Autorin: Peggy Fiebig
Sprecherinnen: Katharina Pütter und Birgit Dölling
Regie: Roman Neumann
Technik: Hermann Leppich
Redaktion: Carsten Burtke
Wenn Strafverfahren wieder aufgerollt werden
28:50 Minuten
Fehler in der Justiz kommen vor: Die Hürden für die Wiederaufnahme strafrechtlicher Verfahren sind allerdings sehr hoch. Wie geht es einem Menschen, der jahrelang auf die Korrektur eines Urteils hofft – und wo finden Betroffene Unterstützung?
"Ja, wie soll es einem hier gehen? Man fühlt sich lebendig begraben. So kann man das ungefähr beschreiben." Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede. Hier sitzt seit 2016 Georgios Spirou ein, rechtskräftig verurteilt wegen Mordes.
"Mein Name ist nicht mehr zu verheimlichen", sagte er. "Ich heiße Georgios Spirou, bin 57 Jahre alt, griechischer Staatsbürger und seit über 40 Jahren in Deutschland. Unternehmer und Familienvater – oder Vater von vier Söhnen."
Georgios Spirou soll seine von ihm getrennt lebende Ehefrau getötet haben. Aus Ärger, Wut und aus Angst, dass sie ihm die Kinder wegnehmen will. Soll – denn er sagt, er sei es nicht gewesen. Und deshalb will er, dass sein Verfahren neu aufgerollt wird. In einem sogenannten Wiederaufnahmeverfahren. Die Strafprozessordnung sagt dazu:
"Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten ist zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung zu begründen geeignet sind."
"Ich wusste nicht, wie mir geschieht"
Der Tag, an dem sich für Georgios Spirou alles änderte, war der 15. September 2016: "Es war ein sonniger Tag. Bin morgens aufgestanden, habe mich fertiggemacht. Wollte zu meiner neuen Lebensgefährtin fahren, um zu frühstücken."
Danach wollte er zu einem Kunden, später dann geschäftlich nach Augsburg. Vorher noch kurz ins Büro, um Unterlagen zu holen, die er am Tag zuvor dort vergessen hatte. Gegen halb elf kam er vom Büro zurück.
"Auf einmal dann an einer Kreuzung standen rund herum, ich weiß nicht mehr, irgendetwas an zehn Autos", erzählt er. "Irgendwie so um 20 schwerbewaffnete Leute und haben mich da aus dem Auto gezerrt, Waffen auf mich gerichtet. Ich wusste nicht, wie mir geschieht. Ja, man hat mich da, ich kann das gar nicht beschreiben, auf den Boden geworfen, auf mich draufgetreten, mich hinten festgehalten. Wie gesagt, ich wusste nicht, wie mir geschieht. Keiner erzählte was. Ja, so war der Tag, auf einmal war ich auf der Polizeiwache in Gewahrsam."
Erst am Nachmittag dann wurde ihm mitgeteilt, was gegen ihn vorlag, erzählt Georgios Spirou: "Mir wurde schwarz vor Augen. Ich dachte, ich bin im falschen Film. Ich weiß nur noch, dass ich dachte, das kann nicht sein. Ich stand da sprachlos."
Erst Untersuchungshaft, dann lebenslange Strafe
Seit jenem Tag sitzt er in Haft. Zuerst in Untersuchungshaft, später dann in Strafhaft. Das Landgericht Bielefeld hatte ihn im Mai 2017 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Die Richter sahen es als erwiesen an, dass Georgios Spirou seiner Noch-Ehefrau an jenem Tag im September 2016 morgens aufgelauert und sie mit einer Schrotflinte erschossen hatte:
"Der Angeklagte trat an die linksseitige Fahrertür heran und schoss aus einer Entfernung von ein bis drei Meter zweimal kurz hintereinander gezielt auf die Brust der T., um diese zu töten. Der erste Schuss traf auf die geschlossene Seitenscheibe der Fahrertür, in die ein etwa faustgroßes Loch gerissen wurde ... Eine Glaskugel oder ein Glasfragment traf den Kiefer der Geschädigten, sodass der Unterkieferknochen brach ... Der Angeklagte schoss das zweite Mal aus derselben Entfernung gezielt durch das entstandene Loch in der Seitenscheibe auf die Brust seines Opfers ... Durch den Schuss wurden sowohl der Herzbeutel als auch die Körperhauptschlagader der Frau eröffnet, die durch den erheblichen Blutverlust binnen weniger Sekunden verstarb."
