was ist halt wichtig zu erfahren.
Und selbst wenn ich dann Zweifel haben sollte, besteht immer noch die Möglichkeit, nachher Recherchen oder z.B. wenn die Staatsangehörigkeit vielleicht nicht eindeutig geklärt ist, eine Sprach- und Textanalyse durchzuführen."
Zugriff auf Datenbanken des UN-Flüchtlingswerks
Jede Entscheiderin und jeder Entscheider ist für bestimmte Länder zuständig. Bei Julia Schäfer sind das Afghanistan und Kenia und je nach Bedarf weitere afrikanische Staaten, wie in diesem Fall Kamerun. Zu diesen Ländern werden die Entscheider regelmäßig geschult. Und sie erhalten von der Zentrale in Nürnberg so genannte Herkunftsländerleitsätze, das sind Dossiers mit allgemeinen Informationen und Richtlinien zu jedem Land.
"Da stehen Situationen drinnen, die vorkommen können, aber nicht vorkommen müssen. Das heißt, klar gibt es Antragsteller, die in das Schema reinpassen, wo ich sage: 'Okay, Zwangsrekrutierung Taliban vorgetragen' – es könnte eine begründete Verfolgungsfurcht vorliegen, aber dennoch geht es ja um die Glaubhaftigkeit jedes Einzelnen. Das ist immer ein Einzelfall und der Einzelfall ist zu betrachten."
Als weitere Hilfestellungen haben die Entscheider Zugriff auf interne Datenbanken mit Informationen zur aktuellen politischen Entwicklung, in die auch Lageberichte vom UN-Flüchtlingshilfswerk und Amnesty International einfließen. Sie können aber auch selbst Anfragen ans Auswärtige Amt oder an so genannte Verbindungsbeamte in den Deutschen Botschaften stellen.
Das alles kostet natürlich viel Zeit und zieht ein Asylverfahren in die Länge. Im Prinzip kann die Entscheiderin detektivisch jeder Spur aus der Geschichte des Flüchtlings nachgehen.
Jochen Keller: "Man kann das natürlich zu einem sehr hohen Grad betreiben, das ist richtig, aber es ist ja so, wir müssen keine Beweise haben, wenn wir das Vorbringen für glaubhaft halten. Aber in manchen Fällen ist das auch hilfreich, wenn ich z.B. die Möglichkeit habe, ein Gerichtsurteil, in dem jemand wegen des Verteilens von Flugblättern zu 10 Jahren Haft verurteilt wird dahingehend überprüfen zu lassen: "gibt es dieses Gericht? Gibt es an diesem Gericht diesen Richter? Gab es das Verfahren unter diesem Aktenzeichen?"
Sprecherin: "Vor wem haben Sie konkret Angst in Kamerun?"
Sprecher: "Vor der Regierung."
"Warum denken Sie, dass die Regierung hinter Ihnen her ist?"
"Weil wir Unruhen ausgelöst haben und weil sie Freunde von mir umgebracht haben."
"Woher soll die Regierung wissen, dass Sie daran teilgenommen haben?"
"Bevor wir die roten Flugblätter verteilten, haben wir unsere Namen in Listen eingetragen. Nach der Aktion haben wir Geld bekommen und mussten unterschreiben, dass sie uns das Geld gegeben haben."
"Sie haben also Geld erhalten, um Unruhe zu stiften?"
"Zunächst haben wir etwas Geld bekommen, dann sind wir raus und haben für Unruhe gesorgt, und danach gab es den Rest des Geldes."
Deutschland zahlt weiterhin Entwicklungshilfe an Kamerun
Als in den frühen 90er Jahren einige afrikanische Länder mit Erfolg den Übergang zu demokratischen Strukturen vollzogen, wurden in Kamerun sämtliche Bestrebungen von Präsident Biya im Keim erstickt – durch permanente Wahlfälschungen, Repression und Bestechung. Transparency International führt Kamerun als das korrupteste Land in Afrika auf.
