Auch die Anstreichungen sind wichtig

Von Martin Koch |
Karl Barth war einer der wichtigsten reformierten Theologen aus der Schweiz. Der vor 125 Jahren in Basel geborene Sohn eines Theologieprofessors meldete sich aber auch politisch zu Wort. Unter den Nazis verlor er seine Professur in Bonn und kehrte nach Basel zurück, wo er 1968 starb.
Unscheinbar sieht es aus, das kleine beige gestrichene Reihenhaus mit den typisch schweizerischen Fensterläden im idyllischen Basler Stadtteil Bruderholz. Doch hinter der dunkelbraunen Haustür öffnet sich eine Schatzkammer der Theologiegeschichte: 14.000 Bücher und geschätzte hunderttausend Dokumente hatte Karl Barth hier zusammengesammelt. Im klimatisierten Keller zeigt der Hausherr und Leiter des Archivs, Hans-Anton Drewes, das Herzstück der Sammlung: ein professionelles Ablagesystem mit rollenden Bücherregalen, das 1997 eingebaut wurde.

"Das war hier die Garage, Karl Barth hat nie ein Auto besessen und hat hier in der Garage ein Magazin gehabt, in dem er die Bücher, die anderswo keinen Platz hatten, und in dem er die Briefe, die an ihn geschrieben worden waren, aufbewahrt hat."

Der reformierte Wissenschaftler wurde mit seiner fast zehntausend Seiten umfassenden kirchlichen Dogmatik, mit seinem wegweisenden Kommentar zum Römerbrief und der Barmer Theologischen Erklärung, die er fast komplett allein verfasste, zu einem der berühmtesten Theologen des 20. Jahrhunderts - aber der Mensch Karl Barth zeigt sich am besten in den Tausenden von Briefen, die er geschrieben hat:

"In keiner anderen Textform ist Karl Barth als dieser ungemein frische, ungemein lebendige Mann besser wahrzunehmen als in seinen Briefen. Es gibt keinen Routinebrief unter diesen 12.000 Briefen, die wir im Archiv von ihm haben."

Jedes Regal, jede Vitrine im Haus ist bis zum Rand gefüllt mit Büchern. Von Karl Barth, über Karl Barth, von ihm gelesene. Sein Arbeitszimmer sieht noch genauso aus wie zu seinen Lebzeiten: eine Sitzgruppe, ein aufgeräumter Schreibtisch - und direkt nebenan das Arbeitszimmer von Charlotte von Kirschbaum. Seit 1930 arbeitete sie eng mit ihm zusammen, war seine Vertraute, wohnte bei ihm und seiner Frau Nelly mit im Haus. Es war eine stabile, aber schwierige Dreierbeziehung.

Eine Scheidung kam für Nelly Barth nie infrage und so lebten sie auch hier in Barths letztem Wohnhaus von 1955 an zusammen. 1966, zwei Jahre vor Barths Tod, musste Charlotte von Kirschbaum in ein Sanatorium umziehen. Ihr Zimmer ist heute das Büro des Archivleiters, das Badezimmer wurde zum Kopierraum - doch die meisten anderen Räume sind noch im damaligen Zustand erhalten.

Was die Archivare vor eine besondere Herausforderung stellte, war die überraschende Erkenntnis, dass der große Systematiker Karl Barth bei der Ordnung seiner Bibliothek eher pragmatisch vorging, erzählt Hans-Anton Drewes:

"Auf jeden Fall war er in diesen praktischen Dingen ein ganz unsystematischer Mensch, der die Dinge so aufgestellt hat und so geordnet hat, dass sie möglichst schnell greifbar waren, aber der keinen Ehrgeiz darein gesetzt hat, jetzt ganz strenge Abgrenzungen und ganz genaue Ordnungen in diesen Bereichen zu schaffen."

Mittlerweile sind alle 14.000 Bücher inventarisiert, die sich im Haus befinden - und alle Notizen, Anstreichungen und eingelegten Zettel erfasst, die Barth bei der Lektüre oder der wissenschaftlichen Arbeit mit den Werken hinzugefügt hat.

"Das sind Angaben, die für jemanden, der sich damit beschäftigt, welche Einflüsse hat Barth verarbeitet von Philosophen, Theologen, natürlich von großem Nutzen, wenn er sieht, Barth hat diese Bücher, sagen wir von Martin Heidegger, besessen und hat sich Anstreichungen gemacht, die belegen, er hat sich wirklich mit diesem Buch beschäftigt."

