Auf dem Weg zu Erleuchtung und Verhängnis

Rezensiert von Josef Schmid |
Die Germanistin Sabine Appel nimmt den Leser mit auf einen Streifzug durch Nietzsches Leben, eine Bildungsreise ohne Belehrungsabsicht. Den Kapiteln stellt sie Ortsnamen voran und setzt Stichworte hinzu, die die jeweilige Station beschreiben.
Wer nach einer Nietzsche-Biografie greift, tut es in dem heimlichen Glauben, schon alles zu wissen. Doch zu diesem Glauben gehört auch das untrügliche Gefühl, dass sich um Nietzsches Werk ein schier unermesslicher Raum für Interpretationen und noch mehr für Projektionen erstreckt. Er zwingt Nietzsche-Kenner und -Verehrer zur Kenntnisnahme. Das gilt nun auch für das Buch der Germanistin Sabine Appel. Sie liefert bewusst keine Einführung. Sie unternimmt vielmehr einen Streifzug, eine Bildungsreise, und das - was gleich zu loben ist – ganz ohne Belehrungsabsicht. Ein Buchumfang von 260 Seiten deutet auf sorgfältige Auswahl. Die Autorin stellt in zehn Kapiteln die Ortsnamen voran und setzt Stichworte hinzu, die ein Licht werfen auf die Bedeutung der jeweiligen Station – auf einem Weg in Erleuchtung und Verhängnis.

Kindheit und Schulzeit werden gestreift, - das elterliche Pfarrhaus, das Nietzsche wohl in aller Ambivalenz lebenslänglich mit sich trug, wird deutlich. Dasselbe gilt für die Studentenzeit in Bonn und Leipzig, weil Nietzsche dort die Bekanntschaften gemacht hat, die für sein Leben bestimmend wurden. Dort traf ihn der Philologe Ritschl, der ihn an die Baseler Universität empfahl, und Richard Wagner, mit dem sich ein Lebenskomplex aus Gedeih und Verderb entrollen sollte. Dazu die Autorin:

"Kunst und Leben standen dem jungen Nietzsche im Widerspruch zur trockenen Wissenschaft, die kein organisches Eigenleben besaß. Es ging Nietzsche um die großen Fragen und Antworten, nicht mehr und nicht weniger, und damit um Philosophie, die übergeordnete Instanz aller Wissenschaften, die alle anderen krönte und ihnen erst die Grundlage gab. Schopenhauer hatte ihm einen Zugang zu ihr verschafft."

Mit seiner Berufung nach Basel bekam sein überbegabtes Überfliegerdasein, das seinen Freunden an ihm auffiel, nun professorales Gewicht. Mit dem Erstlingswerk "Geburt der Tragödie", einer eigenwilligen Umdeutung des Griechentums durch einen nicht-promovierten Jungphilologen, hielt Nietzsche seine Generalprobe für das Beschreiten von Sonderwegen.

Doch in Sabine Appels Buch - und das deckt sich mit der geistesgeschichtlichen Gewichtung - beginnt Nietzsches Leben so richtig mit dem Entlassungsgesuch aus dem Universitätsdienst wegen Migräne und Sehstörungen. In diesen nun folgenden Jahren verwirklicht sich der Untertitel "Wanderer und freier Geist". Sein Leben für Inspiration und Kritik an dem für ihn so unerträglichen Ungenügen von Mensch und Gegenwart war zugleich ein Wanderdasein ohne festen Wohnsitz, wenn auch in höchst vornehmen Orten: Nizza, Genua, Turin; Rom, Sorrent und Venedig, St. Moritz, Sils-Maria, jedoch in ungeheizten Dachkammern zur Nordseite.

Da begann die Zeit von Nietzsches Moralkritik, sein Kampf gegen die "modernen Ideen" von Demokratie, Frauenemanzipation bis "Socialismus". Durch ihn spricht bald Zarathustra und er kämpft um Erlösung und dabei für Dinge, die er an sich selbst nicht zu realisieren vermag wie Heiterkeit, Herzensleichtigkeit:

"Beschworen wird alle Leichtigkeit, alles Fliegen und Tanzen, und neben der Geistesfreiheit und Weltfülle, die hier ihren Ausdruck erhalten, liegt darin auch die ganze Anmut des Lebens begründet. Sie steht im Zeichen des zu überwindenden Christentums, gegen Weltverneinung und Leibfeindlichkeit, gegen lebenszersetzende Tugendbegriffe, gegen 'Hinterwelten' und Jenseitsvertröstungen und für ein volles Bekenntnis zum Diesseits."