Die ehemaligen Kolonialmächte Deutschland und Frankreich sind aktuell die Staaten, die die meisten Entwicklungsgelder an das äußerst rohstoffreiche Land geben. Dabei haben sie ihre Zuwendungen im Laufe von Biyas 33-jähriger Herrschaft auf hohem Niveau immer weiter angehoben.
Jochen Keller: "Es kann z.B. sein, dass ein Antragsteller bestimmte Details der Geschichte nicht tatsachengemäß schildert, um Familienangehörige zu schützen, die noch im Heimatland sind oder weil er z.B. von seinem Fluchthelfer, dem Schleuser, dem Schlepper unter Druck gesetzt worden ist.
Das sind alles Möglichkeiten, die eine Rechtfertigung dafür liefern können, in Teilaspekten der Geschichte nicht die Wahrheit zu sagen, aber trotzdem hinsichtlich der dargelegten Verfolgungshandlung glaubhaft zu sein und da müssen wir halt differenzieren bei der Betrachtung der Schilderung des Antragstellers."
Sind einige Entscheider härter als andere?
Julia Schäfer fragt in der Anhörung sehr genau nach, wenn Fabrice Womé unklar antwortet. Ist sie dabei härter als Herr Wolter ein Stockwerk tiefer oder vielleicht nachgiebiger als Frau Kramer in München oder Herr Behrendt in Karlsruhe? Hat Fabrice Womé Glück oder Pech, dass er heute hier sitzt, und nicht eine Tür weiter?
"Nein! Also es sollte schon eine einheitliche Entscheidungspraxis herrschen und auch die Anhörung ist in der Regel identisch. Für uns ist es ja wichtig anhand der Tatsachen, die der Antragsteller schildert, eine Entscheidung zu treffen."
Aber es kann passieren, dass von zwei Antragstellern mit nahezu gleichem Verfolgungsschicksal der eine in Eisenhüttenstadt positiv beschieden wird, der andere in der Berliner Außenstelle aber abgelehnt wird.
"Es sollte nicht passieren. Und dafür haben wir eigentlich auch die Herkunftsländerleitsätze, die uns vorgegeben werden, wo verallgemeinerte Informationen drinnen stecken, nach denen wir uns richten müssen. Und auch die Dienstanweisung gibt es, danach hat jeder zu handeln und dementsprechend muss es eine einheitliche Entscheidungspraxis geben, sonst funktioniert das ganze System auch nicht."
Regelmäßige Schulungen durch Trainer wie Jochen Keller und die mittlerweile standardisierte Einarbeitung für die Berufsanfänger sollen zudem für eine einheitliche Praxis sorgen. Durch den extrem hohen Bedarf an neuen Entscheidern genügt als Voraussetzung inzwischen ein Bachelor-Abschluss, egal welcher Fachrichtung. Die Einarbeitung wurde von ursprünglich drei Monaten auf nur noch sechs Wochen verkürzt.
Es geht auch um Rückkehrprognosen
Im Rahmen der Schutzüberprüfung müssen die Entscheider auch eine so genannte Rückkehrprognose zu jedem Flüchtling treffen. Es geht also nicht nur darum, ob die Verfolgung bereits passierte, sondern auch darum, welche Gefahren bei einer Rückkehr drohen. Dabei wird auch geprüft, ob der Antragsteller in seiner Heimat an einem anderen Ort sicher leben könnte.
Jochen Keller: "Die wirtschaftliche Situation im Heimatland gehört letztlich auch immer zu den Punkten, die zu prüfen ist, weil wir im Rahmen unserer nationalen Abschiebungsverbote die Möglichkeit haben zu sagen: Aufgrund der katastrophalen wirtschaftlichen Situation in einem Land und der in der Person des Antragstellers liegenden besonderen Umstände wird es nicht möglich sein, dass er sich bei Rückkehr eine Existenz wieder aufbaut.
Dann sind das wiederum individuelle Faktoren, die zu einer günstigeren Entscheidung führen können.
Aber wir können im Asylverfahren nicht einfach den Umstand berücksichtigen, dass es vielleicht ein junger, hoffnungsvoller Mensch ist. Das gibt das Asyl-System nicht her."
