Auch ein Zauberberg

Von Thomas Gerlach |
Wie ein Riegel trennt der Semmering Niederösterreich und die Steiermark voneinander. Auf dem fast 1000 Meter hohen Pass liegt das gleichnamige 600-Seelen-Dorf. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts beliebte Sommerfrische der damaligen feinen Wiener Gesellschaft, die mit der Semmering-Bahn kam. Heute wirbt der Ort vor allem durch den Wintersport um Gäste.
Mürzzuschlag liegt in der Steiermark auf der Südseite vom Pass und von hier geht es relativ sanft die Hänge hinauf zum Semmering. Auf der anderen, der Nordseite, aber gilt das schiere Gegenteil. Da erhebt sich der Berg wie eine Wand; felsige Steilhänge überragen enge Schluchten – gekrönt wird alles von hellen Almwiesen und dunklen Wäldern. Die Bergwelt ist so majestätisch und die Aussicht so atemberaubend, dass sie auf einem Geldschein verewigt wurde – bis heute spricht man vom "20 Schilling-Blick". Die Note zeigt nämlich unter anderem das Viadukt über die "Kalte Rinne", eine der Schluchten der Region. Im Semmeringer Bahnhof gibt es ein Touristenzentrum, das viel über die erste Hochgebirgsbahn der Welt verrät. Dort lassen sich einige Lithografien aus der Bauzeit bestaunen.

Auf steilen engen Wegen führt Raimund Bichler hinunter in die Kalte Rinne. Das Viadukt ist das größte Bauwerk der Semmering-Bahn:

47 Meter hoch, 184 Meter lang stützt es sich schwer auf insgesamt 15 Bögen in zwei übereinanderliegenden Ebenen.

Damit nicht genug ist der massive Bau im Halbrund errichtet worden:
Die Ingenieurleistung Carl Ritter von Ghegas kam einem Geniestreich gleich – vielfach musste er beim Bauen Neuland beschreiten. Auch gab es noch gar keine Lokomotiven für eine derart steile kurvenreiche Hochgebirgsbahn – die mussten noch erfunden werden. Ghega baute aber nicht nur die zu seiner Zeit kühnste Eisenbahnbergstrecke der Welt, ...

Zweigleisig über 41 Kilometer mit 16 teils zweistöckigen Viadukten, mit 16 Tunneln und mehreren Galerien sowie mit 100 gemauerten Bogenbrücken und das Ganze ohne Einsatz von Eisen und Stahl ...

Ghega war offenbar auch ein sensibler Künstler. Seine Streckenwahl passt sich harmonisch in die Landschaft ein; seine Bauten werden nicht als störend empfunden, sondern im Gegenteil als zusätzlicher Blickfang in einer spektakulären Umgebung.

Da konnte es nicht ausbleiben, dass die Semmering-Bahn Weltkulturerbe wurde – 1998 war das. Damit ist ihr Bestand gesichert, was für die Gemeinde Semmering einer Lebensversicherung gleichkommt, lockt die Bahn doch Fremde an. Die Einheimischen lieben jedenfalls ihre Eisenbahn, auch wenn bisweilen Wehmut mitschwingt.

"Ich könnte mit dem Auto fahren, aber ich nehme lieber die Bahn ..."

Die damals neue Südbahn von Wien nach wahlweise Triest, Venedig und Rijeka war eine Hauptlebensader der Monarchie. Sie erfüllte strategische wie auch wirtschaftliche Interessen, band sie doch die erzreiche Steiermark eng an die Metropolregion – Rudi Habermann im Südbahn-Museum erzählt:

"Man muss sich vorstellen, an jedem Wasserlauf waren überall Eisenbergwerke, kleine Hütten, Hammerbergwerke. Die haben damals sehr profitiert von der Erschließung durch die Eisenbahn.

