Auch in der DDR waren die Küsse saftig
Für "Barbara" hat Christian Petzold in diesem Jahr den Silbernen Bären für die beste Regie erhalten. Darin führt er uns in die DDR des Jahres 1980. Es geht um Liebe, Verrat und die Frage: Wem kann ich noch vertrauen? Darüber sprechen wir mit dem Berliner Regisseur Christian Petzold.
Britta Bürger: Was war Ihr Ausgangspunkt, diesen historischen Film zu drehen, ihre Auseinandersetzung mit den existenziellen Konflikten in der DDR?
Christian Petzold: Also, ganz ursprünglich ist das eine Novelle von Hermann Broch gewesen, die ich in den 90ern gelesen habe und die Ende der 20er-Jahre in Deutschland spielt, im kommunistischen Untergrund. Eine kommunistische Untergrundkämpferin ist in einem Provinzkrankenhaus, tarnt sich dort und hat Angst, aufzufliegen, und verliebt sich dort in einen Arzt. Und die Liebe passt nicht in den Untergrund. Dachte immer, das wäre eine tolle Geschichte, weil, Novellen sind eigentlich Kinostoffe, Romane ja nicht. Ich gehe auch äußerst ungern in Romanverfilmungen.
Und dann habe ich mit Nina Hoss 2001 "Toter Mann" gedreht in Stuttgart und in Wittenberge, im Osten. Und das ist eine Stadt, die mich ziemlich beeindruckt hat. Und meine Eltern stammen aus der DDR und ich habe selber eigentlich, meine Wurzeln liegen irgendwie in der DDR, weil das Heimweh meiner Eltern zur DDR irgendwie sich auf uns Kinder übertragen hat. Und ’89, mit dem Mauerfall, war die DDR als Projektionsfläche für meine Eltern und für mich weg. Und das hat ein Loch gerissen und hat auch eine Leere hinterlassen. Und als ich da in Wittenberge bei den Dreharbeiten mit Nina war und wir stellten fest, alle Frauen sind weggegangen, Arbeitsplätze gab es nicht mehr, habe ich mich wieder begonnen mit dem Osten zu beschäftigen, richtig intensiv, seitdem, und dachte: Das ist ja alles nicht erzählt! Wir tun so, als ob die DDR mit Eins-zu-eins-Zwangsumtausch … Zwangsumtausch war es ja nicht, das war ja vorher … mit dem Umtausch eins zu eins erledigt wäre, dann gab es da noch, gibt es da noch auf Phoenix jede paar Jahre mal so Jubiläumssendungen, wo dann immer dieselben Leute oben auf der Mauer stehen und das war’s dann, und dann soll noch der dritte oder vierte Roman zur DDR geschrieben werden, aber es gibt keine Novellen.
Es gibt keine Kurzgeschichten, keine Kleingeschichten. Und das hat mich irgendwie gestört, muss ich sagen. Und dann habe ich diese "Barbara"-Geschichte, ist mir wieder in Erinnerung gekommen, weil ein Arzt aus Fürstenwalde, den ich kennengelernt hatte, mir erzählte, dass Ärzte, die einen Ausreiseantrag gestellt haben, nicht sehr lange in den Knast kamen, sondern immer wegen dem Ärztemangel in der DDR immer nur ein, zwei Monate, um dann zwangs- oder strafversetzt zu werden. Die Männer als Militärärzte und die Frauen in Provinzkrankenhäuser. Und da kam mir dieser "Barbara"-Stoff von Broch wieder in den Sinn.
Bürger: Sie haben in einem anderen Interview während der Dreharbeiten gesagt, die DDR sei in den meisten Filmen der vergangenen Jahre wie eine Karikatur nur ausgestellt worden. Was haben Sie dem entgegenzusetzen?
Petzold: Ja, einfach, wir haben das einfach ignoriert, so muss man das sagen. Wir haben uns frei gemacht von all diesen Bildern, von diesen furchtbaren Uniformen, den Honecker-Porträts, der "Aktuellen Kamera", der Menschen, die "neues deutschland" lesen, der furchtbaren Stasi-Menschen, die draußen rumlaufen und furchtbare Hornbrillen tragen und Kunstlederjacken. Ich habe mich eher so an Richard Burtons Darstellung in "Der Spion, der aus der Kälte kam" orientiert. Da tun wir nämlich immer so, als ob die DDR Nordkorea wäre und wir im Westen wären ein Freizeitbad oder irgendwie ein Fünf-Sterne-Hotel oder Club Méditerranée.