60 bis 70 Wissenschaftler kommen pro Jahr, um für ihre Barth-Studien an diesem historischen Ort zu recherchieren. Sie lassen sich inspirieren von den Bildern, die schon Barth an den Wänden sah, sitzen in seinem Studierzimmer, lesen die Bücher, die auch er durchgearbeitet hat.

Die meisten der Besucher kommen aus dem englischsprachigen Raum, doch auch in Korea, Japan oder den Niederlanden interessieren sich noch immer viele für Karl Barth. So wie Gerard den Hertog aus Apeldoorn. Der Theologieprofessor, der unter anderem über den deutschen Theologen Hans Iwand geforscht hat, machte dann auch gleich bei seinem ersten Besuch eine für ihn beglückende Entdeckung.

"Als ich über Iwand schrieb, da war mir ein Zitat, das Iwand nicht gesperrt hatte, das war mir ganz wichtig - und dann sehe ich, dass Barth, in margine, ganz wenig Anstreichungen macht, aber er hat das unterstrichen, das Zitat, und er hat also dasselbe Zitat wichtig gefunden, was ich auch ganz wichtig fand."

Den Hertogs Sohn Niels ist schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate in Basel. Der Pastor aus Surhuisterveen in Friesland will mehr über die Kontakte Karl Barths während des Dritten Reiches in die Niederlande herausfinden. Eine Frage, die ihn schon länger umtreibt: Warum haben niederländische Studenten Karl Barth 1939 so detailliert nach der Zulässigkeit der Kindertaufe gefragt?

"Im Juni habe ich Seminarprotokolle gefunden, von denen auch Herr Drewes nicht wusste, dass Barth im Sommer '38 hier gearbeitet hat mit den Studenten und dabei sind auch holländische Studenten gewesen und dort hat man herausgefunden, nein, wir sollten das eigentlich anders machen in der Kirche."

Hans-Anton Drewes leitet das Karl-Barth-Archiv seit 14 Jahren. Der 65-Jährige freut sich über Erfolgserlebnisse seiner Besucher und diskutiert gerne mit ihnen über theologische Fragen - wenn Zeit dafür bleibt:

"Ich darf das auch nicht zu sehr tun, denn die wichtigste Aufgabe, die hier im Archiv zu leisten ist, ist eben die Fortsetzung der Gesamtausgabe. Und jedes Jahr einen Band von ungefähr 500 Seiten herauszubringen in der Qualität, die wir voraussetzen, das heißt mit den Erklärungen, die die Texte wirklich verständlich machen für den Leser von heute, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, neben der ich gar nicht so viel Besucher im Haus haben kann."

Jeden Bezug in Barths Briefen, Büchern und Aufsätzen auf historische Ereignisse oder Veröffentlichungen überprüft der Archivar und erklärt im Begleittext die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge. Eine Sisyphusarbeit, deren Ende noch lange nicht absehbar ist. Trotzdem hat Hans-Anton Drewes die Beschäftigung mit Barth, dessen letztes Kolloquium über Friedrich Schleiermacher er 1968 noch als Student miterlebt hat, niemals als langweilig oder ermüdend empfunden - im Gegenteil:

"Vor allen Dingen die Begegnung mit diesem Menschen, der diesen Humor mitbekommen hatte, der ihn auch in wirklicher Bedrängnis froh und gewiss sein ließ. Dieser Humor ist etwas, was einem die tägliche Arbeit, die uns aufgegeben ist, die innere und die äußere, bestehen lässt."

Ein bedeutender Theologe, fest im Glauben, den Menschen zugewandt - hatte der große Karl Barth überhaupt Schwächen?

"Ganz bestimmt. Also ... zum Beispiel, daran denkt der Archivar zuerst, seine Handschrift ist eine große Schwäche. Denn sie ist in vielen Stücken so schwer zu lesen, dass man manches nur lesen kann, wenn man weiß, was da steht."

Im kommenden Jahr geht Hans-Anton Drewes in Pension. Seinem Nachfolger empfiehlt er:

"Dass man sich nicht entmutigen lässt von den zwanzig-, dreißigtausend noch nicht archivierten Dokumenten, sondern nur den nächsten Teil des Weges in den Blick nimmt und sagt, das sollten wir morgen, das in der nächsten Woche und das im nächsten Monat geschafft haben und dann hoffen, dass das gelingt."
Karl-Barth-Archiv in Basel
Karl-Barth-Archiv in Basel© Karl-Barth-Archiv
Das Studierzimmer von Karl Barth
Das Studierzimmer von Karl Barth© Karl-Barth-Archiv
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