Auf dem Trockenen
Der Balchaschsee im Osten Kasachstans teilt mit dem Aralsee - einst viertgrößter Binnensee der Welt - das gleiche Schicksal: er trocknet langsam aus. Denn Chinas angrenzender Westen entwickelt sich rasend schnell und zapft vom Zufluss raue Mengen Wasser für Landwirtschaft und Kanalisation ab.
Der Hafen von Kuigan, ein kleines Fischerdorf am Balchaschsee im Osten Kasachstans. Ein paar braun gebrannte Halbwüchsige toben im Wasser herum. Fischkutter schaukeln angeleint auf dem Wasser. Ein LKW fährt vor die weiß getünchte Lagerhalle und ein paar Männer beginnen, Kisten mit Fisch auszuladen - Zander, Karpfen und ein paar fast zwei Meter lange Welse sind auch dabei.
"Die Fischerei-Brigaden sind mit den Booten weit draußen. Weil es schneller geht, haben wir dort umgeladen und bringen den Fisch mit LKW hierher zum Sammelpunkt."
Ermek Issagulow ist einer der Fischer und wohnt seit mehr als 50 Jahren in Kuigan. Rund 1.800 Menschen leben im Dorf; fast alle vom Fisch. Vier Fischerei-Kooperativen teilen sich die Fanggründe hier am westlichen Ende des Balchaschsees und am Ili, seinem größten Zufluss. Ermek kennt die Leute hier, wie er auch den Fluss und den Balchaschsee sehr genau kennt. Er registriert jede Veränderung, denn das könnte immer auch die Fischgründe betreffen:
"Früher, als ich noch nicht geboren war, war der Ili so breit - sehen Sie die Häuser da drüben? Das sind etwa 200 Meter, und jetzt sehen Sie, wie schmal er heute ist. Aber wenn es weniger Wasser gibt, flüchten die kleinen Fische aus dem Schilf, wo sie sich verstecken, in den Fluss. Doch dort sitzen die Raubfische, Zander, Welse, Schlangenkopffische und die fressen die kleinen. Die verschwinden dann also."
Noch gibt es genug Fisch im Balchaschsee, und wirkliche Sorgen macht sich Ermek nicht. Zusammen mit seinem Freund Oleg Schumacher fährt er an diesem Abend mit einem kleinen Motorboot noch einmal hinaus auf den Balchaschsee. Sie wollen ein paar Netze kontrollieren.
Zehn Kilometer liegen vor ihnen, mitten durch das Ili-Delta, wo sich der Fluss in Hunderte Kanäle auffächert. Nach einer verwirrenden Fahrt durch ein Labyrinth aus Flussarmen, kleinen Seen und meterhohem Schilf tut sich plötzlich der Balchaschsee auf, silbern glänzend, und mit mächtigem Wellengang.
Oleg: "Der Balchaschsee!"
Ermek: "Für uns 'das Meer'."
"Für uns ist er 'das Meer'", sagen Ermek und Oleg. Beide sehen im Balchasch eher einen Ozean, denn bei Sturm kann er den Fischern genauso gefährlich werden. Trotzdem ist er die Lebensgrundlage der Fischer hier. Im besten Monat des Jahres, im April oder Mai, verdienen Oleg und Ermek bis zu 10.000 Euro durch den Fischfang. Auch wenn das für die restlichen Monate des Jahres reichen muss, ist es ein außerordentlich hoher Verdienst im Vergleich zum kasachischen Durchschnittslohn von rund 360 Euro pro Monat. Weg wollen Ermek und Oleg deshalb auf keinen Fall.
Ermek: "Viele sind in die Stadt gegangen, aber dort gibt es mehr Autos als Menschen. Hier ist man sein eigener Herr: Wenn du essen willst, geh arbeiten, wenn du nicht essen willst, leg dich hin und schlaf."
