"Auch Bücher haben ihre Schicksale"

Von Irene Meichsner |
Helmuth Plessner war ein Denker, der sich nicht in Schablonen einordnen ließ. Der Philosoph, Biologe, Soziologe und Politologe nahm sich die Freiheit, über den Tellerrand hinauszuschauen. Angesteckt von der philosophischen Aufbruchstimmung in den 20er Jahren verkehrte er im Soziologenkreis um Max Weber, pendelte in der Philosophie zwischen Edmund Husserl und Max Scheler, um dann schließlich seiner eigenen Wege zu gehen.
" Plessner hätte wohl die These vertreten, die ungefähr so lauten müsste: Wichtiger als die Rettung und Sicherung des engen Berufsbildes der Philosophen ist die Kunst der Interdisziplinarität. Es ist viel wichtiger, dass wir Leute haben, die nicht sagen: Hier habe ich meine Zuständigkeit und überall sonst nicht, sondern die gewissermaßen – Leute, die kein festes Jagdrevier haben, sondern so was wie eine allgemeine Wilderer-Lizenz. Und die würde ich jedenfalls immer noch Philosophen nennen oder erst recht Philosophen nennen. "

Odo Marquard ist selber Philosoph und hat die "Gesammelten Werke" mit herausgegeben, mit denen Helmuth Plessner im hohen Alter noch eine Art Wiedergutmachung widerfuhr. Denn um eine nachhaltige Wirkung hatten ihn die Wirren seines Lebens letztlich betrogen.

Das Hauptwerk "Die Stufen des Organischen und der Mensch", 1928 erschienen, durfte seit 1933 nicht mehr vertrieben werden. Es wurde erst nach seiner Emeritierung neu aufgelegt: für Plessner eine neue Wissenschaft - eine philosophische "Anthropologie", die den Menschen in einem umfassenden Sinn als ein Wesen betrachtet mit der Freiheit, sein Leben selber zu gestalten - anders als die Tiere, die in ihrem Verhaltensrepertoire gefangen bleiben.

" Sie können die Lösung einer Schwierigkeit zweifellos unter dem Druck der Situation finden. Nur löst sich, wenn ich so sagen darf, der Fund vom Finden nicht ab. Der Schimpanse kann einen Stock ganz zweckgerecht gebrauchen. Aber er wird ihn nicht zu weiterer Disposition in die Ecke stellen. "

Plessner hatte selber Zoologie studiert, sogar empirische Forschungen zum Beispiel an Seesternen betrieben; die Nähe zur Erfahrung prägte auch seine Anthropologie.

" Es ist eine philosophische Disziplin, zweifellos, aber sie hat nichts mit den großen Problemen der Philosophie zu tun. Sie kann nur an die Schwelle hinführen, wo die Probleme der Philosophie exponiert werden. Anthropologie exponiert nur Probleme der Philosophie, aber löst sie nicht. "

Plessner, 1892 in Wiesbaden geboren, machte sich Gedanken über den abendländischen Kulturbegriff, die Rolle des Schauspielers, den Begriff des Lebendigen, das Weinen, den Witz, das Lächeln und Lachen. Und darüber, was es für den Menschen - als einer immer auch "animalen Spezies" - bedeutet, der Sprache mächtig zu sein.

" Natürlich ist damit eine Entlastung verbunden, denn wer sprechen kann, braucht den Körper weniger anzustrengen, um Kontakt mit der Außenwelt zu bekommen. Nur steht der Einsparung von physischem Kraftaufwand die Mehrbelastung durch das sprachliche Medium gegenüber. Und dem unvergleichlichen Machtgewinn, den es dem Menschen bringt, der Verlust an instinktiver Sicherheit und Geborgenheit in einer angeborenen Umwelt. "

In Köln wurde Plessner 1926 Philosophieprofessor; doch dann kam der Bruch. Von den Nazis wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen, ging er nach Holland ins Exil. Eine Professur in Groningen, die ihm Freunde vermittelt hatten, verlor er, nachdem die deutschen Truppen in die Niederlande einmarschiert waren. Letztlich sei es im ganzen Unglück aber auch ein "Glücksfall" gewesen, dass Plessner gerade nach Holland gekommen sei, meinte Christian Graf von Krockow, einer seiner Schüler:

" Das war sozusagen für die erkenntnistheoretische Situation viel fruchtbarer, als wenn er, wie so viele, nach Amerika geraten wäre, weil es nahe dran ist an Deutschland. Holland ist eine Nation geworden und hat dann gleich seine große goldene Zeit erlebt, wie Plessner sagt - in der Zeit, als sich das Bürgertum in seinem Selbstverständnis, seinem Selbstbewusstsein formiert. "

Mit einem historischen Psychogramm deutscher Bürgerlichkeit erregte Plessner, seit 1951 Professor in Göttingen, dann endlich doch noch Aufmerksamkeit. Sein Buch über "Die verspätete Nation", 1935 in der Schweiz erschienen und 1959 in Deutschland neu aufgelegt, erklärte den nationalsozialistischen Ungeist unter anderem aus einer versäumten Entfaltung nationaler Identität. Der Titel ist so geläufig geworden, dass wohl viele gar nicht mehr wissen, von wem er eigentlich stammt. Plessner konnte mit so etwas leben.

"Habent sua fata libelli" – "Auch Bücher haben ihre Schicksale",
sagte er gern. Auch das ist diesem Grenzgänger, der am 12. Juni 1985 im Alter von 92 Jahren in Göttingen starb, hoch anzurechnen: dass er nie in Selbstmitleid verfiel - trotz der vielen Steine, die ihm in den Weg gelegt wurden.