Dann, davon war das Gericht überzeugt, floh Georgios Spirou in großer Eile vom Tatort. Und verlor dabei die Sturmhaube, die er vor und während der Tat getragen hatte. Auch die aus der Waffe ausgeworfenen Patronenhülsen ließ er liegen, genauso wie das Futteral der Waffe, das die Polizei später etwa 80 Meter entfernt vom Tatort im Wald fand.
Dass der Prozess nicht fair ablaufen würde, das Gefühl hatte Georgios Spirou schon vor Beginn der mündlichen Verhandlung.
"Ich saß unten bei Gericht in so einem Haftraum, in einer Zelle", sagt er. "Und auf einmal ging die Tür auf. Da stand der Vorsitzende Richter vor mir und begrüßte mich: Hallo, Herr Spirou, und hat sich vorgestellt. Er wollte, bevor das Verfahren anfängt, mit demjenigen sprechen, damit man sich so ein bisschen kennenlernt. Ja, ob ich ihm etwas zu erzählen hätte. Ich sage, ich kann Ihnen nur erzählen, ich habe nichts mit der Sache zu tun, ich bin unschuldig. Bitte nehmen Sie Rücksicht auf mich und meine Familie. Und dann kam als Antwort: Nein, das wolle er gar nicht hören. Hätte ich ihm nichts anderes zu erzählen? Ich sage, mehr kann ich Ihnen nicht erzählen, ich bin es nicht gewesen. Ja, dann könne er auch nichts für mich tun und hat sich verabschiedet und ist nach oben gegangen. Und dann war mir schon klar: Das war's!"
Erfolglose Revision gegen das Urteil
Das Urteil: lebenslängliche Freiheitsstrafe. Die Revision dagegen blieb ohne Erfolg. Das Problem: Verurteilungen von schweren Straftaten werden in der zweiten Instanz nur auf Rechtsfehler überprüft. Die tatsächlichen Umstände der Tat oder neue Beweismittel spielen keine Rolle mehr.
Georgios Spirou setzt all seine Hoffnung jetzt in ein sogenanntes Wiederaufnahmeverfahren. Mit dem kann unter ganz engen Voraussetzungen ein rechtskräftig abgeschlossener Prozess noch einmal aufgerollt werden. Wenn zum Beispiel im ersten Verfahren gefälschte Urkunden vorgelegt worden waren. Oder wenn Zeugen oder Sachverständige gelogen haben. Oder, und darauf stützen sich die meisten Wiederaufnahmeverfahren, wenn es neue Tatsachen oder Beweise gibt, die den Verurteilten entlasten.
Unterstützt wird Georgios Spirou vom Hamburger Rechtsanwalt Gerhard Strate. Der ist überzeugt davon, dass sein Mandant unschuldig ist.
"Ich habe schon – ich mach den Job jetzt schon seit einigen Jahrzehnten – einige Erfahrungen im Umgang mit Mandanten gewonnen", erzählt Gerhard Strate. "Also auf mich hatte Herr Spirou schon den Eindruck gemacht, dass er durch diese Verurteilung stark an den Rand seiner Seelenkraft gerückt worden ist. Er machte mir nicht den Eindruck eines Täters. Sondern er machte mir eher den Eindruck eines sehr nachdenklichen Menschen, der verbittert ist über Unrecht, das ihm widerfahren ist, der auch nach meiner Auffassung gute Gründe hat, das Urteil, das gegen ihn ausgesprochen wurde, als Unrechtsurteil oder als Fehlurteil zu begreifen."
Eine Arbeit wie ein Puzzlespiel
Und so hat Strate, nachdem er das Mandat übernommen hat, angefangen, das Urteil auseinanderzunehmen.