Der Balchaschsee und die dichten Schilfgürtel an seinen Ufern und Zuflüssen sind auch Refugium für viele Vogelarten - Kraniche, Rohrdommeln oder Pelikane. Hier, mitten in der kasachischen Steppe, ist der Balchasch ein einmaliger Lebensraum. Und mit einer Fläche so groß wie Sachsen ist er der größte See in Zentralasien - jetzt, da der Aralsee, rund eintausend Kilometer entfernt, fast ausgetrocknet ist.
Vom Aralsee, dem einst viertgrößten Binnensee der Welt, der sich über das Territorium von Kasachstan und Usbekistan erstreckt, sind heute mehr als vier Fünftel der einstigen Seeoberfläche verschwunden. Ursache ist die Wasserverschwendung in der Landwirtschaft: Von den Zuflüssen des Aralsees, von Amudarja und Syrdarja, die durch Tadschikistan, Usbekistan und Kasachstan fließen, wurde Jahrzehnte lang so viel Wasser für den Anbau von Baumwolle und Reis abgezapft, dass kein Wasser mehr am Aralsee ankam - er trocknete aus. Für die Fischer Ermek und Oleg ist unvorstellbar, dass gleiches auch dem Balchaschsee widerfahren könnte:
Ermek: "Nein, das wird nicht passieren."
Oleg: "Auf keinen Fall. Früher waren hier schon ein paar von den Ili-Armen komplett ausgetrocknet, und heute? So tief sind die."
Doch die beiden irren sich. Kasachische Wissenschaftler warnen seit Jahren davor, dass dem Balchasch ein ähnliches Schicksal droht wie dem Aralsee.
Am geografischen Institut in Almaty, rund 500 Kilometer südlich vom Balchasch, hat man den See und seine Zuflüsse sehr genau im Auge. Im Hof des Instituts im Zentrum von Almaty steht ein kleines Motorboot auf einem Hänger. Damit fahren die Wissenschaftler regelmäßig auf den Balchaschsee, um Wasserstand und Wasserqualität zu messen. Dschakup Dostaj ist Hydrologe am geografischen Institut, er verfolgt die Entwicklung des Balchaschsees seit Jahren. Mit großer Sorge schaut er nach China, das im Osten an Kasachstan grenzt:
"China beginnt, seinen Westen zu entwickeln, dort gibt es Gas und Öl, aber kein Wasser. Trotzdem steigt der Wasserverbrauch - und bis heute können wir uns mit ihnen nicht über die Wassernutzung einigen."
Dostaj hat Grund zur Sorge, denn zu 80 Prozent wird der Balchaschsee aus einem einzigen Zufluss gespeist, dem Ili. Der aber kommt wie eine Reihe kleinerer Zuflüsse aus der westchinesischen Provinz Xinjiang, die unmittelbar an Kasachstan grenzt. China investiert in Xinjiang derzeit mehrere hundert Millionen Euro in neue Staudämme und Rückhaltebecken. Das Wasser wird in der Landwirtschaft und als Trinkwasser für neue Millionenstädte gebraucht. Dutzende Großprojekte an den größten Flüssen im Westen Chinas sind im Bau. Und einer dieser Flüsse ist der Ili, der nach Kasachstan und zum Balchaschsee fließt.
"Es ist realistisch, dass China praktisch bis zu 100 Prozent Wasser aus den oberen Flussläufen behalten wird."
Dostaj ist Mitglied einer chinesisch-kasachischen Kommission, die bereits 2001 gegründet wurde und die die grenzüberschreitende Wassernutzung regeln soll. Doch Dostaj kritisiert:
"Wir und die Chinesen halten unterschiedliche Regelungen für gerecht. Wir wollen eine gleichberechtigte Aufteilung des Wassers, also 50/50. Sie dagegen sagen, bei ihnen leben mehr Menschen, in Kasachstan wären es viel weniger. Doch durch eine solche Regelung würde der Balchasch verschwinden. Die Wissenschaftler haben dies schon verstanden. Aber die Politiker können sich nicht einigen."
