Auf dem Höhepunkt der Moderne

Rezensiert von Ernst Piper |
Florian Illies verfügt über eine ungewöhnliche kulturhistorische Bildung und er ist ein eleganter Schreiber, der ein Füllhorn großer und kleiner Geschichten vor dem Leser ausschüttet. Er bietet mit seinem Band über das Vorkriegsjahr 1913 gewissermaßen Kulturgeschichte im Talkshowformat.
Was haben Gert Fröbe, Peter Frankenfeld, Burt Lancaster, Marika Rökk und Willy Brandt gemeinsam? Sie alle kamen 1913 zur Welt und Florian Illies vermerkt ihre Geburt in seinem Buch über das letzte Friedensjahr, bevor dann 1914 in Europa die Lichter ausgingen, wie der britische Außenminister Edward Grey es seinerzeit so treffend formuliert hat.

Dieses kleine Beispiel zeigt bereits, wie der Autor in seinem Buch vorgeht. Er erzählt synchronistisch, das heißt er reiht Fakten aneinander, die oftmals nichts miteinander zu tun haben, denen aber gemeinsam ist, sich im Jahr 1913 zugetragen zu haben.

Vor drei Jahren ist Philip Bloms Buch "Der taumelnde Kontinent" auf Deutsch erschienen. Er schildert darin den Durchbruch der Moderne in Kunst und Literatur, in Wirtschaft und Wissenschaft in den letzten Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, einer Zeit des Übergangs, gekennzeichnet von fieberhafter Erregung, Nervosität, Expressivität und Ekstase.

Zu Philip Bloms großem Panorama liefert Florian Illies jetzt gewissermaßen die anekdotischen Zutaten. Er berichtet vom Abriss der von Schinkel erbauten Sternwarte in Berlin, im nächsten Absatz heißt es dann unvermittelt:

"Am 6. Februar 1913 beginnt nach dem chinesischen Kalender das Jahr des Büffels. Dem Büffel, sagt ein altes chinesisches Sprichwort, ist das frische Gras lieber als eine goldene Futterkrippe."

Anschließend ist die Rede von Franz Marc in seinem Atelier in Sindelsdorf, wo es so kalt ist, dass sogar die Katze friert, von Else Lasker-Schüler, der gestohlenen "Mona Lisa", Rudolf Steiner und Oswald Spengler. Nach diesem anekdotischen Rundumschlag wechselt der Autor den Schauplatz:

"Am 17. Februar eröffnet im ehemaligen Waffenarsenal 'Armory' in New York eine der wichtigsten Ausstellungen des Jahrhunderts. Welchen Jahrhunderts? Vielleicht kann man sagen, dass erst mit der ersten großen Armory-Show die Kunst des 19. Jahrhunderts an ihr Ende gekommen ist. Und dass damit die Moderne nicht nur in Europa, sondern global die Vorherrschaft übernahm."

Illies konzentriert sich in seiner Darstellung auf die "vier Frontstädte der Moderne" – neben Paris auf Berlin, München und Wien. Sie sind die kulturellen Hauptstädte des Deutschen Reiches und der Habsburger Monarchie, jener beiden verbündeten Mächte, die im Jahr darauf den Krieg gegen die Entente beginnen sollten.

Paris, die Stadt, in der damals Rodin, Matisse, Picasso und Chagall, aber auch das Ballets Russes, Strawinsky und Diaghilev wirkten, war eine kulturelle Metropole, die damals alles andere in den Schatten stellte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg habe New York ihm den Rang ablaufen. Gleichwohl schweift der Blick des Autors immer wieder über den Ozean, während er andere Orte der Moderne wie Warschau, Prag oder Mailand kaum beachtet, wie überhaupt der Futurismus in seinem Buch eine erstaunlich geringe Rolle spielt.

