Auch Savants machen Fehler
In der Regel wird über Menschen mit einer autistischen Störung berichtet. Doch Daniel Tammet hat den Spieß umgedreht. Mit "Wolkenspringer" hat er sein zweites Buch vorgelegt. Tammet räumt darin mit Vorurteilen gegen die sogenannten Inselbegabten auf und zeigt, was wir von Autisten lernen können.
Behinderte betonen, wann immer man ihnen zuhört, dass sie nichts peinlicher finden, als bemitleidet zu werden. Und Bestaunen, das macht Daniel Tammet gleich am Anfang seines neuen, zweiten Buchs "Wolkenspringer" gleich mal klar, ist der falsche Zugang zu Menschen mit einer autistischen Störung, dem Asperger-Syndrom zum Beispiel, die gleichzeitig über extreme Begabungen verfügen. An seinen Fähigkeiten, gibt er ironisch "zu Protokoll", sei "nichts Übersinnliches".
Tammet, gerade 40 geworden, selbst "Assie", hatte nach einem epileptischen Anfall im Alter von vier Jahren plötzlich eine innige Liebe zu Zahlen entwickelt. Zahlen sind verlässlich, weil unveränderbar, sie bieten Schutz, wenn einem alles Bewegte Panik macht. Menschen etwa. Bald merkt er, dass Zahlen sinnliche Welten sind - er nimmt sie synästhetisch wahr: als Bilder aus Farben, Formen und Emotionen. "Elf ist freundlich und fünf ist laut", hieß sein erstes Buch. Darin schildert er, wie sein Hirn - das angeblich defizitäre, diskriminierte - funktioniert und wie er wurde, als was er inzwischen weltberühmt ist: Savant. Einer von etwa hundert Menschen, deren Leben zwischen intellektueller Hochbegabung und sozialer Hilflosigkeit oszilliert: Musikern, Schriftstellern, bildenden Künstlern, Rechengenies oder Menschen, die komplexe Städte im Kopf entwerfen. Der Film "Rain Man" hatte uns anderen 1988 einen kleinen Spalt in ihre Welt geöffnet.
Seitdem ist viel passiert. Das Hirn ist noch immer unser unbekanntestes Organ und dem Menschen in den Kopf sehen zu können, ein uralter Menschheitstraum. Die Neurowissenschaften boomen, sind seit Oliver Sacks' Buch "Der Mann, der seine Frau mit einem Regenschirm verwechselte" geradezu populär, und im Mittelpunkt stehen oft Autisten – als Forschungsobjekte. Daniel Tammet hat mit seinem ersten Buch den Spieß umgedreht und ist Subjekt geworden. Mit seinem zweiten verschärft er die Drehung und macht beinah alles, was es an Erkenntnissen, Hypothesen und Vorurteilen über Savants gibt, zum Objekt seiner eigenen Forschung. Sacks nimmt er mit souveräner Eleganz auseinander, hält seine Fallstudien für hanebüchen und seine diskriminierende Beschreibung von Savants für fatal. "Das Beste, was sich über sie sagen lässt, ist, dass sie sich durch einen ausgesprochenen Mangel an Mitgefühl und Verständnis auszeichnen." Exakt das wird Autisten von Neurologen (wie Sacks) nachgesagt: Mangel an Empathie und der Fähigkeit, Zusammenhänge zu verstehen.
Es macht Spaß, Tammet zu folgen auf seiner tour de force durch Forschung, falsche Bilder und seine eigene Wirklichkeit. Er verzahnt Hirnforschung, Linguistik, Psychologie, Neurobiologie, Politik und Kunst mit persönlichen Erlebnissen, Reflexionen, Anekdoten. Heiter und gelassen erklärt der Mann, der die Kreiszahl π (pi) bis auf 22.514 Stellen hinter dem Komma im Kopf hat, wie falsch etwa die ewige Computeranalogie ist: "Ein Computer ist vielleicht in der Lage, Zahlen zu verarbeiten - aber ich kann mit ihnen tanzen." Ein Hirn - auch ein autistisches - operiert eben nicht binär. Es kann neue Verknüpfungen bilden, tagträumen, wort- und sprachspielen, Gefühle verarbeiten, es ist kreativ und dynamisch. Es kann Defizite ausgleichen oder ausprägen. "Auch Savants machen Fehler", lässt er beiläufig fallen. Und nach der Lektüre des Buchs wird kein vernunftbegabter Mensch mehr bezweifeln, dass Savant-Hirne und "normale" ziemlich ähnlich funktionieren, womöglich nur mit einem verschieden großen Gefälle zwischen Können und Nicht-Können. Und dafür, dass selbst das nicht unveränderbar ist, ist Tammet der beste Beweis. Er braucht zwar weiter auf die Minute seinen Tee und wiegt die Körner für sein Morgenmüsli aufs Gramm ab, aber Nähe duldet er lange nicht mehr nur von seiner Urfamilie. Er lebt mit seinem Freund zusammen. Er reist durch die Welt, bloggt, baut Sprachlernprogramme und lernt gerade Deutsch - in einer Woche, wie vorher Litauisch und Isländisch.
Schreiben kann er auch - allgemeinverständlich und spannend für alle, die einfach neugierig sind, wie wir denken, lernen, uns erinnern, auf Ideen kommen. Gegen Fachtermini-Brimborium hat er sich mit Orwells Schreibregeln immunisiert. Und für hiesige Leser ist Maren Klostermanns unprätentiöse, präzise Übersetzung ohne pseudowissenschaftliches Denglisch auch diesmal wieder ein Glücksfall.