Doch auf politischer Ebene vermeiden die Kasachen Kritik an China. Denn der Nachbar ist einer der wichtigsten Wirtschaftspartner Kasachstans. Dabei leben in Kasachstan rund drei Millionen Menschen vom und am Balchaschsee - sollte der Balchasch politischen Interessen geopfert werden, sind soziale und wirtschaftliche Spannungen vorprogrammiert. Denn nicht überall am Balchaschsee geht es den Menschen so gut wie den Fischern in Kuigan, am Ili-Delta.
Der Balchasch zieht sich auf einer Länge von rund 600 Kilometern durch die kasachische Steppe, gebogen wie eine Säbelklinge. Genau am anderen Ende des Sees liegt das Dorf Lepsy. Hier lebt Bolotbek Schalow mit seiner Familie. Er hat die Organisation "Arai" - zu deutsch "Morgenröte" - gegründet, um hiesigen Bauern und Fischern zu helfen und vor allem, um junge Leute zum Bleiben zu bewegen, wo es kaum noch Perspektiven gibt. Denn Arbeit gibt es in dieser Region kaum noch:
"Die wirtschaftliche Situation bei uns im Dorf ist sehr schwierig. Fast alle jungen Leute wollen in die Stadt. Jedes Jahr ziehen zwei, drei Familien aus Lepsy weg. Hier gibt es Dörfer in der Gegend, da ist es noch viel schlimmer. Die Leute haben nur noch die Viehzucht, um davon zu leben. Früher wurde hier viel Land bewässert, wir haben Zwiebeln angebaut, Tomaten, Gurken. Aber heute gibt es die Bewässerungskanäle nicht mehr."
Bolotbek Schalow steht am Ufer des Flusses Lepsy unweit seines gleichnamigen Heimatortes. Das andere Ufer ist rund 30 Meter entfernt, dazwischen rauschen und gurgeln schäumende Wassermassen über mächtiges Granit-Geröll hinweg. Die Lepsy mündet wie der Ili auch in den Balchasch, früher war sie die Grundlage für die Bewässerungswirtschaft in dieser Region.
"Wir sind hier am Ufer der Lepsy, hier teilt sich der Fluss. Ein Teil soll in einen Bewässerungskanal münden, aber Sie sehen ja, in was für einem Zustand der Kanal ist. Jedes Jahr haben wir diesen Damm repariert, aber er ist immer wieder weggespült worden und das Wasser ist zurück in die Lepsy geflossen, es gelangt also gar nicht in den Kanal. Ein Stückchen weiter ist der komplette Kanal mit Schlamm zugeschüttet. Man müsste ihn saubermachen, aber dafür fehlt uns das Geld."
Die maroden, nicht mehr funktionierenden Bewässerungskanäle sind für die Leute im Dorf Lepsy eine Katastrophe. Für den Balchaschsee sind sie möglicherweise ein Segen - wenn auch nur auf Zeit. Denn nicht überall am Balchaschsee sind die Folgen der Perestroika und dem anschließenden Zusammenbruch der Landwirtschaft heute noch so stark zu sehen wie in Lepsy. In einigen Orten haben private landwirtschaftliche Kooperativen Land gekauft, um in großem Stil Landwirtschaft zu betreiben. Und hier wird deutlich: Auch die Kasachen selber gehen viel zu großzügig mit der knappen Ressource Wasser um.
Ungefähr auf der Hälfte zwischen Kuigan und Lepsy liegt das Dorf Bach-Bachty. Es ist von hohen weißen Dünen umgeben, ein Wüstendorf wie aus dem Bilderbuch. Dennoch wird rund um Bach-Bachty Reis angebaut - und der muss künstlich bewässert werden. Denn er wächst nur dann, wenn er regelrecht überschwemmt ist, wie Landwirt Akylbek Botbajew zeigt:
"Sehen Sie, hier ist der Reis, wir müssen den Wasserspiegel genau 15 Zentimeter hoch halten, wenn es zu viel ist oder zu wenig ist, geht der Reis ein, aber hier steht das Wasser genau richtig."
