Atom-Pilze

Von Robert Baag |
Das Atomwaffentestgelände Semipalatinsk liegt in der kasachischen Steppe und umfasst 18.500 Quadratkilometer. Von 1949 bis 1989 wurden hier fast 500 nukleare Bombentests überwiegend zu militärischen Zwecken durchgeführt. Dies entspricht etwa der Sprengkraft von 2500 Hiroshima-Bomben.
Vor 19 Jahren wurde Semipalatinsk stillgelegt, doch die Strahlenbelastung in dem Gebiet liegt auch heute noch weit über der Norm, noch lange nach der Schließung gab es eine deutlich erhöhte Zahl von Lungen-, Magen- und Brustkrebs. Zahllos sind die Ideen für die Weiterverwendung des verseuchten Gebietes: Bodenschätze wie Magnesium und Gold sollen erschlossen, ein kasachisches Atomkraftwerk soll hier gebaut oder ein Atom-Museum für Touristen eingerichtet werden. Und jetzt: Rekultivierung im Dienste der Landwirtschaft.

Burkart: "Semipalatinsk ist eine der zwei großen Test-Sites, ist eigentlich das ‘Nevada’ der ehemaligen Sowjetunion. Und seit 29. August 1949 - das geschah sehr schnell nach den ersten amerikanischen Bombentests und -abwürfen, ist da die erste Plutonium-Bombe gezündet worden. Übrigens: Das Plutonium wurde erbrütet aus deutschem Uran, aus Sachsen/Thüringen."

Werner Burkart, stellvertretender Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Agentur ist extra aus Wien in die kasachische Hauptstadt Astana gereist, um ein Grußwort aus Anlass des ersten "Internationalen Tags gegen Atomtests" zu überbringen. Auf seiner Visitenkarte ist unter dem Logo seiner Organisation zu lesen: "Atoms for Peace" ("Atome für den Frieden")...

Kein Redebeitrag ohne lobenden Bezug auf den Gastgeber, Kasachstans Staatspräsidenten Nursultan Nazarbaev, den geistigen Vater dieser Initiative, der im Westen sonst eigentlich eher bekannt ist für seinen harten, autoritären Umgang mit den wenigen Oppositionellen im Land. Auch in dem stillen Wäldchen am Stadtrand von Semej, sowjetisch einst "Semipalatinsk", weiß der Bürgermeister, was die Landes-Etikette von ihm erwartet. Seit dem vergangenen Jahr mahnt dort das einen Atom-Pilz stilisierende Denkmal an die Opfer jahrzehntelanger nuklearer Testversuche:

"Der erste Präsident des unabhängigen Kasachstan, Nursultan Nazarbaev, hat mit seinem Ukas vom 29. August 1991 das Atomtest-Gelände von Semipalatinsk geschlossen. Das Ende der Atomversuche hat aktiv die Bürgerbewegung ‘Nevada-Semej’ mit Olzhas Sulejmenov an der Spitze hervorgebracht. Dies hat ermöglicht, den starken totalitären Apparat unschädlich zu machen, der über Jahrzehnte ohne Gesetzesgrundlage seine Experimente an einem ganzen Volk ausgeführt hat."

Doch genau jener Olzhas Sulejmenov, Dichter und fast legendärer Volksheld, inzwischen immerhin ständiger Vertreter Kasachstans bei der UNESCO, ist heute einer der Wenigen im Land, der die aktuellen kasachischen Kernenergie-Pläne kritisch sieht.

Sulejmenov: "Ich glaube nicht, dass dafür bei uns in Kasachstan die Stimmung so richtig dafür ist... Wir verstehen natürlich unsere Regierung, die darauf besteht, dass wir Kernkraftwerke brauchen. Aber uns hat doch nicht nur Tschernobyl erschreckt. Uns reicht doch unser Semipalatinsk. Allein deshalb wird unser Volk sehr zurückhaltend auf diese Regierungs-Initiative reagieren."