Aber wir können im Asylverfahren nicht einfach den Umstand berücksichtigen, dass es vielleicht ein junger, hoffnungsvoller Mensch ist. Das gibt das Asyl-System nicht her."
Nach Europa einzuwandern und sich hier eine Existenz aufzubauen, wie es Millionen von hoffnungsvollen Deutschen und Europäern über viele Jahrzehnte in Amerika getan haben, ist heutzutage nahezu unmöglich. Im Falle Deutschlands geht das nur über eine Blue-Card, für die man zum Beispiel eine Arbeitsplatzzusage mit mindestens 45.000 Euro Jahreseinkommen braucht. Andere Möglichkeiten legal nach Deutschland einzuwandern gibt es nicht – nur den Weg über das Asylverfahren.
"Ich denke, das ist ein Fehler, der vielfach gemacht wird, dass man einfach die Tatsache der Asylantragstellung gleichsetzt mit dem Wunsch, sich bei uns in die soziale Hängematte zu legen. Viele der Menschen, die zu uns kommen, wollen hier für sich selbst und für ihre Kinder etwas erreichen. Die möchten arbeiten gehen, die möchten sich selbst eine bessere Zukunft aufbauen, die sie im eigenen Land nicht haben können. In Afghanistan, weil das Land vom Krieg total zerstört ist nach inzwischen 35 Jahren.
Das gleiche gilt für manches afrikanische Land natürlich. Oder weil einfach die wirtschaftliche Situation so schlecht ist, dass jede geringfügige Verbesserung einfach eine Perspektive darstellt."
Für die politische, soziale und wirtschaftliche Misere Kameruns zum Beispiel tragen Präsident Biya und die korrupten Eliten des Landes die Verantwortung, aber auch die ehemaligen Kolonialmächte Deutschland und Frankreich, die die Menschen damals entwurzelten und ihnen heute ihr Tropenholz nehmen. Unsere Smartphones zum Beispiel laufen nur dank seltener Metalle aus Zentralafrika.
Flucht vor autokratischen Herrschern
Die Bewohner fliehen vor ihren autokratischen Herrschern – und sie fliehen ihren Bodenschätzen hinterher zu uns. Die Klassifizierung in politisch Verfolgte und Wirtschaftsflüchtlinge ist also mehr als fragwürdig.
Trotz Leitsätzen und Dienstanweisungen steht Julia Schäfer bei ihrer Entscheidung über den Asylantrag ein persönlicher Ermessensspielraum zu:
"Deswegen kann auch unabhängig von den Vorgaben eine andere Entscheidung getroffen werden, wenn sie gut und ausführlich begründet ist. und wenn ich dies dann vorlege und sage, in diesem Fall, müsste ich aber so entscheiden, würde die Zentrale sicherlich dem zustimmen. Es muss halt gut begründet sein."
Was erheblich mehr Einsatz für die Entscheider bedeutet und sehr selten vorkommt.
"Ich persönlich würde so einen Fall der Zentrale vorlegen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie (seufzt) es sein muss, aber ich würde das jetzt nicht ohne Absprache entscheiden."
An drei Tagen in der Woche hat Julia Schäfer Anhörungen, an zweien trifft sie dann ihre Entscheidungen.
"Es sollte nicht nach dem Bauchgefühl gehen. Also ich gehe schon nach den Fakten, die mir vorliegen, auch nach den wesentlichen Tatsachen, die in der Anhörung stecken. Wenn jetzt irgendetwas nicht geklärt werden kann, oder ich mir nicht 100-prozentig sicher bin, dann im Zweifel für den Antragsteller."
Jeder negative Bescheid erfordert eine Begründung.
"Ich versuche so ausführlich wie möglich, jeden Tatbestand zu begründen, warum ich ihn ablehne und das kann schon einige Seiten in Anspruch nehmen, also ich habe teilweise Bescheide, die bestehen aus 16 Seiten. Und das sind jetzt nicht reine 16 Seiten, die ich selber geschrieben habe, weil es natürlich auch Textbausteine gibt, die die Voraussetzungen schon zusammengefasst haben, es macht ja keinen Sinn, wenn ich jedes Mal immer das gleiche wieder schreiben muss.