Botbajew ist Vorarbeiter der landwirtschaftlichen Kooperative, die hier auf 1.000 Hektar Reis anbaut. Stolz zeigt er zwischen saftig grünen Reisfeldern, wie der Wasserstand reguliert wird - mit einfachen Schiebern zwischen den Kanälen, die per Hand geöffnet oder geschlossen werden.
"Hier braucht man keine Pumpen, das Wasser läuft alleine aus dem Ili über die Felder, wir öffnen einfach die Kanäle, das Wasser läuft und bitteschön - wie viel Reis wir haben."
Das Wasser für die Reisfelder und für weitere 2.000 Hektar bewässerte Anbaufläche kommt direkt aus dem Ili, der ein paar Kilometer entfernt vorbei fließt. Die offenen Kanäle sind zum großen Teil unbefestigt, viel Wasser versickert im Boden. Dass der Ili in naher Zukunft weniger Wasser führen wird, beunruhigt den Landwirt nicht.
Doch Wissenschaftler sind sich sicher, dass am Balchaschsee die gleichen Fehler drohen wie am Aralsee: Missmanagement in der Landwirtschaft und fehlende Verbindlichkeit bei politischen Verträgen. Der Deutsche Martin Lindenlaub ist Hydrologe wie sein kasachischer Kollege Dschakup Dostaj. Lindenlaub arbeitet auch in Almaty, am CAREC, dem regionalen ökologischen Zentrum für Zentralasien. Hier werden Wasserprobleme auf regionaler Ebene untersucht - denn in Zentralasien birgt die ungleiche Verteilung von Wasser zwischen den Ländern großes Konfliktpotential.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als sich Kasachstan und seine Nachbarländer wirtschaftlich zunächst stabilisieren mussten, spielte das Thema keine große Rolle. Doch heute, mit der erneuten Produktionssteigerung in der Landwirtschaft, verschärfen sich die Konflikte wieder:
"Nach dem Ende der Sowjetunion gab es einen drastischen Rückgang der bewässerten Fläche. Dadurch gab es eine gewisse Erleichterung, aber inzwischen ist es so, dass die Flächen wieder ausgeweitet werden, die Produktion wird gesteigert, das heißt, der Wasserverbrauch steigt. Das ist sowohl in Kasachstan so, ist auch so auf der chinesischen Seite."
Lindenlaub sieht kein grundsätzliches Problem durch Bewässerung. Prinzipiell sei dies auch in trockenen Regionen wie Kasachstan möglich. Denn in Zentralasien - mit seinen riesigen, vergletscherten Hochgebirgen ist es eine der wasserreichsten Regionen - gibt es insgesamt nicht zu wenig Wasser. Doch das Wasser wird nicht effektiv, sondern verschwenderisch genutzt. Den natürlichen Bedingungen angepasstes Wassermanagement gibt es in ganz Zentralasien praktisch nicht, auch nicht am Balchaschsee. Und hier sieht Lindenlaub deshalb Versäumnisse auch bei der kasachischen Regierung:
"Was man eigentlich haben müsste, wäre eine Art Notfallplan für eine Trockenperiode. Das heißt, man muss schrittweise beginnen, erst die Bereiche der Landwirtschaft stillzulegen, die am meisten Wasser verbrauchen, sodass man abgestuft den Wasserverbrauch runterfahren kann. Einen solchen Notfallplan sollte man haben, hat man aber nicht. - Und das bedeutet, dann wird es Konflikte geben um die Wassernutzung. Und es ist zu erwarten, dass der See den kürzesten zieht, wie auch der Aralsee, ja, das ist zu erwarten."