Aber eigentlich, in dem Film mit Richard Burton, kann man sehen, dass London noch viel trauriger ist. Und das hat mir irgendwie gefallen, dass die damals, ’63, ’64, als das gedreht worden ist nach dem John-Le-Carré-Roman, dass es eine andere Projektion von Osten und Westen gab. Die beiden Systeme bedingten einander. Und das hat mir gefallen. Und dann habe ich gesagt, ich möchte diesen ganzen Quatsch, den wir in den letzten 20 Jahren so sehen, eben die von mir beschriebenen Karikaturen, die möchte ich raushalten. In der DDR hatten die Bäume auch Farben und die Wiese war auch grün und die Küsse konnten auch saftig sein und wir müssen nicht nur über Sandmännchen und Goldbroiler reden.
Bürger: Die Welt, die Sie beschreiben in dem Film, ist eine einzige Zone der Unsicherheit. Die Ärztin Barbara ist hin- und hergerissen zwischen der Frage, wem sie vertrauen kann und wem sie misstrauen sollte, auf welche Kontakte sie eingehen darf und welche sie eher abwehren sollte. Und Nina Hoss spielt das mit der ihr eigenen Distanz, dieser ganz eigenen Körperspannung, den Augen, die beobachten und sich beobachtet fühlen, die nicht nur nach vorne, sondern gleichzeitig auch zur Seite und nach hinten zu schauen scheinen. Gibt es dafür auch Vorbilder in der Filmgeschichte?
Petzold: Ich glaube, die Filmgeschichte ist voller Menschen, die in Zwischenreiche geraten sind und ihrer Umgebung nicht mehr vertrauen können. Also, das fängt bei Orson Welles an und geht bis heute. Aber was mich viel mehr interessierte und was auch für Nina wichtig war, dass sie sich ja auch mit diesem Land nicht mehr einlassen will. Alle Menschen, die eine Entscheidung getroffen haben – zum Beispiel ganz banal, ich verkaufe hier dieses Haus meiner Eltern und gehe in eine Vier-Zimmer-Wohnung nach Berlin, Potsdamer Platz, und dann geht man noch die letzten zwei Wochen durch dieses Haus und denkt, das war ein Fehler, hier hängst so viel Geschichte drin, hier habe ich zu viel noch nicht zu Ende geträumt, Träume, hier ist irgendwas nicht zu Ende gebracht worden –, und dann kann man so reagieren, dass man melancholisch wird, oder man wird hart, man lässt diese Gefühle nicht an sich ran.
Und so war das für die Nina so, dass sie eigentlich durch die DDR, die sie verlassen wird, die nur noch ein Transitraum für sie ist, ein Durchgangsraum, dass sie durch diese DDR durchgeht mit dem Gefühl, ich will mich hier nicht mehr infizieren, ich will hier nichts riechen, ich will hier nichts fühlen, nichts soll mich berühren, ich möchte weder Hitze oder Kälter spüren, ich möchte im Grunde genommen so sein wie der eine Patient, der Junge, dessen Reflexe langsam abnehmen. Ich möchte im Grunde genommen nur noch meinen kalten Körper hier durchschieben. Und in dem Moment, wo sie diese Kältearbeit leistet, in diesem Moment trifft sie ihren westdeutschen Geliebten und der sagt zu ihr diesen entscheidenden, brutalen Satz: Du bist müde. Wenn du drüben bist bei mir, kannst du schlafen, so lange du willst, du musst nicht mehr arbeiten, ich verdiene genug für uns beide. – Und dieser Satz ist kälter als alles das, was sie im Osten erfahren hat.
Bürger: Nächster Alptraum.
Petzold: Ja. Also, den Alptraum, den kenne ich noch viel mehr als die DDR, ich bin in einer Reihenhaussiedlung groß geworden. Man kann sich nicht vorstellen, wie viele Frauen dort mit Quelle-Katalogen tagtäglich auf die AVON-Beraterin warteten.