"Also die Arbeit an einem Wiederaufnahmeverfahren ist immer ein Puzzlespiel", erklärt er. "Sie müssen verschiedene Punkte in dem Urteil untersuchen, zunächst einmal das Urteil in seiner Grundstruktur analysieren und feststellen, was sind die Schwachstellen, und was sind die starken Positionen in der Urteilsbegründung. Und natürlich auch mögliche neue Beweismittel finden, möglicherweise neue Sachverständige, die an dem einen oder anderen Punkt die Grundannahmen des Urteils zu widerlegen verstehen."
Gestolpert ist Strate dabei über die beiden Patronenhülsen mit den Fingerabdrücken des Angeklagten, die am Tatort gefunden wurden. Dass jemand, der als Jäger den Umgang mit Waffen gewohnt ist, ausgerechnet diese belastenden Beweisstücke zurücklässt, schien ihm wenig logisch.
"Das war schon merkwürdig", sagt Gerhard Strate. "Denn jemand, der eine solche Mordtat plant, weiß, dass, wenn er dabei erwischt wird, dass er dann mit wenigstens lebenslanger Freiheitsstrafe zu rechnen hat. Deshalb wird immer, immer sein Bestreben sein, keine Spuren zu hinterlassen, die auf ihn hindeuten."
Neue Erkenntnisse zu den Patronenhülsen
Deshalb zog der Anwalt einen Waffensachverständigen hinzu. Das Problem: Die sichergestellten Geschosse und Geschossteile waren zwischenzeitlich vernichtet worden. Lediglich Fotos, die allerdings in guter Qualität, standen zur Verfügung. Der von Gerhard Strate beauftragte Waffensachverständige kam zu dem Ergebnis, dass die Schrotkugeln, die der Rechtsmediziner aus dem Körper der getöteten Frau entfernt hatte, nicht mit den am Tatort gefundenen Hülsen übereinstimmen. Sie waren zu groß.
"Und das ist jetzt die Schlussfolgerung dazu: Dass diese Patronenhülsen nichts mit der Tat zu tun hatten, sondern dass sie gezielt am Tatort als Spur gelegt worden sind", erklärt er.
Gerhard Strate vermutet, dass die Patronenhülsen früher einmal von Georgios Spirou bei der Jagd verwendet worden waren und jetzt vom wahren Mörder platziert worden waren, um Spirou zu belasten. Dazu passt, dass auch schon im ersten Prozess festgestellt wurde, dass die Patronenhülsen teilweise angerostet waren.
"Das führt natürlich zur weiteren Spekulation, wer denn nun wirklich der Täter war. Diese Frage kann und will ich nicht beantworten", sagt der Anwalt.
"Natürlich sind die Hoffnungen groß"
Auf dieses Gutachten und ein weiteres, das die Ergebnisse bestätigt, stützt Gerhard Strate jetzt seinen Antrag auf Wiederaufnahme. Und Georgious Spirou seine ganzen Hoffnungen: "Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, die Hoffnungen sind nicht groß. Natürlich sind die Hoffnungen groß."
Kraft zieht er, so sagt der 57-Jährige vor allem aus der Unterstützung durch Familie und Freunde, aber auch durch seine Mitarbeiter und Geschäftspartner, "die alle an mich glauben und mich unterstützen, meine Unschuld zu beweisen."
Gerhard Strate, der Verteidiger von Georgios Spirou ist seit über 40 Jahren im Geschäft. Er ist einer der bekanntesten Rechtsvertreter in Wiederaufnahmeverfahren – unter anderem hat er dafür gesorgt, dass das Verfahren gegen Monika Weimar, spätere Böttcher, wieder aufgerollt wird. Sie war in den 80er-Jahren nach einem Indizienprozess für schuldig befunden worden, ihre beiden Kinder getötet zu haben. In der Strafsache gegen Holger Gensmer, der als Mörder der sechsjährigen Birgit König verurteilt worden war, beantragte er eine Wiederaufnahme des Verfahrens und bekam Recht: Gensmer wurde in der Folgezeit freigesprochen. Nach 16 Jahren Haft.