Sein besonderes Interesse gilt den Protagonisten der kulturellen Moderne und ihren persönlichen Verbindungen. Zu den Glanzstücken des Buches gehört die detailfreudige Schilderung der Amour fou von Oskar Kokoschka und Alma Mahler. Aber auch die Beziehungen zwischen Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler, zwischen Franz Kafka und Felice Bauer, zwischen Karl Kraus und der Baronin Sidonie Nádherny von Borutin und vielen anderen werden thematisiert.

Private und berufliche Verbindungen sind kaum voneinander zu trennen und die europäische Avantgarde ist im Alten Europa eine überschaubare Schar von Persönlichkeiten, die fast alle auf die eine oder andere Weise miteinander zu tun haben. So kommt es dann, dass bei der Uraufführung von Strawinskys "Le Sacre du Printemps" im Pariser Théȃtre des Champs-Élysées im Publikum Harry Graf Kessler neben André Gide, Gabriele d’Annunzio neben Claude Debussy und Coco Chanel neben Marcel Duchamp zu sehen sind.

Auch leidenschaftliche Fehden gab es natürlich in jenen Tagen. Florian Illies schildert, wie Thomas Mann am 3. Januar 1913 nach Berlin fährt, um der Premiere von "Fiorenza", seinem einzigen Theaterstück, beizuwohnen. Abends sitzt er, nichts Gutes ahnend, im Deutschen Theater:

"Irgendwann erlaubt sich Mann einen verstohlenen Blick über die linke Schulter. Dort, in der dritten Reihe, entdeckt er Alfred Kerr, dessen Bleistift über den Notizblock rast. Tief ist das Dunkel im Zuschauerraum und doch meint er auf den Zügen Kerrs ein Lächeln zu erkennen. Es ist das Lächeln des Sadisten, der sich freut, dass ihm diese Inszenierung schönsten Stoff zum Quälen bietet.

Und als er den unruhigen Blick Thomas Manns erhascht, durchläuft ihn noch ein wohligerer Schauer. Er genießt es, dass Thomas Mann und seine verunglückte 'Fiorenza' nun in seiner Hand liegen. Denn er weiß: Er wird sehr fest zudrücken, und wenn er loslässt, wird sie leblos zu Boden taumeln."

Illies erzählt die Geschichte in allen Details und versäumt auch nicht den Hinweis, dass einst auch Alfred Kerr ein Auge auf Katia Pringsheim geworfen hatte, die nun schon länger mit Thomas Mann verheiratet ist. Diese Passagen gehören zu den besten des Buches. Man liest sie mit Gewinn, so wie auch die Geschichte der gestohlenen und schließlich wieder gefundenen "Mona Lisa", die der running gag des Buches ist. Dazwischen liest man aber auch Eintragungen wie:

"Am 25. Februar wird Gert Fröbe geboren."

oder

"Apropos kränkelnd. Wo steckt eigentlich Rilke?"

Hier ist der Erkenntnisgewinn für den Leser denkbar klein. Die Übergänge zwischen den Eintragungen gleiten manchmal in kalauernde Wortspiele ab und Parallelen werden nicht immer überzeugend gezogen, wenn wir etwa erfahren, dass im Juli 1913 sowohl Egon Schiele als auch der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand mit einer Modelleisenbahn gespielt haben.

Florian Illies verfügt über eine ungewöhnliche kulturhistorische Bildung und er ist ein eleganter Schreiber, der ein Füllhorn großer und kleiner Geschichten vor dem Leser ausschüttet. Er bietet gewissermaßen Kulturgeschichte im Talkshowformat. Man darf sich von diesem Buch nicht zu viel erwarten. Aber, wenn man das nicht tut, wird man von der Lektüre nicht enttäuscht sein, denn unterhaltsam ist sie allemal.


Florian Illies: 1913 - Der Sommer des Jahrhunderts
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2012
Cover: "1913 - Der Sommer des Jahrhunderts" von Florian Illies
Cover: "1913 - Der Sommer des Jahrhunderts" von Florian Illies© S. Fischer Verlag Frankfurt