Aber es gibt genügend Punkte, wo ich selber begründen muss, warum ich es jetzt nicht als glaubhaft erachte und warum ich es jetzt ablehne."
Fabrice aus Kamerun wartet
In einer Kleinstadt in Brandenburg wartet Fabrice Womé auf seinen Bescheid. Er hat schon vor seiner Anhörung mit einem Deutschkurs an der örtlichen Volkshochschule begonnen. Samstags spielt er Fußball mit Mitgliedern aus der Kirchengemeinde. Aber an vielen Stunden in der Woche langweilt er sich und wartet.
"Ich bin verpflichtet, das deutsche Asylgesetz zu respektieren. Es erlaubt mir nicht zu arbeiten. Aber mir fehlt die Arbeit, mehr als alles andere. Das einzige, was ich hier gerade tun kann, ist zu warten und mich an das Gesetz zu halten. Natürlich vermisse ich meine Mutter und meinen kleinen Bruder. Ich habe seit meiner Flucht keinen Kontakt mehr zu ihnen. Das macht mich sehr traurig. Sie wissen nicht wo ich bin. Und ich habe keine Ahnung, wie es ihnen geht. Ich weiß nicht mal, ob sie überhaupt noch am Leben sind."
Die Rechtslage ist für die Entscheider in den vergangen 15 Jahren komplexer geworden, weil der Schutz für Flüchtlinge heute differenzierter betrachtet wird.
Fällt Julia Schäfers Entscheidung über Fabrice Womé positiv aus, bekommt er von ihr eine der vier folgenden Schutzstufen: Die oberste Stufe ist Asyl für politisch Verfolgte nach Artikel 16 a Grundgesetz. Die darin verankerte Drittstaatenregelung besagt allerdings: Wer über ein sicheres Land nach Deutschland einreist, hat hier keinen Anspruch auf Asyl. Allein schon wegen der geographischen Lage Deutschlands haben deshalb nur sehr wenige die Chance auf Asyl, praktisch nur die, die mit dem Flugzeug einreisen.
Die zweite Stufe ist der Flüchtlingsschutz, der sich an der Genfer Flüchtlingskonvention orientiert. Das kann Bürgerkriegsflüchtlinge genau so betreffen wie Verfolgte durch nicht-staatliche Akteure wie den IS.
Die dritte Kategorie ist der subsidiäre Schutz für Menschen, die nicht konkret verfolgt sind, aber durch willkürliche Gewalt wie Todesstrafe in ihrer Heimat bedroht sind. Die unterste Stufe sind die Abschiebungsverbote zum Beispiel wegen schwerer Krankheit.
Keine Entscheidung bereut
Jochen Keller: "Meine Entscheidung heißt zwar nicht 'Leben oder Tod?' Aber meine Entscheidung heißt 'Schutzgewährung oder nicht'. Und wenn ich zu dem Punkt komme: 'keine Schutzgewährung' dann komme ich in vielen Fällen zu dem Punkt: 'Ausreiseaufforderung' beziehungsweise 'Abschiebungsandrohung' und das dann, wenn ich die falsche Entscheidung treffe, schicksalhafte Auswirkungen haben kann. Dessen muss ich mir bewusst sein."
Ich frage Julia Schäfer direkt nach der Anhörung, ob sie eine Entscheidung im Nachhinein schon einmal bereut hätte:
"Hatte ich bisher noch nicht, nein! Also ich versuche den Sachverhalt so aufzuschlüsseln, dass ich mit meiner Entscheidung danach zufrieden und dass es gesetzeskonform und ich nach den Vorgaben gehandelt habe. Ich habe bis jetzt noch nicht das Gefühl gehabt, dass diese Entscheidung falsch war. Wer wirklich begründet hier ist, darf ja auch hier bleiben, dementsprechend brauche ich über die Folgen nicht wirklich nachdenken und wie nachher die Abschiebung aussieht, damit habe ich ja im Endeffekt auch nichts mehr zu tun."