Auch ein weiteres, ebenso nachdrücklich propagiertes Paradevorhaben sieht Sulejmenov ausgesprochen skeptisch: Nach Jahren der Ödnis soll das Atomtest-Gelände, der sogenannte "Poligon", zu weiten Teilen rekultiviert, für die landwirtschaftliche Nutzung wieder freigegeben werden, sollen sich wissenschaftliche Institute und Firmen dort ansiedeln.

Sulejmenov: "Ganz vorsichtig sollten wir damit sein! Vierzig Jahre lang hat es dort Atomtests gegeben, allein 124 Kernexplosionen in der Luft, in der Atmosphäre... Das hat schwer korrigierbare Schäden nicht nur für die Menschen sondern auch für den Erdboden angerichtet. Dort weidet wieder Vieh, obwohl der Erdboden dort nach Ansicht so mancher noch mit Plutonium durchtränkt ist. Wie kann man denn dort etwas anbauen? Das muss noch sehr lange erforscht werden. Da wird es Gegenden geben, die noch nach Tausenden von Jahren nicht zu nutzen sein werden. - Zwanzig Jahre nach Ende der Versuche wieder 95 Prozent des Geländes für die Landwirtschaft öffnen, das geht wohl nicht, denke ich!"

IAEA-Funktionär Werner Burkart sieht das allerdings anders, versucht zu relativieren, argumentiert mit wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen:

"Das ist machbar, weil dieses sogenannte Poligon, da gibt es viele Teile dieser ‘test-site’, die sind praktisch nicht belastet. Daneben, und das ist vielleicht die Komplexität des Problems, gibt’s Areale außerhalb der ‘test-site’, die sind sogar viel stärker belastet in der heutigen Russischen Föderation, im Bereich von Barnaul, das heißt, im Osten, im Altai-Gebiet. Das ist recht komplex. Das nennt man Radio-Ökologie. Es ist möglich. Das haben wir auch nach Tschernobyl gesehen. Es ist möglich, dass Gebiete wenig belastet sind, die relativ nahe am Ort des Geschehens sind. Und dann andere Gebiete sind wieder stark belastet. Das ist etwas skurril, dass Kiew und München mehr oder weniger die gleiche Belastung haben durch Cäsium aus Tschernobyl."

Mitten in der kasachischen Steppe, rund 150 Kilometer von Semej entfernt: Jurij Striltchuk knipst den Geigerzähler an. 60 Kilometer holpriger Fahrt im Kleinbus auf Feldwegen von der früher hoch geheimen Militär- und Forscher-Siedlung Kurtschatov sind zu Ende.

"Hier befinden wir uns im Epizentrum der ersten sowjetischen Atomexplosion vom August 1949", verkündet Striltchuk fröhlich. Und an dieser Stelle habe man im November 1962 auch den letzten oberirdischen Nuklearversuch mit einer Sprengkraft von etwa einer Kilo-Tonne TNT gezündet.

Striltchuk, in NATO-ähnlicher Tarnuniform, die Haare zu einem üppigen Pferdeschwanz zusammengebunden, sieht auf den ersten Blick ein bisschen aus wie ein in die Jahre gekommener Spät-Hippie, verrät aber später, dass er als ehemaliger Hauptmann der sowjetischen Armee gedient habe. Jetzt ist er Leiter des "Nationalen Nuklear-Zentrums und Instituts für Strahlen-Sicherheit und Ökologie der Republik Kasachstan". - "Angst vor Rest-Strahlung?" - "Ach was!", strahlt er aus blauen Augen, hinter ihm der stille, wassergefüllte, mit üppigem Gras umwachsene Bombenkrater. Er mache schon so lange diese Poligon-Führungen, fühle sich dabei bestens und auch Frau und Sohn, die in Kurtschatov leben, seien gesund und munter:

"Überhaupt keine Gefahr für Leben und Gesundheit bedeutet so eine Fahrt hierher! Die Strahlenbelastung bei einem Aufenthalt an diesem Ort beträgt drei oder vier Mikro-Sievert. Ein Transatlantik-Flug in die USA belastet die Passagiere wegen der natürlichen Höhenstrahlung doch mit der etwa zehnfachen Dosis - mit 40, 50 Mikro-Sievert."