"Wiederaufnahmeverfahren brauchen sehr viel Zeit"
Pro Tag bekomme er eine bis zwei Anfragen, ob er das Mandat in einem Wiederaufnahmeverfahren übernehmen wolle, erzählt Gerhard Strate in seinem Hamburger Büro: "Aber im Schnitt kann ich ein Wiederaufnahmeverfahren pro Jahr machen. Wiederaufnahmeverfahren brauchen schon sehr viel Zeit."
Viel Arbeit und viel Geduld müsse man investieren, sagt der Anwalt. Etwa zwei Jahre dauert ein Wiederaufnahmeverfahren, wenn zwei Instanzen beteiligt sind. Es können aber auch deutlich mehr werden.
"Ich habe ein Verfahren in München", erzählt er. "Das zieht sich jetzt auch schon zwei Jahre, und es wird auch noch eine Zeit lang dauern, bis eine Entscheidung des Oberlandesgerichtes kommt. Wenn die negativ sein sollte, wird natürlich zu erwägen sein, das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Dann dauert das ganze drei Jahre."
Auch deshalb wählt Gerhard Strate die Fälle, die er übernimmt, sorgfältig aus. Er muss sich schon ziemlich sicher sein, dass an dem Fall auch etwas dran ist.
"Also ich muss schon einen, wollen wir es mal so ausdrücken, starken Unschuldsverdacht haben. Das ist nicht so sehr aus moralischen Erwägungen, sondern mehr aus praktischen Erwägungen heraus. Weil in den Wiederaufnahmeverfahren ist es häufig so, dass man vier, fünf manchmal neun, zehn Spuren verfolgt, bis man dann bei einer fündig wird und dann sagt, okay, das könnte ein Ansatz sein. Nur das bedeutet auch einen nicht unerheblichen Aufwand an Zeit. Deshalb muss ich schon mir meiner Sache, ich will nicht sagen sicher sein, aber doch eine stark begründete Hoffnung haben, dass ich doch mit meinen Recherchen am Zielpunkt am Ende angelangt sein werde."
Seine Mandanten müssen meist nichts oder wenig zahlen
In den meisten seiner Fälle arbeitet Gerhard Strate "pro bono", die Mandanten müssen nichts oder nur wenig zahlen. Die Wiederaufnahmen seien so etwas wie ein Hobby für ihn, sagt er. Das kann er sich leisten, weil seine Kanzlei viele andere lukrative Mandate vorwiegend aus dem Wirtschaftsstrafrecht hat. Und auch wenn er die 70 bereits überschritten hat, ans Aufhören denkt er noch lange nicht.
Etwa eine Million Verfahren landen in der Bundesrepublik jährlich bei den Strafgerichten. Davon sind ungefähr 1000 Anträge auf die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens. Wie viele Wiederaufnahmeverfahren letztendlich erfolgreich sind, darüber gibt es jedoch keine Statistik.
Wissenschaftler aus drei Forschungseinrichtungen haben sich jetzt vorgenommen, Wiederaufnahmeverfahren gründlicher zu untersuchen – aus rechtswissenschaftlicher, kriminologischer und psychologischer Sicht. Untersucht werden soll, wie es überhaupt zu Fehlern im Strafprozess kommt und wie effektiv die Möglichkeiten für Verurteilte sind, solche Fehler dann auch korrigieren zu lassen.
Wiederaufnahmen als Gegenstand der Forschung
Die Berliner Psychologieprofessorin Renate Volbert ist an dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft beförderten Projekt beteiligt und erzählt, worum es dabei gehen soll.
