Auf dem absteigenden Ast

Der neue Roman von Tschingis Aitmatow beschreibt das städtische Kirgistan der Gegenwart schablonenhaft als eine korrupte Verbrechersiedlung: Die Marktwirtschaft begünstigt nur die "Bösen", und auf dem Dorf sind die wenigen hoffnungmachenden Unternehmungen aus ökologischen Gründen äußerst fragwürdig. Und auch der Schneeleopard geistert einzig als ein Sinnbild des Alterns durch den Text.
Wie sieht eine entwertete Lebenserfahrung aus, wie fühlt sie sich an? Gibt es ein Entrinnen, wenn sich einer eingestehen muss, dass das Bisherige ganz und gar zu Ende ist und ein Neues nicht in Sicht? Tschingis Aitmatow verweist in seinem neuen Roman zunächst auf das fatal Biologische einer solchen Situation: Der Schneeleopard Dschaa-Bars, bis vor kurzem ein wahrer Held des Tienschan-Gebirges, spürt das Alterszipperlein.

Beim Jagen rasseln ihm die Lungen, die Steinböcke drehen sich im Fliehen mit herausforderndem Spott nach ihm um, und im Kampf um sein Weibchen schlägt ihn ein Jüngerer unbekümmert aus dem Feld. Dass das begehrte Weibchen dann auch noch hinterteilschwenkend mit dem Jüngeren davonzieht, verursacht dem alternden Dschaa-Bars Eifersuchtsgefühle, die vielleicht nicht sehr tierisch sind, dabei aber gut geeignet, einen hüftschwungartigen Brückenschlag ins Reich der menschlichen Tiere anzuregen.

Hier ergeht es dem freien Journalisten Arsen Samantschin nur bedingt anders. Die Futtersuche ist für ihn nicht ganz so problematisch, denn er gilt als unabhängiger, aufrichtiger, von einer klaren Moral getragener Publizist, der sich nicht scheut, den "Oligarchen" und anderen Dunkelmännern des "Bisnes" und der Politik an die Karre zu fahren. Noch hat er sein Auskommen als investigativer Journalist und streitbarer Kommentator, wird zu Kongressen eingeladen und respektiert.

Aber dass auch er sich auf dem absteigenden Ast befindet, wird dem journalistischen Leoparden anhand des Konkurrenzkampfes um das "Weibchen" klar: Aidana, die schöne Sopranistin, die sich einst – in Heidelberg fing alles an! – mit ihm verbunden hatte, der er ein Libretto (nach einer alten kirgisischen Legende) auf den Leib schreiben wollte, hat sich von ihm abgewandt. Und ist – hinterteilschwenkend, sozusagen – übergelaufen zur Massenkultur, zum Pop, und macht als Hitparaden-Star Karriere.

Natürlich unter den Fittichen – oder anderen Organen – eines jener (jüngeren) "Bisnesmen", eines mäßig begabten Schauspielers mit gut entwickeltem Producer-Geschäftssinn. Als der Versuch, sich der so gut wie Entschwundenen noch einmal zu nähern in jener Neureichen-Bar, in der sie nun aufzutreten pflegt, auf peinliche Weise scheitert, hegt Arsen Samantschin düstere Mord- und Selbstmordgelüste, aber da beginnt die eigentliche Geschichte:

Denn sein Onkel erinnert ihn an ein altes Versprechen, als Dolmetscher zur Verfügung zu stehen, wenn zwei saudi-arabische Prinzen eintreffen, um in der alten zugigen Heimat Schneeleoparden zu jagen – eine Attraktion, die sonst nirgends auf der Welt zu haben wäre. Der Journalist sagt sofort zu, reist in sein Heimatdorf, um sich der neuen Aufgabe zu widmen. Abrupt und überraschend verliebt er sich dort, aber das heimatlich-naturverbundene Liebesglück wird schnell getrübt.

Ein alter Schulkamerad – auch er im Betreuerteam für die Öl-Prinzen – enthüllt ihm seinen schrecklichen Plan: Er will die Prinzen während der Jagd kidnappen und etliche Millionen Dollar – seinen und seines Dorfes Anteil an der "Globalisierung" – als Lösegeld erpressen und dabei den Journalisten unter Todesandrohung einspannen. Das Unternehmen endet im Fiasko, am Ende sterben sowohl der erjagte Schneeleopard Dschaa-Bars als auch der dolmetschende Journalist Arsen Haut an Haut in einer Höhle des Tienschan-Gebirges – zwei einsam vereinigte Figuren, über die eine erbarmungslose Zeit hinweggegangen ist.

Aitmatows Roman scheitert leider am Versuch, gefällig zu sein, tiefsinnig-exotische Spannung vermitteln und "seine Zeit" erzählen zu wollen. Von allem gibt es etwas in diesem Roman, der insgesamt aber doch wie ein routiniert zusammengesetztes Puzzle wirkt. Das städtische Kirgistan der Gegenwart wird schablonenhaft wie eine korrupte Verbrechersiedlung beschrieben, die Marktwirtschaft begünstigt nur die "Bösen", und auf dem Dorf sind die wenigen hoffnungmachenden Unternehmungen – wie das jagdtouristische Unternehmen von Arsens Onkel – aus ökologischen Gründen äußerst fragwürdig. Die Liebe geht oder kommt sehr willkürlich, und auch der Schneeleopard geistert einzig als ein Sinnbild des Alterns durch den Text.


Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Tschingis Aitmatow: Der Schneeleopard
Aus dem Russischen von Friedrich Hitzer
Unionsverlag, Zürich 2007
315 Seiten. 19,90 Euro
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