Sicherheitshalber - aber, wie er sagt - nur um wirklich ganz sicher zu gehen, empfiehlt Striltchuk schließlich doch:

"Na, gut - hier befinden wir uns auf einem Geländeabschnitt, wo es verschmutzte Stellen gibt. Wir haben allerdings gerade nicht so viel Wind, und deswegen fliegt auch nur wenig Staub durch die Luft. Trotzdem: Damit niemand aus Versehen etwas verschluckt, sollte der Mund erst ausgespült und dieser Schluck Wasser dann ausgespuckt werden, bevor man zu trinken anfängt. - Spülen, ausspucken, trinken ... - Verstanden? Ja? - Zuhause dann: Unter die Dusche, Hände waschen, die elementaren hygienischen Prozeduren eben ... Aber noch einmal: Der Aufenthalt hier bringt keinerlei Gefahr für Leben und Gesundheit mit sich ..."

Dann wieder eine gut zehn Kilometer lange Fahrt in dem betagten, grau gestrichenen Kleinbus, vorbei an aufgelassenen Beobachtungsbunkern mit gähnend leeren, dunklen Fensterhöhlen. Die Herbstsonne lässt die Luft flirren über der endlos grünbraunen Steppe ... Ein Raubvogel-Pärchen kreist gemächlich am hellblauen, wolkenlosen Himmel - plötzlich dann ein surrealer Anblick: Am Abhang eines kleinen, welligen Hügels, mitten in dieser im Horizont schier ertrinkenden Weite fällt der Blick auf eine sanft-traurig blickende Kuh, die in einem überdachten Freiluft-Gitterverschlag steht und träge ihr Heu wiederkäut. "Tschubatka", die "Stirnlockige" - so heißt die Braune.

"Wir haben beschlossen, einen Geländeabschnitt auszuwählen, das besonders stark belastet ist, um hier ein Stück Agrar-Technologie einzurichten. ‘Natürliche Landwirtschaft auf nuklear verschmutztem Boden’ haben wir das genannt. Eine Art virtueller Bauer lebt hier, hält sein Vieh, baut Gemüse an, verbraucht den größten Teil seiner Produktion selbst.

Klar, unsere Institutsmitarbeiter werden das hier nicht essen. Die Milch, das Fleisch und das Gemüse kommen ins Labor, um herauszufinden, wie viel Radio-Nukleide sich in diesen Erzeugnissen angesammelt haben. Wir haben im Modell einen Warenkorb ermittelt, was ein Mensch hier im Durchschnitt so zu sich nimmt. Eine Art nächster Schritt, um feststellen, ob eine gesundheitliche Gefährdung zu befürchten ist, wenn jemand sich unter den hier herrschenden schlechtesten Bedingungen aufhält."

Schließlich verfüge man doch schon über gewisse Erfahrungswerte, ergänzt Striltchuk:
"Hier haben bereits jahrelang Menschen gelebt, ihr Vieh geweidet - und nach unsern Erkenntnissen hat niemand von denen eine Dosis abbekommen, die über den Normen unserer Dokumentation gelegen hätte. Und deshalb empfehlen wir unseren zuständigen Behörden dieses Territorium wieder der landwirtschaftlichen Nutzung zugänglich zu machen."

Die Stichworte "Kosten" und "Nutzen" spielen letztlich aber auch in der kasachischen Steppe eine Rolle. Ohnehin ist das zentralasiatische Kasachstan mit seinen gut 16,5 Millionen Einwohnern auf knapp drei Millionen Quadratkilometern Fläche ein eher dünn besiedeltes Land. Doch dieses Wiederansiedlungsvorhaben auf dem "Poligon" von Semej - so viel wird bald deutlich - ist politisch gewollt. Striltchuk räumt dennoch ein:

"Den gesamten Poligon zu rekultivieren - das ist ökonomisch nicht sinnvoll! Das müsste sehr viel investiert werden. Der Ertrag aber wäre mehr als minimal! Jetzt machen wir das Ganze erstmal dicht, erforschen die Bodenqualität. Die am schlimmsten verschmutzen Abschnitte lassen sich rekultivieren, das Erdreich wird bis in einen Meter Tiefe abgetragen und mit frischer Muttererde wieder aufgeschüttet. Hier, dieses Territorium ist bereits sauber! Und gerade mal zehn Kilometer vom einstigen Epizentrum der Atomversuche entfernt ..."