"Wir besorgen uns Akten von Wiederaufnahmeverfahren und machen dort im Grunde drei unterschiedliche Auswertungen", erklärt sie. "Die eine Auswertung bezieht sich sehr stark auf die juristischen Entscheidungen, auf den juristischen Prozess. Dann versuchen wir zu gucken, ob sich Entscheidungen gewissermaßen vorhersagen lassen, auf der Basis von Informationen, die wir bekommen aus den Akten. Und in einem dritten Schritt gucken wir uns bei jeder dieser Fehlergruppen, die wir im Auge haben – also das heißt, einerseits mehr juristische Fehler, dann Fehler, die mehr mit Gutachten und Fehler die mehr mit technischen Dingen zu tun haben –, da gucken wir uns eine Auswahl von Fällen genauer an, um zu schauen, gibt es da etwas Systematisches, was man finden kann, warum es in diesen Fällen zu Fehlern gekommen ist."
750 Akten zu Wiederaufnahmeverfahren wollen die Wissenschaftler auswerten. Sie haben dazu Staatsanwaltschaften aus der gesamten Bundesrepublik angefragt und hoffen so, nach längerer Zeit wieder einen Überblick über die Situation in ganz Deutschland zu bekommen. Denn die letzte derartige Untersuchung liegt schon eine ganze Weile zurück.
"Es gibt in Deutschland eine ältere Untersuchung von Wiederaufnahmeverfahren, aber die behandelt Akten aus den 50er- und aus den 60er-Jahren. Und seitdem ist so eine Untersuchung nicht mehr gemacht worden. Und es hat sich natürlich eine Menge geändert in der Zwischenzeit", sagt Renate Volbert.
Suche nach möglichen Sollbruchstellen
Neu bei dem jetzigen Projekt ist, dass sich die Wissenschaftler nicht nur erfolgreiche Wiederaufnahmeanträge, sondern auch jene anschauen wollen, denen nicht stattgegeben wurde. Dazu sollen Interviews mit Rechtsanwälten, Staatsanwälten und vor allem auch Betroffenen geführt werden. Das Projekt ist vor einem Jahr gestartet und wird über zwei Jahre laufen. Die Ergebnisse sollen Ende des nächsten Jahres veröffentlicht werden.
Thomas Fischer war viele Jahre lang Strafrichter – zuletzt als Vorsitzender des Zweiten Strafsenates des Bundesgerichtshofes. Er kennt mögliche Sollbruchstellen sehr gut und meint, dass eine Ursache für mögliche Fehler die starke Position des Richters in unserem Strafprozess-System sein könnte.
"Das Gericht hat bei uns nicht nur eine außerordentlich starke Stellung, sondern auch ein Übermaß an Verantwortung", sagt er. "Und ein Übermaß auch an Beurteilungskompetenz. Das ist, ich will nicht sagen ein Fehler, aber eine Fehlerquelle."
Denn das Gericht beziehungsweise der Richter führt nicht nur die Verhandlung, sondern muss selbst aktiv das Verfahren vorantreiben: "Das heißt, das Gericht bekommt eine Anklage rein, beurteilt dann diese Anklage anhand der Aktenlage und sagt dann: ‚Ja, wir halten diese Anklage für hinreichend wahrscheinlich.‘ Das heißt, es besteht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die Beschuldigung stimmt und der Angeschuldigte verurteilt werden wird. Und dann wird das Hauptverfahren eröffnet, und man geht mit diesem eigenen Beschluss in die Hauptverhandlung, als Richter. Das heißt, man hat schon unterschrieben, es besteht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung."
"Überforderungen der menschlichen Psyche"
In der Hauptverhandlung gilt dann aber die Unschuldsvermutung. Das Gericht muss objektiv Beweise erheben und bewerten und vorurteilsfrei über den Fortgang des Verfahrens entscheiden.
"Und das sind natürlich eigentlich Überforderungen der menschlichen Psyche. Das weiß auch jeder. Es steht halt im Gesetz, dass man sich davon nicht überfordert fühlen soll. Und deshalb wird gesagt: Richter können das. Weil sie es können sollen. Aber ob sie es im Einzelfall können, ist ja gerade die große Frage." Und es gibt weitere Faktoren, die eine Rolle spielen, so Thomas Fischer.