Bürger: Sie haben mal gesagt, dass Sie sich und ihre Schauspieler vor Drehbeginn gemeinsam aufladen mit Literatur, mit gemeinsamem Filmegucken und so weiter. War das jetzt in der Vorbereitung auf diesen Film besonders wichtig?
Petzold: Das ist bei jedem Film so wichtig. Bei diesem Film habe ich Produktionsbedingungen geschaffen und geschafft bekommen seitens der Produktion, die waren so was von schön! Weil, ich glaube, wenn man einen historischen Film macht, muss man sich noch tiefer einfühlen in die Welt, die scheinbar vergangen ist. Und wir hatten schon zwei Monate vor Drehbeginn alle historischen Räume gebaut, mit Inneneinrichtung, mit allem Drum und Dran. Und dann habe ich mit den Schauspielern immer diese Proben in Berlin und sitzen wir und lesen nur einmal das Drehbuch und dann gucken wir uns Filme an. Wir haben uns Filme angeschaut von … "French Connection" haben wir uns zum Beispiel angeschaut von Friedkin, das hat überhaupt nichts mit der DDR 1980 oder so zu tun, noch nicht mal das Herausbringungsjahr ist identisch. Aber ich habe mir das angeschaut, um denen zu sagen: In diesem Film, bei "French Connection" sieht man, dass der Film niemals die Position der Täter einnimmt, sondern immer auf der Seite der Beobachteten ist, der Opfer ist.
Erst in dem Moment, wo der Sniper, der den Gene Hackman erschießen will, selber zum Opfer wird, in die Enge getrieben ist, wendet sich die Kamera ihm zu. Und so ähnlich müssen wir arbeiten. Ich werde euch also immer sagen, wo die Kamera steht, warum sie da steht, und nicht, weil ich hier so ein großer Transparenzmystiker bin, sondern weil das was mit unserer kollektiven Arbeit zu tun hat, Geschichte nachzuempfinden. Und so haben wir also Filme geschaut und dann sind wir in die Motive gefahren, haben eine solche Reise nach Kirchmöser gemacht und – das ist ein alter Kurort bei Brandenburg – und dann sind wir dort hingefahren und die sahen: Das Krankenhaus war fertig, die Privatwohnungen waren fertig, wir sind durch die Siedlungen gegangen, ich habe den Schauspielern, habe sie gebeten, schon ihre Kostüme anzuziehen, und dann habe ich sie fotografieren lassen dort.
Das waren so, ich sagte, wir machen jetzt eine August-Sander-Proträtreihe, ihr mit Kostüm in den Originalmotiven. Und dann hat es noch mal zwei Wochen gedauert, bis wir mit den Dreharbeiten begonnen haben, aber sie hatten einen Eindruck und haben das Drehbuch für sich selber und ihre Reflektion über ihre Figur noch mal ganz anders gemacht. Und das war die schönste Arbeit, die … Selbst wenn ich nur noch zehn Euro für einen Film bekomme, werde ich immer mir diese Zeit nehmen müssen.
Bürger: Warum heißt der Film eigentlich "Barbara", warum haben Sie sich gerade für diesen Namen entschieden?
Petzold: Ja, der Verleiher, der da hinten sitzt, der war, glaube ich, ganz lange dagegen. Und irgendwann mal habe ich gesagt, das wird irgendwann "Barbara" heißen, wie das immer so ist. Ich mag in letzter Zeit Filmtitel, die entweder so großartig sind, dass sie mir ein Rätsel aufgeben, eine Paradoxie sind, oder so schlicht sind wie ein Ortseingangsschild. Das mag ich gern. Ich mag gerne in einen Film gehen, der einfach nur heißt: "Emden". Das finde ich nur gut, ich war noch nie in Emden.
Aber ein Film, der so heißt, "Je später der Abend" oder so was, da habe ich schon Schwierigkeiten mit. Und ich mag einfach Namen. Wenn ein Film so eine Identität hat wie ein Name. Das hängt so ein bisschen damit zusammen, dass der Godard mal gesagt hat, im Kino hat man eine Identität, weil man ein Visa bekommt. In Frankreich ist es so, wenn ein Film ins Kino kommt, bekommt er ein sogenanntes Visa, also eine Visa-Nummer. Und dadurch hat er eine Identität. Und so ähnlich dachte ich, der Film hat durch den Namen Barbara dann auch eine Identität, einen Pass, eine Aufenthaltsberechtigung.