Die Autorin betont, dass Nietzsche gerne Dinge emporhebt, die ihm und seiner Natur fernstehen, denen er selbst nicht gewachsen wäre. Das beginnt beim Gott des Rausches, Dionysos, "den er zum Gott erhob in sich selbst", bis zu "des Lebens Leichtwerden"(Zarathustra): Sabine Appel vermutet in den Kämpfen und Sehnsüchten nach Dingen, die er selbst nie repräsentieren könnte, die Wurzel seines beginnenden Leidens. Er kämpfte dadurch in seinem Inneren mit dem Widerpart der Leichtigkeit, dem "Geist der Schwere, welcher am Leben leidet und sich das Leben beschwert".

Treffend und dieser Linie folgend beschreibt sie das Verhältnis Nietzsches zu Richard Wagner:

"Wagner war alles, was Nietzsche gerne sein wollte: charismatisch, sinnlich, ein Vollblut-Künstler, selbstbewusst bis zur Egomanie und von ungebrochener Durchsetzungskraft, ein Gesellschaftsmensch außerdem. Es ist nicht ganz ungefährlich für den jungen sensiblen Nietzsche … hier dieser vereinnahmenden Persönlichkeit zu begegnen, die in mancherlei Hinsicht seine ungelebten Potentiale verkörperte. Und es ging ja auch nicht gut, diese Freundschaft, die hier begann."

Nietzsches totale Hingabe an das Wagnersche Projekt; seine Bereitschaft als Propagandist und Vortragsreisender, dafür die Basler Professur an den Nagel zu hängen, endete in Sorrent 1878, wo man sich zwar sah, aber sich nichts mehr zu sagen hatte. "Parsifal", von Wagner übergeben, schien wie ein Verrat an der antichristlichen Mission. Nietzsche übergab "Menschliches Allzumenschliches" – "als ob sich zwei Klingen kreuzten", so Nietzsches treffende Beschreibung.

Nietzsches Verhältnis zu seinen großen und einst verehrten Vorbildern lässt sich in eine Phase der Umarmung von Mensch und Geist, in eine darauffolgende Entwindung und schließlich ihre Überwindung teilen. In "Ecce Homo", das er in der letzten wachen Lebensphase noch aus sich herauspresste, hat er über solche Trennungsschritte Bilanz gezogen.

Die Autorin hat sich das Verhältnis Nietzsches zu Frauen angelegen sein lassen. Es ist "biographisch nicht besonders ergiebig" und eine traurige Bilanz für einen Jünger des Dionysos. Doch da gibt es von Malwida von Meysenbug, die "kämpferische und beredte Zeugin der Zeit", "1848erin", Frauenrechtlerin und Demokratin zu erzählen.

Lou Andreas Salomé ist hier nicht Femme fatale der Kulturgeschichte, bestürmt und begehrt, und die Nietzsche mehr als einen Korb gab, sondern Gesprächspartnerin. Sie macht ihn in Waldspaziergängen darauf aufmerksam, dass in jedem Gottesvernichter ein Religionsgründer steckt, den alten Gott zu beerben und Ewigkeiten und "Ewige Wiederkünfte" zu überblicken.

"Wieder lehnte sie ab, doch die Tatsache, dass sich für Nietzsche nichts änderte nach dieser Ablehnung, dass er nach wie vor euphorisiert blieb und festhielt an der Idee dieser Arbeitsgemeinschaft, zeigt, dass es ihm nicht in erster Linie ums Heiraten ging – wiewohl er auch hoffen mochte, das könne noch kommen -, sondern dass er beseligt war, trunken vor Glück, hier einen Menschen gefunden zu haben, eine reizende junge Frau außerdem, die seine Gedankenwelt mittragen konnte. Eine intimere Form von Zusammensein war für Nietzsche vermutlich kaum vorstellbar."

Die Autorin vermerkt Nietzsches Tod im August 1900 in Weimar wie beiläufig. Darin liegt etwas Wahres; denn sein Nachleben hatte schon mit seinem mentalen Tod im Januar 1889 in Turin eingesetzt. Der physische Tod bedeutete kaum eine Zäsur für seine wachsende Verehrergemeinde. Die Geschichte des Nietzsche-Archivs in der "Villa Silberblick" hatte schon begonnen. Die geistige Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts bereitete sich auf das "Erdbeben Nietzsche" vor und auf seine willkürlichen Auslegungen. Der Dichter des "Nachtliedes", welcher der Autorin nahegeht: "Nacht ist es; nun reden lauter alle springenden Brunnen", wird Wegbereiter "großer Politik".

Sabine Appel: Friedrich Nietzsche. Wanderer und freier Geist
Verlag C.H. Beck, München 2011
Cover: "Friedrich Nietzsche. Wanderer und freier Geist" von Sabine Appel
Cover: "Friedrich Nietzsche. Wanderer und freier Geist" von Sabine Appel© C.H. Beck