Dass zum Beispiel auch Richter eher dazu neigen, vorherige Entscheidungen nicht mehr infrage zu stellen: "Das ganze Verfahren läuft ja schon darauf hinaus, dass der, der beschuldigt ist, auch der ist, der der Täter war. Da sagt die Staatsanwaltschaft, ja, die Polizei hat doch nicht umsonst so eine dicke Akte angelegt. Und das Gericht sagt, die Staatsanwaltschaft hat den doch nicht umsonst angeklagt. Und dann sitzt er im Gerichtssaal, der Beschuldigte, und alle denken, jedenfalls untergründig, der sitzt ja nicht umsonst da auf der Anklagebank. Das ist ja kein weißes Blatt Papier, die Hauptverhandlung, da sind ja jede Menge Vorentscheidungen schon gefallen."
Dieser Effekt sei aber keine Bösartigkeit der Beteiligten, sondern einfach menschliches Verhalten, so der ehemalige BGH-Richter. Man müsse allerdings daran arbeiten – mehr, als man das derzeit tue. Es gebe genügend Studien darüber, wie solche Mechanismen funktionierten. Trotzdem werden seiner Meinung nach in der Strafjustiz letztlich nur wenige Fehler gemacht. Das könne man auch an der hohen Akzeptanz ablesen, die die Urteile in der Regel genießen – selbst bei den Betroffenen.
Hohe Hürden für eine Wiederaufnahme
Deshalb findet er es auch richtig, dass Wiederaufnahmeverfahren nur in ganz engen Grenzen möglich sind. Es habe seinen Sinn, dass Urteile irgendwann rechtskräftig und damit grundsätzlich unangreifbar werden.
"Es soll das eintreten, was man Rechtsfrieden nennt", sagt Thomas Fischer. "Und hinter diese Entscheidung, hinter diesen Schlussstrich noch mal zurückzugehen und zu sagen, so jetzt fangen wir noch mal von vorne an, das muss, damit es nicht ins Chaos läuft, zwangsläufig eine hohe Hürde sein."
Bevor ein Strafprozess tatsächlich noch einmal aufgerollt wird, gibt es deshalb noch eine Art Vorverfahren, in dem in einem ersten Schritt die Zulässigkeit und in einem zweiten die Schlüssigkeit des Wiederaufnahmeantrages geprüft wird. Durch ein Gericht, das bisher mit der Sache noch nicht befasst war.
Bereits hier scheitern die meisten Anträge, weiß Carsten Momsen, Strafrechtsprofessor an der Freien Universität Berlin.
"Sie scheitern teilweise am Formerfordernis", erklärt er, "weil Anträge einfach so gestellt werden, ohne anwaltliche Vertretung. Aber der entscheidende Schritt ist diese Schlüssigkeitsprüfung. Weil da dem prüfenden Gericht ein relativ großes Ermessen eingeräumt wird, die Erfolgsaussichten zu bewerten. Und natürlich neigen Gerichte nicht dazu, die Arbeit ihrer Kollegen als schlecht oder schlampig einzuordnen. Und das ist natürlich immer ein Stück weit damit verbunden, denn man hätte ja diese Beweise vielleicht auch finden können, wenn man lange genug geforscht hätte. Aber das ist der entscheidende Punkt, das Nadelöhr: diese Schlüssigkeit."
Kritik am Rechtsmittelsystem
Und selbst, wenn dieses Gericht meint, die neuen Beweise würden die Unschuld des Verurteilten sehr wahrscheinlich erscheinen lassen, kann die Wiederaufnahme scheitern. Denn das Gericht, das den Prozess dann noch einmal führt, ist wiederum ein anderes, und das kann ganz frei alle Beweise – die be- und die entlastenden – neu würdigen.
Für Carsten Momsen sollte eine Korrektur möglicher Fehler aber viel früher ansetzen. Nämlich schon dann, wenn gegen eine Verurteilung ein Rechtsmittel eingelegt wird: "Ich glaube, da liegt der eigentliche Kern des Problems. Wir haben ein Rechtmittelsystem, was nicht darauf ausgerichtet ist, falsche Tatsachenfeststellungen zu korrigieren."