Bürger: Christian Petzold, herzlichen Dank fürs Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Unter Beobachtung
Christian Petzold: Also, ganz ursprünglich ist das eine Novelle von Hermann Broch gewesen, die ich in den 90ern gelesen habe und die Ende der 20er-Jahre in Deutschland spielt, im kommunistischen Untergrund. Eine kommunistische Untergrundkämpferin ist in einem Provinzkrankenhaus, tarnt sich dort und hat Angst, aufzufliegen, und verliebt sich dort in einen Arzt. Und die Liebe passt nicht in den Untergrund. Dachte immer, das wäre eine tolle Geschichte, weil, Novellen sind eigentlich Kinostoffe, Romane ja nicht. Ich gehe auch äußerst ungern in Romanverfilmungen.
Und dann habe ich mit Nina Hoss 2001 "Toter Mann" gedreht in Stuttgart und in Wittenberge, im Osten. Und das ist eine Stadt, die mich ziemlich beeindruckt hat. Und meine Eltern stammen aus der DDR und ich habe selber eigentlich, meine Wurzeln liegen irgendwie in der DDR, weil das Heimweh meiner Eltern zur DDR irgendwie sich auf uns Kinder übertragen hat. Und ’89, mit dem Mauerfall, war die DDR als Projektionsfläche für meine Eltern und für mich weg. Und das hat ein Loch gerissen und hat auch eine Leere hinterlassen. Und als ich da in Wittenberge bei den Dreharbeiten mit Nina war und wir stellten fest, alle Frauen sind weggegangen, Arbeitsplätze gab es nicht mehr, habe ich mich wieder begonnen mit dem Osten zu beschäftigen, richtig intensiv, seitdem, und dachte: Das ist ja alles nicht erzählt! Wir tun so, als ob die DDR mit Eins-zu-eins-Zwangsumtausch … Zwangsumtausch war es ja nicht, das war ja vorher … mit dem Umtausch eins zu eins erledigt wäre, dann gab es da noch, gibt es da noch auf Phoenix jede paar Jahre mal so Jubiläumssendungen, wo dann immer dieselben Leute oben auf der Mauer stehen und das war’s dann, und dann soll noch der dritte oder vierte Roman zur DDR geschrieben werden, aber es gibt keine Novellen.
Es gibt keine Kurzgeschichten, keine Kleingeschichten. Und das hat mich irgendwie gestört, muss ich sagen. Und dann habe ich diese "Barbara"-Geschichte, ist mir wieder in Erinnerung gekommen, weil ein Arzt aus Fürstenwalde, den ich kennengelernt hatte, mir erzählte, dass Ärzte, die einen Ausreiseantrag gestellt haben, nicht sehr lange in den Knast kamen, sondern immer wegen dem Ärztemangel in der DDR immer nur ein, zwei Monate, um dann zwangs- oder strafversetzt zu werden. Die Männer als Militärärzte und die Frauen in Provinzkrankenhäuser. Und da kam mir dieser "Barbara"-Stoff von Broch wieder in den Sinn.
Bürger: Sie haben in einem anderen Interview während der Dreharbeiten gesagt, die DDR sei in den meisten Filmen der vergangenen Jahre wie eine Karikatur nur ausgestellt worden. Was haben Sie dem entgegenzusetzen?
Petzold: Ja, einfach, wir haben das einfach ignoriert, so muss man das sagen. Wir haben uns frei gemacht von all diesen Bildern, von diesen furchtbaren Uniformen, den Honecker-Porträts, der "Aktuellen Kamera", der Menschen, die "neues deutschland" lesen, der furchtbaren Stasi-Menschen, die draußen rumlaufen und furchtbare Hornbrillen tragen und Kunstlederjacken. Ich habe mich eher so an Richard Burtons Darstellung in "Der Spion, der aus der Kälte kam" orientiert. Da tun wir nämlich immer so, als ob die DDR Nordkorea wäre und wir im Westen wären ein Freizeitbad oder irgendwie ein Fünf-Sterne-Hotel oder Club Méditerranée.