Rezensiert von Pieke Biermann
Daniel Tammet: Wolkenspringer - Von einem genialen Autisten lernen
Deutsch von Maren Klostermann
Patmos-Verlag, Düsseldorf 2009
318 Seiten 19,90 Euro
Tammet, gerade 40 geworden, selbst "Assie", hatte nach einem epileptischen Anfall im Alter von vier Jahren plötzlich eine innige Liebe zu Zahlen entwickelt. Zahlen sind verlässlich, weil unveränderbar, sie bieten Schutz, wenn einem alles Bewegte Panik macht. Menschen etwa. Bald merkt er, dass Zahlen sinnliche Welten sind - er nimmt sie synästhetisch wahr: als Bilder aus Farben, Formen und Emotionen. "Elf ist freundlich und fünf ist laut", hieß sein erstes Buch. Darin schildert er, wie sein Hirn - das angeblich defizitäre, diskriminierte - funktioniert und wie er wurde, als was er inzwischen weltberühmt ist: Savant. Einer von etwa hundert Menschen, deren Leben zwischen intellektueller Hochbegabung und sozialer Hilflosigkeit oszilliert: Musikern, Schriftstellern, bildenden Künstlern, Rechengenies oder Menschen, die komplexe Städte im Kopf entwerfen. Der Film "Rain Man" hatte uns anderen 1988 einen kleinen Spalt in ihre Welt geöffnet.
Seitdem ist viel passiert. Das Hirn ist noch immer unser unbekanntestes Organ und dem Menschen in den Kopf sehen zu können, ein uralter Menschheitstraum. Die Neurowissenschaften boomen, sind seit Oliver Sacks' Buch "Der Mann, der seine Frau mit einem Regenschirm verwechselte" geradezu populär, und im Mittelpunkt stehen oft Autisten – als Forschungsobjekte. Daniel Tammet hat mit seinem ersten Buch den Spieß umgedreht und ist Subjekt geworden. Mit seinem zweiten verschärft er die Drehung und macht beinah alles, was es an Erkenntnissen, Hypothesen und Vorurteilen über Savants gibt, zum Objekt seiner eigenen Forschung. Sacks nimmt er mit souveräner Eleganz auseinander, hält seine Fallstudien für hanebüchen und seine diskriminierende Beschreibung von Savants für fatal. "Das Beste, was sich über sie sagen lässt, ist, dass sie sich durch einen ausgesprochenen Mangel an Mitgefühl und Verständnis auszeichnen." Exakt das wird Autisten von Neurologen (wie Sacks) nachgesagt: Mangel an Empathie und der Fähigkeit, Zusammenhänge zu verstehen.
Es macht Spaß, Tammet zu folgen auf seiner tour de force durch Forschung, falsche Bilder und seine eigene Wirklichkeit. Er verzahnt Hirnforschung, Linguistik, Psychologie, Neurobiologie, Politik und Kunst mit persönlichen Erlebnissen, Reflexionen, Anekdoten. Heiter und gelassen erklärt der Mann, der die Kreiszahl π (pi) bis auf 22.514 Stellen hinter dem Komma im Kopf hat, wie falsch etwa die ewige Computeranalogie ist: "Ein Computer ist vielleicht in der Lage, Zahlen zu verarbeiten - aber ich kann mit ihnen tanzen." Ein Hirn - auch ein autistisches - operiert eben nicht binär. Es kann neue Verknüpfungen bilden, tagträumen, wort- und sprachspielen, Gefühle verarbeiten, es ist kreativ und dynamisch. Es kann Defizite ausgleichen oder ausprägen. "Auch Savants machen Fehler", lässt er beiläufig fallen. Und nach der Lektüre des Buchs wird kein vernunftbegabter Mensch mehr bezweifeln, dass Savant-Hirne und "normale" ziemlich ähnlich funktionieren, womöglich nur mit einem verschieden großen Gefälle zwischen Können und Nicht-Können. Und dafür, dass selbst das nicht unveränderbar ist, ist Tammet der beste Beweis. Er braucht zwar weiter auf die Minute seinen Tee und wiegt die Körner für sein Morgenmüsli aufs Gramm ab, aber Nähe duldet er lange nicht mehr nur von seiner Urfamilie. Er lebt mit seinem Freund zusammen. Er reist durch die Welt, bloggt, baut Sprachlernprogramme und lernt gerade Deutsch - in einer Woche, wie vorher Litauisch und Isländisch.
Schreiben kann er auch - allgemeinverständlich und spannend für alle, die einfach neugierig sind, wie wir denken, lernen, uns erinnern, auf Ideen kommen. Gegen Fachtermini-Brimborium hat er sich mit Orwells Schreibregeln immunisiert. Und für hiesige Leser ist Maren Klostermanns unprätentiöse, präzise Übersetzung ohne pseudowissenschaftliches Denglisch auch diesmal wieder ein Glücksfall.
Rezensiert von Pieke Biermann
Daniel Tammet: Wolkenspringer - Von einem genialen Autisten lernen
Deutsch von Maren Klostermann
Patmos-Verlag, Düsseldorf 2009
318 Seiten 19,90 Euro