Dass ausgerechnet bei schweren Straftaten nur eine Revision möglich ist, die das Urteil der ersten Instanz dann auch nur auf Rechtsfehler überprüft, nicht aber auf Fehler beispielsweise bei der Beweisführung, hält Momsen für falsch.
"Das hat historische Gründe, die uns zu einem anderen Reformthema bringen", sagt er. "Die Ermittlungen, Ermittlungsmaßnahmen und vor allem die Hauptverhandlung werden in Deutschland nicht inhaltlich dokumentiert. Das heißt, wir haben gar keine Möglichkeit, die Tatsachenfeststellungen oder den Weg, den ein Gericht nimmt, um zu den Tatsachenfeststellungen zu kommen, zu überprüfen."
Der Rechtsprofessor hofft daher, dass es bald möglich ist, Strafprozesse per Video aufzunehmen oder zumindest im Wortprotokoll zu dokumentieren: "Ich glaube, Dokumentation ist der erste Schritt, und der zweite Schritt ist dann Neujustierung des Rechtsmittelsystems, entweder über Erweiterung der Revision oder über Erweiterung der Wiederaufnahme."
Großes Innocence-Netzwerk in den USA
"Ich sitze eine Strafe von 40 bis 60 Jahren ab. So wahr Gott mein Zeuge ist, ich bin unschuldig … Wir werden überschwemmt mit Briefen aus dem ganzen Land … Die Absender behaupten, unschuldig in Haft zu sein ... Wir erkannten, dass so viel verkehrt läuft in dem System. Deshalb gründeten wir das Innocent Project", heißt es im Trailer zur Netflix-Serie "The Innocence Files".
Es ist eine Dokumentation über das New Yorker Innocence Project. Die NGO wurde 1992 von dem Rechtsprofessor Barry Scheck und dem Anwalt Peter Neufeld gegründet und hilft – mit Unterstützung von Studenten der Benjamin N. Cardozo School of Law –verurteilten Inhaftierten, ihre Unschuld zu beweisen. In den USA gibt es mittlerweile ein weites Netzwerk solcher Projekte. Auf der Seite des Innocence Network sind allein 65 Mitgliedsorganisationen aufgezählt.
In Deutschland gibt es solche Hilfsorganisationen noch nicht. Verurteilte, die ein Wiederaufnahmeverfahren anstreben, sind weitgehend auf sich selbst gestellt. Und die Suche nach einem geeigneten Rechtsanwalt ist nicht einfach.
In diese Lücke möchte Rechtsprofessor Carsten Momsen mit seiner Law Clinic vorstoßen: "Law Clinic ist ein Format, das kennen wir in Deutschland kaum, im strafrechtlichen Bereich gar nicht. Und die Idee ist nicht nur, Softskills zu trainieren, sondern dieses sogenannte 'experiental learning', das heißt Theorie über Praxisbezüge zu vermitteln."
Studierende sollen dabei in kleinen Gruppen an echten Fällen juristische Probleme bearbeiten und dabei gleichzeitig die Praxis kennenlernen: "Das machen wir in Verbindung mit der Berliner Strafverteidigervereinigung aber auch mit Anwälten aus der ganzen Bundesrepublik, die einzelne Studierende zu sich in die Kanzlei holen – oder Gruppen –, sie an echten Fällen arbeiten lassen, sie Schriftsätze ausarbeiten lassen, sie in Hauptverhandlungen teilnehmen lassen und so weiter."
Bisher befasst sich die Berliner Law Clinic mit der Strafverteidigung im Allgemeinen. Ab dem Frühjahrssemester soll sich ein Teil der Studierenden speziell in Wiederaufnahmeverfahren einarbeiten. Derzeit suchen Momsen und seine Mitstreiter dafür geeignete Fälle. Die Studierenden sollen darin mögliche Wiederaufnahmegründe erkennen und herausfiltern.