Aber eigentlich, in dem Film mit Richard Burton, kann man sehen, dass London noch viel trauriger ist. Und das hat mir irgendwie gefallen, dass die damals, ’63, ’64, als das gedreht worden ist nach dem John-Le-Carré-Roman, dass es eine andere Projektion von Osten und Westen gab. Die beiden Systeme bedingten einander. Und das hat mir gefallen. Und dann habe ich gesagt, ich möchte diesen ganzen Quatsch, den wir in den letzten 20 Jahren so sehen, eben die von mir beschriebenen Karikaturen, die möchte ich raushalten. In der DDR hatten die Bäume auch Farben und die Wiese war auch grün und die Küsse konnten auch saftig sein und wir müssen nicht nur über Sandmännchen und Goldbroiler reden.
Bürger: Die Welt, die Sie beschreiben in dem Film, ist eine einzige Zone der Unsicherheit. Die Ärztin Barbara ist hin- und hergerissen zwischen der Frage, wem sie vertrauen kann und wem sie misstrauen sollte, auf welche Kontakte sie eingehen darf und welche sie eher abwehren sollte. Und Nina Hoss spielt das mit der ihr eigenen Distanz, dieser ganz eigenen Körperspannung, den Augen, die beobachten und sich beobachtet fühlen, die nicht nur nach vorne, sondern gleichzeitig auch zur Seite und nach hinten zu schauen scheinen. Gibt es dafür auch Vorbilder in der Filmgeschichte?
Petzold: Ich glaube, die Filmgeschichte ist voller Menschen, die in Zwischenreiche geraten sind und ihrer Umgebung nicht mehr vertrauen können. Also, das fängt bei Orson Welles an und geht bis heute. Aber was mich viel mehr interessierte und was auch für Nina wichtig war, dass sie sich ja auch mit diesem Land nicht mehr einlassen will. Alle Menschen, die eine Entscheidung getroffen haben – zum Beispiel ganz banal, ich verkaufe hier dieses Haus meiner Eltern und gehe in eine Vier-Zimmer-Wohnung nach Berlin, Potsdamer Platz, und dann geht man noch die letzten zwei Wochen durch dieses Haus und denkt, das war ein Fehler, hier hängst so viel Geschichte drin, hier habe ich zu viel noch nicht zu Ende geträumt, Träume, hier ist irgendwas nicht zu Ende gebracht worden –, und dann kann man so reagieren, dass man melancholisch wird, oder man wird hart, man lässt diese Gefühle nicht an sich ran.
Und so war das für die Nina so, dass sie eigentlich durch die DDR, die sie verlassen wird, die nur noch ein Transitraum für sie ist, ein Durchgangsraum, dass sie durch diese DDR durchgeht mit dem Gefühl, ich will mich hier nicht mehr infizieren, ich will hier nichts riechen, ich will hier nichts fühlen, nichts soll mich berühren, ich möchte weder Hitze oder Kälter spüren, ich möchte im Grunde genommen so sein wie der eine Patient, der Junge, dessen Reflexe langsam abnehmen. Ich möchte im Grunde genommen nur noch meinen kalten Körper hier durchschieben. Und in dem Moment, wo sie diese Kältearbeit leistet, in diesem Moment trifft sie ihren westdeutschen Geliebten und der sagt zu ihr diesen entscheidenden, brutalen Satz: Du bist müde. Wenn du drüben bist bei mir, kannst du schlafen, so lange du willst, du musst nicht mehr arbeiten, ich verdiene genug für uns beide. – Und dieser Satz ist kälter als alles das, was sie im Osten erfahren hat.
Bürger: Nächster Alptraum.
Petzold: Ja. Also, den Alptraum, den kenne ich noch viel mehr als die DDR, ich bin in einer Reihenhaussiedlung groß geworden. Man kann sich nicht vorstellen, wie viele Frauen dort mit Quelle-Katalogen tagtäglich auf die AVON-Beraterin warteten.
Bürger: Sie haben mal gesagt, dass Sie sich und ihre Schauspieler vor Drehbeginn gemeinsam aufladen mit Literatur, mit gemeinsamem Filmegucken und so weiter. War das jetzt in der Vorbereitung auf diesen Film besonders wichtig?
