100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Eine Sendereihe von Deutschlandfunk Kultur in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung
Autorin: Elke Kimmel
Sprecher-in: Luise Wolfram, Haino Rindler und Bernhard Schütz
Regie: Giuseppe Maio
Tontechnik: Jan Fraune
Redaktion: Winfried Sträter
100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Er war in der Weimarer Republik die Hoffnung der deutschen Demokraten: Außenminister Walther Rathenau. © picture-alliance / dpa
Das Attentat auf Außenminister Walther Rathenau
08:02 Minuten
Rechte Republik-Feinde ermordeten vor 100 Jahren Außenminister Walther Rathenau. Die Öffentlichkeit ist entsetzt über das Attentat. In vielen Städten demonstrieren Hunderttausende Menschen gegen den rechten Terror und für die Weimarer Republik.
Der 24. Juni 1922 ist ein Samstag. Walther Rathenau ist seit knapp fünf Monaten deutscher Außenminister. Deutschland ist nach dem verlorenen Krieg noch international isoliert, aber Rathenau hat in seiner kurzen Amtszeit bereits einen Coup gelandet: Am Rande einer internationalen Wirtschaftskonferenz in Genua hat er einen Vertrag mit Russland geschlossen, den Vertrag von Rapallo.
Damit hat sich Deutschland auf der Bühne der Weltpolitik zurückgemeldet. Im Reichstag ist dies von den Vertretern der demokratischen Parteien anerkannt worden. Kritik kam vor allem von den Deutschnationalen. Ihnen und der völkischen Rechten ist Rathenau ein Dorn im Auge.
Der Minister hat bereits zahlreiche Drohbriefe erhalten, seine Freunde warnen ihn vor einem drohenden Anschlag. Widerwillig akzeptiert Rathenau den ihm angebotenen Polizeischutz. Der ehemalige Regierungschef Philipp Scheidemann ist vor wenigen Tagen einem Attentatsversuch knapp entkommen, aber diese Tat hat kaum Aufsehen erregt. Immerhin scheinen Polizei und Justiz einen wichtigen Sieg über die Rechtsterroristen errungen zu haben, als ihnen die Aufdeckung der „Organisation Consul“ gelungen ist.
Weltkriegsoffiziere gegen die Republik
Erwin Kern und Hermann Fischer stammen beide aus gutbürgerlichen Verhältnissen und waren während des Ersten Weltkriegs Offiziere, danach Freikorps-Mitglieder. Ins zivile Leben haben sie nicht zurückgefunden. Beide studieren eher halbherzig, sie gehören der Technischen Nothilfe und dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund an. Sie bekämpfen die Republik und ihre Protagonisten. Außerdem sind sie Mitglieder der Organisation Consul, die es offiziell nicht mehr gibt. Kern hat ein knappes Jahr zuvor erfolglos versucht, Kriegsverbrecher aus dem Gefängnis zu befreien. Ein zweiter Befreiungsversuch, den er gemeinsam mit Fischer im Januar 1922 unternimmt, ist erfolgreich.
Mitte Juni reisen die beiden jungen Männer nach Berlin, um Walther Rathenau zu töten. Am 16. Juni beziehen sie und Ernst von Salomon Zimmer in der Pension Scheer in Berlin-Mitte. Am 18. Juni stößt der Berliner Student Ernst Werner Techow zu der Gruppe. Von Salomon hat zwischenzeitlich ein Auto organisiert, das Techow aus Sachsen nach Berlin bringt. In Schwerin besorgen sie sich beim Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund eine Maschinenpistole.
Walther Rathenau wohnt in der Koenigsallee, einem Villenviertel im Berliner Grunewald. In der Nacht auf den 24. Juni hat er lange Gespräche mit dem Schwerindustriellen Hugo Stinnes geführt. Sein Arbeitstag beginnt an diesem Samstag deshalb später als gewöhnlich.
Am Freitagabend kehren Kern, Fischer und Techow aus Schwerin zurück. Sie übernachten in Berlin-Schmargendorf bei einem Mann, der ihnen seine Garage kostenlos überlässt und dessen Mitarbeiter noch in der Nacht beginnt, das Auto zu reparieren. Ernst Werner Techow setzt die Reparatur am frühen Samstagmorgen fort, da der Wagen noch nicht reibungslos läuft.