Der kasachische Hydrologe Dschakup Dostaj plant demnächst eine Expedition mit chinesischen Kollegen. Zusammen wollen sie den Balchasch und seine Zuflüsse vermessen. Denn gemeinsame Daten - die notwendige Basis für konkrete Absprachen - gibt es bisher gar nicht. Ob die Ergebnisse der Expedition eine entscheidende Wende für den Balchasch bedeuten, bleibt fraglich. Kasachstan setzt auf die Brisanz der Daten und hofft, mit China zu einer Einigung zu kommen. Ob die chinesische Politik sich damit beeindrucken lässt, steht auf einem anderen Blatt.
"Die Fischerei-Brigaden sind mit den Booten weit draußen. Weil es schneller geht, haben wir dort umgeladen und bringen den Fisch mit LKW hierher zum Sammelpunkt."
Ermek Issagulow ist einer der Fischer und wohnt seit mehr als 50 Jahren in Kuigan. Rund 1.800 Menschen leben im Dorf; fast alle vom Fisch. Vier Fischerei-Kooperativen teilen sich die Fanggründe hier am westlichen Ende des Balchaschsees und am Ili, seinem größten Zufluss. Ermek kennt die Leute hier, wie er auch den Fluss und den Balchaschsee sehr genau kennt. Er registriert jede Veränderung, denn das könnte immer auch die Fischgründe betreffen:
"Früher, als ich noch nicht geboren war, war der Ili so breit - sehen Sie die Häuser da drüben? Das sind etwa 200 Meter, und jetzt sehen Sie, wie schmal er heute ist. Aber wenn es weniger Wasser gibt, flüchten die kleinen Fische aus dem Schilf, wo sie sich verstecken, in den Fluss. Doch dort sitzen die Raubfische, Zander, Welse, Schlangenkopffische und die fressen die kleinen. Die verschwinden dann also."
Noch gibt es genug Fisch im Balchaschsee, und wirkliche Sorgen macht sich Ermek nicht. Zusammen mit seinem Freund Oleg Schumacher fährt er an diesem Abend mit einem kleinen Motorboot noch einmal hinaus auf den Balchaschsee. Sie wollen ein paar Netze kontrollieren.
Zehn Kilometer liegen vor ihnen, mitten durch das Ili-Delta, wo sich der Fluss in Hunderte Kanäle auffächert. Nach einer verwirrenden Fahrt durch ein Labyrinth aus Flussarmen, kleinen Seen und meterhohem Schilf tut sich plötzlich der Balchaschsee auf, silbern glänzend, und mit mächtigem Wellengang.
Oleg: "Der Balchaschsee!"
Ermek: "Für uns 'das Meer'."
"Für uns ist er 'das Meer'", sagen Ermek und Oleg. Beide sehen im Balchasch eher einen Ozean, denn bei Sturm kann er den Fischern genauso gefährlich werden. Trotzdem ist er die Lebensgrundlage der Fischer hier. Im besten Monat des Jahres, im April oder Mai, verdienen Oleg und Ermek bis zu 10.000 Euro durch den Fischfang. Auch wenn das für die restlichen Monate des Jahres reichen muss, ist es ein außerordentlich hoher Verdienst im Vergleich zum kasachischen Durchschnittslohn von rund 360 Euro pro Monat. Weg wollen Ermek und Oleg deshalb auf keinen Fall.
Ermek: "Viele sind in die Stadt gegangen, aber dort gibt es mehr Autos als Menschen. Hier ist man sein eigener Herr: Wenn du essen willst, geh arbeiten, wenn du nicht essen willst, leg dich hin und schlaf."
Der Balchaschsee und die dichten Schilfgürtel an seinen Ufern und Zuflüssen sind auch Refugium für viele Vogelarten - Kraniche, Rohrdommeln oder Pelikane. Hier, mitten in der kasachischen Steppe, ist der Balchasch ein einmaliger Lebensraum. Und mit einer Fläche so groß wie Sachsen ist er der größte See in Zentralasien - jetzt, da der Aralsee, rund eintausend Kilometer entfernt, fast ausgetrocknet ist.
