Athleisure

Die unerträgliche Sportlichkeit des Seins

Wer was auf sich hält, trägt Turnschuhe.
Sommertrends 2022 - Socken in Schuhen © picture alliance / dpa / Robert Michael
Ein Einwurf von Alexander Estis · 20.04.2023
Ob in der Oper oder im Büro - Sportbekleidung liegt im Trend. Athleisure nennt sich dieser Stil. Doch Alexander Estis meint, unser Leben benötige etwas weniger schale Sportlichkeit und etwas mehr unsportliche Leichtigkeit.
"Dein Neujahrsvorsatz, fitter zu werden, hat noch nicht geklappt?", fragt die "Bunte" ihre Leserschaft – und bietet schnelle Abhilfe: "Diese Outfit-Ideen motivieren uns zu mehr Sport – und mehr Style." Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir nicht weniger Stil erhalten, wenn wir mehr Style bekommen. Und ob uns dieser Style nicht in erster Linie deshalb zur leiblichen Ertüchtigung motiviert, weil er unsere von Sportlichkeit unberührten Körpersegmente allzu deutlich exponiert.
Der Style jedenfalls, um den es hier geht, heißt Athleisure. Das Magazin "Glamour" definiert: "Grob lässt sich sagen, dass wir einfach alles, was wir bisher zum Sport angezogen haben, jetzt auch im Alltag tragen." Ein Beispiel? "In Sachen Schuhe sind Sneaker natürlich das Go-to-Piece für instant Athleisure-Vibes."

Pandemiebedingten Schlendrianisierung?

Erklärt wird die stetig steigende Popularität von Athleisure einerseits mit dem Comeback der Neunzigerjahretrends, andererseits mit der allgemeinen pandemiebedingten Schlendrianisierung. Freilich: Wer heute in Sporthosen unterwegs ist, hat in der Regel nicht die Kontrolle über sein Leben verloren, sondern versucht ganz umgekehrt, sein Leben, das vor allem durch die einschlägigen Vitalfunktionen bestimmt wird, der größtmöglichen Kontrolle zu unterziehen. Dazu verhelfen diverse Wearables, so vor allem Fitnesstracker, die den Körper wörtlich auf Schritt und Tritt überwachen.
Die mal mehr, mal minder berechtigte Kritik an diesen Modetrends ist nicht neu; ebensowenig diejenige an Gesundheits- und Sportkult. Erstaunlicher ist jedoch, wie dieser Sportkult nicht allein auf augenfällige Weise in die Welt außerhalb von Turnhalle und Fitnessstudio eingreift, sondern überdies zum teils unterschwelligen Paradigma eines omnipräsenten aktiven Lebensstils avanciert. So wird der tägliche Arbeitsweg per Rad zu einem Biking-Event, der Spaziergang durch den Wald zu einer Nordic-Walking-Session und selbst die süße Schwäche eines Schlummers erfährt eine Aufwertung zum zielstrebigen Power Nap.

"Nimm’s sportlich!"

Auch für das Geistige wird der Sport paradigmatisch: Wir motivieren uns morgens mithilfe von Durchhalteparolen und Siegesphantasien, trainieren uns im Sinne der Selbstoptimierung nützliche Verhaltensweisen an und wenn wir, auf welchem Gebiet auch immer, nicht weiterkommen, dann lassen wir uns einfach coachen. All dies mit dem Ziel, unser Bestes geben zu können. Denn Sportlichkeit bemisst sich am Leistungspotenzial – und, welch ein Zufall, ebenso die Funktionstüchtigkeit eines Individuums innerhalb unserer konkurrenzkapitalistischen Wertschöpfungsarchitekturen.
Bei Lichte besehen könnte sich das Existenzparadigma Sportlichkeit insofern als individualpsychologisches Korrelat derjenigen funktionalen Diktate erweisen, denen uns die Leistungsgesellschaft unterwirft – einer Gesellschaft, für die Dabeisein alles ist, deren universelle Antwort auf sämtliche Zumutungen und Überforderungen aber zugleich lautet: "Nimm’s sportlich!"

Unsportliche Leichtigkeit oder schale Sportlichkeit? 

Damit wird nicht zuletzt auch das Athletische selbst zu einem Lifestylephänomen herabgewürdigt. Ist es nämlich um solche Sportlichkeit des Seins nicht genauso bestellt wie um andere Fälle der trivialisierenden Verwässerung existenzieller Erfahrungsformen? Verhält sich der aktive Lifestyle zum eigentlichen Sport nicht wie die Lebensart der sogenannten Kreativen zu echter Kunst? Ist es nicht, wie wenn man ein Glas Saft, um den ganzen Tag daran nippen zu können, mit einem Kanister Wasser verdünnt? – Das gesamte Gesöff hat jetzt einen schalen Fruchtgeschmack, aber nirgends mehr ist er so richtig zu spüren.
Vielleicht möge unser Leben am Ende also doch lieber von unsportlicher Leichtigkeit geprägt sein – als von unerträglich schaler Sportlichkeit.

Alexander Estis ist Schriftsteller und Kolumnist. 1986 in Moskau geboren, studierte er in Hamburg deutsche und lateinische Philologie, anschließend lehrte er an verschiedenen Universitäten in Deutschland sowie in der Schweiz, wo er seit 2016 als freier Autor lebt. Er schreibt für unter anderem die „FAZ“, die „SZ“, die „NZZ“ und die „ZEIT“. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Fluchten“ bei der Edition Mosaik.

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