Kein Polizeischutz
Samstag, 24. Juni: Außenminister Rathenau verlässt am späten Vormittag sein Wohnhaus in der Koenigsallee. Auf Polizeischutz hat er auch an diesem Tag verzichtet. Seine Mitarbeiter warten bereits im Amt auf ihn. Es ist etwa 10:45 Uhr, als der Minister auf dem Rücksitz des offenen Wagens Platz nimmt.
Gegen 10:30 Uhr macht sich Ernst Werner Techow mit dem Auto auf den Weg Richtung Halensee, am Roseneck steigen Kern und Fischer zu. Gemeinsam fahren sie in die Nähe der Rathenau-Villa. Kern steigt kurz aus, um sich zu vergewissern, dass der Außenminister noch nicht ins Amt gefahren ist. Die Männer warten nun in einer Seitenstraße der Koenigsallee auf den Minister. 10:45 Uhr.
Der Weg zum Auswärtigen Amt führt den Minister über die Koenigsallee und den Kurfürstendamm nach Berlin-Mitte. Im Fonds des Cabrios raucht Walther Rathenau eine Zigarre. Ebenso wenig wie sein Chauffeur bemerkt er, dass aus einer Seitenstraße ein Auto in die Koenigsallee einbiegt und dem Ministerwagen folgt.
Attentat, dann Zoo und Ruderpartie
Am Steuer des Verfolgerwagens sitzt Ernst Werner Techow. In einer scharfen Rechtskurve beschleunigt er und setzt zu einem Überholmanöver an. Als die Wagen auf gleicher Höhe sind, feuert Erwin Kern mit der Maschinenpistole auf Rathenau, Hermann Fischer schleudert eine Handgranate in den Ministerwagen. Techow fährt nach der Tat mit hohem Tempo davon.
Walther Rathenau sinkt zur Seite und liegt auf dem Rücksitz. Eine Krankenschwester sieht dies, eilt herbei, löscht das durch die Handgranate verursachte Feuer im Bodenraum des Autos und überzeugt den Chauffeur, zum Wohnhaus des Ministers zurückzukehren. Als sie dort gegen elf Uhr ankommen, ist Rathenau bereits tot. Die Obduktion wird ergeben, dass ihn fünf der neun abgefeuerten Schüsse getroffen haben.
Die Attentäter fahren weiter in Richtung Innenstadt, dann steigen Kern und Fischer aus dem Auto, die Waffe haben sie zuvor ins Gebüsch geworfen. Techow fährt den Wagen zurück in die Schmargendorfer Garage. Die Mörder bummeln nach dem Attentat durch den Berliner Zoo, zwei Tage später unternehmen sie eine Ruderpartie auf dem Wannsee.
Entsetzen über das Attentat
Die Öffentlichkeit in Berlin und anderen Städten ist entsetzt über das neuerliche Attentat. In vielen Städten demonstrieren Hunderttausende Menschen gegen den rechten Terror und für die Republik – die Empörung über den Mord reicht bis weit ins bürgerliche Lager. An den Trauerkundgebungen für den erschossenen Minister am 27. Juni nehmen allein in Berlin eine Million Menschen teil. Am selben Tag erhält die Berliner Polizei die ersten Hinweise auf die Mörder: Ein Bekannter der jungen Männer hat mit der Tat geprahlt und die Täter benannt.
Drei Tage nach dem Mord verlassen Kern und Fischer Berlin. Techow hat sich bereits nach Thüringen abgesetzt. Am 28. Juni wird der erste Fahndungsaufruf der Kriminalpolizei veröffentlicht: Die drei Täter werden darin genau beschrieben, Fahndungsfotos veröffentlicht. Nur einen Tag später kann Gerd Werner Techow, der Fahrer des Tatfahrzeugs, festgenommen werden: Der Onkel, bei dem er sich verstecken wollte, liefert ihn aus.
Am 8. Juli gibt es einen konkreten Hinweis auf den Aufenthaltsort der beiden noch flüchtigen Attentäter. Nach einer abenteuerlichen Flucht und Fahndung werden Kern und Fischer am 17. Juli von Polizeibeamten gestellt. Erwin Kern wird in einem Feuergefecht erschossen, Hermann Fischer tötet sich selbst.
Ernst Werner Techow wird im Oktober 1922 zu 15 Jahren Haft verurteilt. Elf weitere Mitverschwörer werden ebenfalls zu teilweise langjährigen Haftstrafen verurteilt.