Semmering war ja eigentlich nur ein Pass auf dem Weg Richtung Süden. Erst mit der Semmering-Bahn ist der Semmering in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt, weil es der höchste Punkt auf Erden gewesen ist, der mit einer Bahn erreicht werden konnte. In weiterer Folge entstand daraus eine Nachfrage.
Die Wiener Gesellschaft hat gesagt, jetzt können wir innerhalb von drei Stunden in 100 Meter Höhe gelangen. Die Bahngesellschaft hat dann ein Hotel errichtet und der erste Küchenchef dieses Hotels war ein legendärer Wiener Koch namens Panhans. Der hat dann wenig später sein Hotel eröffnet, zuerst als kleine Pension und dann jedes zweite, dritte Jahr ein kleines Stück dazugebaut", ...

... plaudert Kommerzialrat Eduard Aberham aus dem Nähkästchen – er ist heute der Direktor vom Panhans-Hotel. Das ist ein lang gestrecktes, imponierendes Gebäude ...

"Seine künstliche Architektur, die so nicht wirklich in die Landschaft passt. Mit diesem Grand Hotel Trakt wurde 1910 begonnen und zu diesem Zeitpunkt hat der Semmering mit St. Moritz um die Vormachtstellung als europäischer Wintersportort gebuhlt. St. Moritz war das westliche Europa, die Franzosen, die Engländer und die Deutschen. Hier war das östliche Mitteleuropa zu Hause. Es war k&k Monarchie. Österreich-Ungarn ging bis tief in die heutige Ukraine hinein. Wir hatten die Großgrundbesitzer aus Österreich, der Walachei, Ostpolens, der Westukraine - bis St. Petersburg ging unser Einzugsbereich. Diese große Zeit des Semmering endete mit dem 1. Weltkrieg."

Allerdings ist das erwähnte Südbahnhotel noch auffälliger. Mit seinem Turm und vielen Dächern, mit Erkern, Nischen, Bögen und Zinnen erinnert es an Neuschwanstein oder Disneyland. Um Fahrgäste zu gewinnen, muss die Südbahngesellschaft damals nämlich erst einmal für Unterkunft sorgen – und so finden sich ihre Hotels auf dem Semmering ebenso wie etwa in Opatija im heutigen Kroatien. Anlocken lassen sich Barone und Generaldirektoren, aber auch sensible Künstlernaturen. Oskar Kokoschka, Karl Kraus, Arthur Schnitzler, später Gerhart Hauptmann und Stefan Zweig finden hier Inspiration.

Alma Mahler-Werfel, die angeblich letzte "Femme fatale" Wiens, besitzt am Semmering ein Domizil und ihr Salon wird gerühmt für seine Geselligkeit.

Animieren lassen sich auch die Habsburger. Österreichs letzter Herrscher, Kaiser Karl I. kommt absichtlich auf den Semmering:
So beliebt wurde der Ort, dass neben Hotels und Pensionen auch Villen entstanden – ganz besondere und besonders auffällige Villen. Arthur Krausner vom Semmeringer Bauamt:

"Das ist der Baustil, dieser typische Bauernhaus Baustil. Die schon für das Großstadtpublikum mehr oder weniger adaptierte Form. Das ist kein Bauernhaus. Es gibt an die 20 Gebäude sicher, manche unter Denkmalschutz."

Karten spielend, so wird erzählt, hätten sich die Fabrikanten und Generaldirektoren ihre Bahnfahrt vertrieben, weshalb der Volksmund vom Tarockexpress sprach.

600 Einwohner hat Semmering heute, aber noch mehr als doppelt so viele Menschen haben hier einen Zweitwohnsitz. Oben an der Passhöhe beginnt der Skilift, enden die Pisten und die Rodelbahn. Viele Häuser, das alte Sanatorium und die meisten Villen schmiegen sich dagegen seitlich an jenen Hang, der nach Nordosten den Blick bis in die Pannonische Tiefebene ermöglicht. Die Hochstraße hier entlang ist mehr als die Verbindung diverser Punkte - sie ist eindeutig die populäre Flaniermeile. Hier traf man die Reichen und die Edlen und mit Glück die Kaiserin sogar; angeblich kamen sie, um gute Alpenluft zu schnuppern – hoch droben am Semmering, wie man sagte und die Werbung verklärte alles fantasievoll zum "Kurhaus der Natur".