Vom Aralsee, dem einst viertgrößten Binnensee der Welt, der sich über das Territorium von Kasachstan und Usbekistan erstreckt, sind heute mehr als vier Fünftel der einstigen Seeoberfläche verschwunden. Ursache ist die Wasserverschwendung in der Landwirtschaft: Von den Zuflüssen des Aralsees, von Amudarja und Syrdarja, die durch Tadschikistan, Usbekistan und Kasachstan fließen, wurde Jahrzehnte lang so viel Wasser für den Anbau von Baumwolle und Reis abgezapft, dass kein Wasser mehr am Aralsee ankam - er trocknete aus. Für die Fischer Ermek und Oleg ist unvorstellbar, dass gleiches auch dem Balchaschsee widerfahren könnte:
Ermek: "Nein, das wird nicht passieren."
Oleg: "Auf keinen Fall. Früher waren hier schon ein paar von den Ili-Armen komplett ausgetrocknet, und heute? So tief sind die."
Doch die beiden irren sich. Kasachische Wissenschaftler warnen seit Jahren davor, dass dem Balchasch ein ähnliches Schicksal droht wie dem Aralsee.
Am geografischen Institut in Almaty, rund 500 Kilometer südlich vom Balchasch, hat man den See und seine Zuflüsse sehr genau im Auge. Im Hof des Instituts im Zentrum von Almaty steht ein kleines Motorboot auf einem Hänger. Damit fahren die Wissenschaftler regelmäßig auf den Balchaschsee, um Wasserstand und Wasserqualität zu messen. Dschakup Dostaj ist Hydrologe am geografischen Institut, er verfolgt die Entwicklung des Balchaschsees seit Jahren. Mit großer Sorge schaut er nach China, das im Osten an Kasachstan grenzt:
"China beginnt, seinen Westen zu entwickeln, dort gibt es Gas und Öl, aber kein Wasser. Trotzdem steigt der Wasserverbrauch - und bis heute können wir uns mit ihnen nicht über die Wassernutzung einigen."
Dostaj hat Grund zur Sorge, denn zu 80 Prozent wird der Balchaschsee aus einem einzigen Zufluss gespeist, dem Ili. Der aber kommt wie eine Reihe kleinerer Zuflüsse aus der westchinesischen Provinz Xinjiang, die unmittelbar an Kasachstan grenzt. China investiert in Xinjiang derzeit mehrere hundert Millionen Euro in neue Staudämme und Rückhaltebecken. Das Wasser wird in der Landwirtschaft und als Trinkwasser für neue Millionenstädte gebraucht. Dutzende Großprojekte an den größten Flüssen im Westen Chinas sind im Bau. Und einer dieser Flüsse ist der Ili, der nach Kasachstan und zum Balchaschsee fließt.
"Es ist realistisch, dass China praktisch bis zu 100 Prozent Wasser aus den oberen Flussläufen behalten wird."
Dostaj ist Mitglied einer chinesisch-kasachischen Kommission, die bereits 2001 gegründet wurde und die die grenzüberschreitende Wassernutzung regeln soll. Doch Dostaj kritisiert:
"Wir und die Chinesen halten unterschiedliche Regelungen für gerecht. Wir wollen eine gleichberechtigte Aufteilung des Wassers, also 50/50. Sie dagegen sagen, bei ihnen leben mehr Menschen, in Kasachstan wären es viel weniger. Doch durch eine solche Regelung würde der Balchasch verschwinden. Die Wissenschaftler haben dies schon verstanden. Aber die Politiker können sich nicht einigen."
Doch auf politischer Ebene vermeiden die Kasachen Kritik an China. Denn der Nachbar ist einer der wichtigsten Wirtschaftspartner Kasachstans. Dabei leben in Kasachstan rund drei Millionen Menschen vom und am Balchaschsee - sollte der Balchasch politischen Interessen geopfert werden, sind soziale und wirtschaftliche Spannungen vorprogrammiert. Denn nicht überall am Balchaschsee geht es den Menschen so gut wie den Fischern in Kuigan, am Ili-Delta.