"Das Erkennen läuft im Übrigen so, dass man Akten, lange Akten durchlesen muss, was enorm viel Zeit kostet", sagt der Rechtsprofessor. "Das heißt, wir werden, wenn wir Fälle haben, diese einer Gruppe von Studierenden zuteilen, die gemeinsam mit einem Anwalt, einer Anwältin, einer Professorin diesen Fall bearbeiten und dann zu dem Ergebnis kommen, das ist schlüssig, das wird begründet sein und wir wollen es einlegen."
Die Arbeit der Studierenden soll am Ende vor allem jenen zugutekommen, die sich sonst ein Wiederaufnahmeverfahren nicht leisten könnten.
Politik denkt in eine andere Richtung
In der Politik denkt man derweil in eine andere Richtung. Bei der Regelung, auf die sich Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag geeinigt haben, geht es nicht um jene, die unschuldig verurteilt, sondern um jene, die schuldig freigesprochen sind. Die bisherigen Möglichkeiten, die hier die Staatsanwaltschaften haben, um solche Verfahren wieder aufzurollen, sollen bei nicht verjährbaren Taten erweitert werden.
"Wir meinen, dass es schreiendes Unrecht ist, wenn neue Tatsachen, neue Untersuchungsmethoden nachweisen, dass eine Person einen Mord begangen hat, die aber freigesprochen wurde, die Person, nur weil die Hinweise, die Beweise nicht vorlagen im Zeitpunkt des ersten Prozesses", sagt Johannes Fechner, rechtspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.
Bei Mord und Völkermord soll es deshalb künftig möglich sein, auch Verfahren, die mit einem Freispruch geendet haben, wieder aufzurollen, wenn es neue erhebliche Beweise gibt. Oder aber Beweise, die bereits vorhanden waren, erst jetzt mit der modernen Technik genau untersucht werden können: zum Beispiel bei alten DNA-Spuren. Die können heutzutage viel besser ausgewertet werden als noch vor Jahrzehnten.
Warnung vor der Neuaufrollung von Freisprüchen
Das Problem: Eigentlich gilt das Prinzip, dass niemand wegen einer Sache zweimal vor Gericht gestellt werden kann. Deshalb ist auch Rechtsprofessor Carsten Momsen grundsätzlich gegen eine solche Neuregelung.
"Wir haben ja Artikel 103 Grundgesetz mit der Festschreibung der Rechtskraft, die natürlich auch zugunsten der Verurteilten und der Freigesprochenen gilt", sagt er. "Das Ganze soll dazu dienen, das Rechtsfrieden eintritt, dass man eben nicht sein Leben lang damit rechnen muss, dass ein Verfahren nach Freispruch wieder aufgerollt wird."
Andere Rechtswissenschaftler sehen das aber anders, erklärt Johannes Fechner: "Wir haben sehr intensiv mit Experten, mit Professoren diese Thematik beraten. Und manche sagen, das kann man rückwirkend auch ohne Grundgesetzänderung machen eine solche Regelung. Andere sagen, es geht gar nicht. Manche sagen, man braucht eine Grundgesetzänderung. Da sind wir gerade dabei, die Bandbreite der Wissenschaft auszuwerten. Und ich hoffe, in den nächsten Wochen dann zu einem Ergebnis zu kommen."
Carsten Momsen befürchtet allerdings, dass, wenn dieser Schritt erst einmal gemacht wurde, weitere Forderungen folgen: "Es wird nicht lange dauern, bis einschlägige Kollegen dann kommen: 'Naja, Sexualdelikte, da haben wir ähnliche Beweislage, auch schwere Delikte, deshalb müssen wir es da auch ausweiten.' Und das ist so ein bisschen die Dammbruchsorge, dass das passieren kann."
Georgios Spirou dürfte diese Diskussion nur wenig interessieren. Er hofft darauf, dass die Justiz bald erkennt, dass ihm Unrecht geschehen ist. Aber auch wenn das nicht gelingt, sein Antrag auf ein erneutes Verfahren, in dem er freigesprochen wird, also erfolglos bleibt – eines weiß Georgios Spirou schon jetzt.
Wann immer er aus der Haftanstalt entlassen wird: "Ich werde hier erhobenen Hauptes rausgehen", sagt er.