Tatsächlich ging es nicht nur um die Bronchien; rauschende Feste wurden gefeiert am Zauberberg, wie der Semmering nun hieß. Es wurde musiziert, getanzt und gelacht. Die bessere Gesellschaft inszenierte sich selbst in den mit Luxus vollgestopften Hotels. Semmering war fast der gesellschaftliche Nabel der K-und-K-Welt. Beim Südbahnhotel wurde – wie exotisch – ein Golfplatz angelegt, bis heute der höchste in Österreich. 1899 kam es zum ersten Bergrennen mit stinkenden, lärmenden Autos. Im Jänner 1905 fanden im fernen Kitzbühel die allerersten Tiroler Meisterschaften im Skifahren statt und zur Verblüffung vieler siegte ein Josef Wallner aus – jawohl, aus Semmering.

So war der Semmering Mythos und Institution zugleich und eben nicht nur ein Pass auf dem Weg in den Süden. Nach dem Ende der Monarchie, als Österreich zusammengestutzt wurde, dauerte es lange, bis wieder gesellschaftliches Leben an den Zauberberg zurückkehrte:

Ganz am Ende kam sogar der 2. Weltkrieg auf den Semmering, der danach Teil der sowjetischen Besatzungszone wurde. Einmal im Dornröschenschlaf blieb die Passregion nach dem Abzug der Roten Armee lange in diesem Zustand.

Und heute? Jüngst erst, so verrät Bürgermeister Schröttner, profitierte die kleine Gemeinde von der großen globalen Krise. Das wiederum bringt dem Semmering womöglich einen zusätzlichen Vorteil – der Bestand der alten Häuser könnte konserviert werden.
Und wie fühlt man sich in einer Umgebung voll Tradition aus dem Erbe einer untergegangenen Epoche?

"Es ist ein Mythos. Es ist einfach - jedes Haus, jeder Stein schreibt eine Geschichte. Es waren Künstlergenerationen hier zu Hause, auch in der Gegenwart haben sich hier wieder Künstler angesiedelt. Es ist vielleicht die Atmosphäre, das Licht vielleicht, die Landschaft sicherlich. Abgesehen von den bildenden Künstler. Auch schreibende Künstler quartieren sich hier ein, für Tage, für Wochen, um hier ein Buch, eine Geschichte zu schreiben, sich hier inspirieren zu lasen."

Eine Belebung besonderer Art erfährt der Mythos Semmering jeden Sommer und zwar im solange schon geschlossenen, palastgleichen Südbahnhotel – im August öffnet es sich mit Burgschauspielern für Theaterfreunde:

"In einer einzigartigen Atmosphäre werden Schnitzler, Werfel, eben alle Autoren des beginnenden 20. Jahrhunderts aufgeführt. Man ist dann für Tage in eine andere Welt entrückt, in das beginnende 20. Jahrhundert. Man kleidet sich entsprechend. Jeans sind plötzlich verpönt. Das ist ganz unwillkürlich passiert und die alte Promenade der Hochstraße erlebt eine Wiedergeburt. Sehen und gesehen werden wird wieder wichtig. Für das intellektuelle Wien ist der Semmering das geblieben, was er immer war: ihr Erholungsgebiet."

Wer die Ohren spitzt, hört nicht nur wienerisch, sondern fremde Sprachen, auch wenn der nette Kellner aus Ungarn natürlich deutsch redet:

"Schöne Tag noch."

Am Semmering herrscht wie einst zu Kaisers Zeiten auf einmal wieder ein Vielvölker-Sprachgemisch. Den Hoteldirektor freut's:

"Erst in den 90er-Jahren mit der Öffnung der Grenzen erhielt der Semmering wieder sein Einzuggebiet zurück. Langsam kamen Ungarn, Slowaken, jetzt auch Rumänen und Ukrainer und Russen. Denn für sie ist es der erste Berg der Alpen. Nicht so wie für alle Westeuropäer, für die der Semmering der letzte Berg der Alpen ist."