Der Balchasch zieht sich auf einer Länge von rund 600 Kilometern durch die kasachische Steppe, gebogen wie eine Säbelklinge. Genau am anderen Ende des Sees liegt das Dorf Lepsy. Hier lebt Bolotbek Schalow mit seiner Familie. Er hat die Organisation "Arai" - zu deutsch "Morgenröte" - gegründet, um hiesigen Bauern und Fischern zu helfen und vor allem, um junge Leute zum Bleiben zu bewegen, wo es kaum noch Perspektiven gibt. Denn Arbeit gibt es in dieser Region kaum noch:
"Die wirtschaftliche Situation bei uns im Dorf ist sehr schwierig. Fast alle jungen Leute wollen in die Stadt. Jedes Jahr ziehen zwei, drei Familien aus Lepsy weg. Hier gibt es Dörfer in der Gegend, da ist es noch viel schlimmer. Die Leute haben nur noch die Viehzucht, um davon zu leben. Früher wurde hier viel Land bewässert, wir haben Zwiebeln angebaut, Tomaten, Gurken. Aber heute gibt es die Bewässerungskanäle nicht mehr."
Bolotbek Schalow steht am Ufer des Flusses Lepsy unweit seines gleichnamigen Heimatortes. Das andere Ufer ist rund 30 Meter entfernt, dazwischen rauschen und gurgeln schäumende Wassermassen über mächtiges Granit-Geröll hinweg. Die Lepsy mündet wie der Ili auch in den Balchasch, früher war sie die Grundlage für die Bewässerungswirtschaft in dieser Region.
"Wir sind hier am Ufer der Lepsy, hier teilt sich der Fluss. Ein Teil soll in einen Bewässerungskanal münden, aber Sie sehen ja, in was für einem Zustand der Kanal ist. Jedes Jahr haben wir diesen Damm repariert, aber er ist immer wieder weggespült worden und das Wasser ist zurück in die Lepsy geflossen, es gelangt also gar nicht in den Kanal. Ein Stückchen weiter ist der komplette Kanal mit Schlamm zugeschüttet. Man müsste ihn saubermachen, aber dafür fehlt uns das Geld."
Die maroden, nicht mehr funktionierenden Bewässerungskanäle sind für die Leute im Dorf Lepsy eine Katastrophe. Für den Balchaschsee sind sie möglicherweise ein Segen - wenn auch nur auf Zeit. Denn nicht überall am Balchaschsee sind die Folgen der Perestroika und dem anschließenden Zusammenbruch der Landwirtschaft heute noch so stark zu sehen wie in Lepsy. In einigen Orten haben private landwirtschaftliche Kooperativen Land gekauft, um in großem Stil Landwirtschaft zu betreiben. Und hier wird deutlich: Auch die Kasachen selber gehen viel zu großzügig mit der knappen Ressource Wasser um.
Ungefähr auf der Hälfte zwischen Kuigan und Lepsy liegt das Dorf Bach-Bachty. Es ist von hohen weißen Dünen umgeben, ein Wüstendorf wie aus dem Bilderbuch. Dennoch wird rund um Bach-Bachty Reis angebaut - und der muss künstlich bewässert werden. Denn er wächst nur dann, wenn er regelrecht überschwemmt ist, wie Landwirt Akylbek Botbajew zeigt:
"Sehen Sie, hier ist der Reis, wir müssen den Wasserspiegel genau 15 Zentimeter hoch halten, wenn es zu viel ist oder zu wenig ist, geht der Reis ein, aber hier steht das Wasser genau richtig."
Botbajew ist Vorarbeiter der landwirtschaftlichen Kooperative, die hier auf 1.000 Hektar Reis anbaut. Stolz zeigt er zwischen saftig grünen Reisfeldern, wie der Wasserstand reguliert wird - mit einfachen Schiebern zwischen den Kanälen, die per Hand geöffnet oder geschlossen werden.