Zurück in Semej/Semipalatinsk. Die knapp 80jährige Pelageja Frolovna im örtlichen Altenheim singt trotz ihrer Beinprothese begeistert in dem Seniorinnen-Trio mit, das auf der kleinen Bühne mit seinem schmissigen Lied verspricht, doch niemals traurig sein zu wollen. - Ihre Mutter, ihr Onkel sind schon lange tot, erzählt sie anschließend, an Krebs gestorben wie so viele ihrer Bekannten. Sie selbst ist kinderlos geblieben, hatte Fehlgeburten, ein Bein hat man ihr amputiert. Die Rückkehr in das 18.500 Quadratkilometer große Polygon-Gebiet kann sie sich nicht vorstellen. Für immer in ihr Gedächtnis buchstäblich eingebrannt ist der Tag der ersten Explosion. Niemand hatte die Menschen vorgewarnt, damals vor über 60 Jahren:

"Ringsum donnerte es. Alle Fensterscheiben flogen raus. Eine riesige schwarze Wolke stieg hoch. Wir bekamen einen Riesenschrecken. Was war das? Erst später hieß es: ‘Eine Explosion auf dem Poligon. Bleibt ruhig! Nichts Schlimmes!’ - Geglaubt haben wir das nie! Unser Pflanzen gingen kurz darauf ein. Die Kinder wurden krank ..."

Pelageja Frolovnas Zimmer-Nachbar kommt näher. Der Invalide Kapan Dulatov leidet schon seit vielen Jahren an schweren Magengeschwüren:

"Versuchskaninchen waren wir für die!" - Bis zum Schluss hätten sie nichts gewusst. Solange, bis das "Atom", wie er den "Poligon von Semipalatinsk" nennt, endgültig geschlossen worden sei - vor nicht mal 20 Jahren. Frei ihre Meinung zu sagen, wie zum Beispiel heute der neue, unabhängige Staat mit dem nuklearen sowjetischen Zwangserbe umgeht, davor scheuen sich immer noch viele Bürger im Kasachstan des Nursultan Nazarbaev, des Präsidenten auf Lebenszeit.

"Die Angst, Unannehmlichkeiten zu kriegen oder bestraft zu werden, wird uns wohl noch über Generationen in den Genen sitzen", flüstert Kairat, die in Wirklichkeit anders heißt, aber aus Angst um ihren Arbeitsplatz bittet, sie nicht mit ihrem richtigen Namen zu nennen. Denn auch sie ist skeptisch, wenn sie von den Rekultivierungsplänen für das "Poligon" hört und davon, dass der Einsatz von Atomenergie für friedliche Zwecke in Kasachstan wieder von ganz oben propagiert wird.

Kairat mag Mitte 50 sein. Sie kann sich jedenfalls an die sowjetischen Zeiten noch sehr gut und ganz genau erinnern. Von daher noch gewohnt im Zweifelsfall vorsichtig zu formulieren, bleibt ihre Kritik an der politischen Führung, am Staat zwar vordergründig deutlich, aber sie lässt wohl bewusst offen, ob sie nur die untergegangene Sowjet-Macht im Sinn hat, der es vor über einem halben Jahrhundert gefallen hatte, ihre Heimat, ihre Vorfahren, ihre Landsleute atomar zu verseuchen:

"Irgendwie ist dieses Verhalten dem eigenen Volk gegenüber nicht zu verstehen. Es ist unvernünftig - zurückhaltend formuliert! ... dass Leute an Krankheiten sterben müssen, die sich wiederum andere Leute ausgedacht haben! Klar, das ist doch sehr bitter! Wenn dann Menschen zu Dir kommen und kannst ihnen nicht helfen ... Das ist furchtbar!"#