Petzold: Das ist bei jedem Film so wichtig. Bei diesem Film habe ich Produktionsbedingungen geschaffen und geschafft bekommen seitens der Produktion, die waren so was von schön! Weil, ich glaube, wenn man einen historischen Film macht, muss man sich noch tiefer einfühlen in die Welt, die scheinbar vergangen ist. Und wir hatten schon zwei Monate vor Drehbeginn alle historischen Räume gebaut, mit Inneneinrichtung, mit allem Drum und Dran. Und dann habe ich mit den Schauspielern immer diese Proben in Berlin und sitzen wir und lesen nur einmal das Drehbuch und dann gucken wir uns Filme an. Wir haben uns Filme angeschaut von … "French Connection" haben wir uns zum Beispiel angeschaut von Friedkin, das hat überhaupt nichts mit der DDR 1980 oder so zu tun, noch nicht mal das Herausbringungsjahr ist identisch. Aber ich habe mir das angeschaut, um denen zu sagen: In diesem Film, bei "French Connection" sieht man, dass der Film niemals die Position der Täter einnimmt, sondern immer auf der Seite der Beobachteten ist, der Opfer ist.
Erst in dem Moment, wo der Sniper, der den Gene Hackman erschießen will, selber zum Opfer wird, in die Enge getrieben ist, wendet sich die Kamera ihm zu. Und so ähnlich müssen wir arbeiten. Ich werde euch also immer sagen, wo die Kamera steht, warum sie da steht, und nicht, weil ich hier so ein großer Transparenzmystiker bin, sondern weil das was mit unserer kollektiven Arbeit zu tun hat, Geschichte nachzuempfinden. Und so haben wir also Filme geschaut und dann sind wir in die Motive gefahren, haben eine solche Reise nach Kirchmöser gemacht und – das ist ein alter Kurort bei Brandenburg – und dann sind wir dort hingefahren und die sahen: Das Krankenhaus war fertig, die Privatwohnungen waren fertig, wir sind durch die Siedlungen gegangen, ich habe den Schauspielern, habe sie gebeten, schon ihre Kostüme anzuziehen, und dann habe ich sie fotografieren lassen dort.
Das waren so, ich sagte, wir machen jetzt eine August-Sander-Proträtreihe, ihr mit Kostüm in den Originalmotiven. Und dann hat es noch mal zwei Wochen gedauert, bis wir mit den Dreharbeiten begonnen haben, aber sie hatten einen Eindruck und haben das Drehbuch für sich selber und ihre Reflektion über ihre Figur noch mal ganz anders gemacht. Und das war die schönste Arbeit, die … Selbst wenn ich nur noch zehn Euro für einen Film bekomme, werde ich immer mir diese Zeit nehmen müssen.
Bürger: Warum heißt der Film eigentlich "Barbara", warum haben Sie sich gerade für diesen Namen entschieden?
Petzold: Ja, der Verleiher, der da hinten sitzt, der war, glaube ich, ganz lange dagegen. Und irgendwann mal habe ich gesagt, das wird irgendwann "Barbara" heißen, wie das immer so ist. Ich mag in letzter Zeit Filmtitel, die entweder so großartig sind, dass sie mir ein Rätsel aufgeben, eine Paradoxie sind, oder so schlicht sind wie ein Ortseingangsschild. Das mag ich gern. Ich mag gerne in einen Film gehen, der einfach nur heißt: "Emden". Das finde ich nur gut, ich war noch nie in Emden.
Aber ein Film, der so heißt, "Je später der Abend" oder so was, da habe ich schon Schwierigkeiten mit. Und ich mag einfach Namen. Wenn ein Film so eine Identität hat wie ein Name. Das hängt so ein bisschen damit zusammen, dass der Godard mal gesagt hat, im Kino hat man eine Identität, weil man ein Visa bekommt. In Frankreich ist es so, wenn ein Film ins Kino kommt, bekommt er ein sogenanntes Visa, also eine Visa-Nummer. Und dadurch hat er eine Identität. Und so ähnlich dachte ich, der Film hat durch den Namen Barbara dann auch eine Identität, einen Pass, eine Aufenthaltsberechtigung.
Bürger: Christian Petzold, herzlichen Dank fürs Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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