"Hier braucht man keine Pumpen, das Wasser läuft alleine aus dem Ili über die Felder, wir öffnen einfach die Kanäle, das Wasser läuft und bitteschön - wie viel Reis wir haben."
Das Wasser für die Reisfelder und für weitere 2.000 Hektar bewässerte Anbaufläche kommt direkt aus dem Ili, der ein paar Kilometer entfernt vorbei fließt. Die offenen Kanäle sind zum großen Teil unbefestigt, viel Wasser versickert im Boden. Dass der Ili in naher Zukunft weniger Wasser führen wird, beunruhigt den Landwirt nicht.
Doch Wissenschaftler sind sich sicher, dass am Balchaschsee die gleichen Fehler drohen wie am Aralsee: Missmanagement in der Landwirtschaft und fehlende Verbindlichkeit bei politischen Verträgen. Der Deutsche Martin Lindenlaub ist Hydrologe wie sein kasachischer Kollege Dschakup Dostaj. Lindenlaub arbeitet auch in Almaty, am CAREC, dem regionalen ökologischen Zentrum für Zentralasien. Hier werden Wasserprobleme auf regionaler Ebene untersucht - denn in Zentralasien birgt die ungleiche Verteilung von Wasser zwischen den Ländern großes Konfliktpotential.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als sich Kasachstan und seine Nachbarländer wirtschaftlich zunächst stabilisieren mussten, spielte das Thema keine große Rolle. Doch heute, mit der erneuten Produktionssteigerung in der Landwirtschaft, verschärfen sich die Konflikte wieder:
"Nach dem Ende der Sowjetunion gab es einen drastischen Rückgang der bewässerten Fläche. Dadurch gab es eine gewisse Erleichterung, aber inzwischen ist es so, dass die Flächen wieder ausgeweitet werden, die Produktion wird gesteigert, das heißt, der Wasserverbrauch steigt. Das ist sowohl in Kasachstan so, ist auch so auf der chinesischen Seite."
Lindenlaub sieht kein grundsätzliches Problem durch Bewässerung. Prinzipiell sei dies auch in trockenen Regionen wie Kasachstan möglich. Denn in Zentralasien - mit seinen riesigen, vergletscherten Hochgebirgen ist es eine der wasserreichsten Regionen - gibt es insgesamt nicht zu wenig Wasser. Doch das Wasser wird nicht effektiv, sondern verschwenderisch genutzt. Den natürlichen Bedingungen angepasstes Wassermanagement gibt es in ganz Zentralasien praktisch nicht, auch nicht am Balchaschsee. Und hier sieht Lindenlaub deshalb Versäumnisse auch bei der kasachischen Regierung:
"Was man eigentlich haben müsste, wäre eine Art Notfallplan für eine Trockenperiode. Das heißt, man muss schrittweise beginnen, erst die Bereiche der Landwirtschaft stillzulegen, die am meisten Wasser verbrauchen, sodass man abgestuft den Wasserverbrauch runterfahren kann. Einen solchen Notfallplan sollte man haben, hat man aber nicht. - Und das bedeutet, dann wird es Konflikte geben um die Wassernutzung. Und es ist zu erwarten, dass der See den kürzesten zieht, wie auch der Aralsee, ja, das ist zu erwarten."
Der kasachische Hydrologe Dschakup Dostaj plant demnächst eine Expedition mit chinesischen Kollegen. Zusammen wollen sie den Balchasch und seine Zuflüsse vermessen. Denn gemeinsame Daten - die notwendige Basis für konkrete Absprachen - gibt es bisher gar nicht. Ob die Ergebnisse der Expedition eine entscheidende Wende für den Balchasch bedeuten, bleibt fraglich. Kasachstan setzt auf die Brisanz der Daten und hofft, mit China zu einer Einigung zu kommen. Ob die chinesische Politik sich damit beeindrucken lässt, steht auf einem anderen Blatt.