Auf dem Zenit ihres Könnens
Dass sie vergessen konnte, für die Stasi gearbeitet zu haben, lässt der Erzählerin keine Ruhe. Christa Wolfs Erklärungssuche ist beeindruckend.
Es geht ums Ganze in Christa Wolfs neuem Buch "Stadt der Engel". Deshalb ist auch die Frage, die sich die Autorin immer wieder stellt, von zentraler Bedeutung: "Wie konnte ich das vergessen?" Das Ereignis, das ihr Kopfzerbrechen bereitet, liegt 33 Jahre zurück. Damals, 1959, schenkte sie Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit Gehör, die später Stasi-Akten über sie anlegten. Eher unbedeutend nehmen sich jene 48 Seiten "Täterakte" gegenüber den 42 Ordnern mit Spitzelberichten aus.
Doch was bleibt, ist ein Makel: IM. Dass sie diese Episode vergessen konnte, lässt der Erzählerin keine Ruhe. Sie, die Erinnern als wesentliches Moment ihrer schriftstellerischen Arbeit begreift, hat eine marginale Episode vergessen, die Anfang der 90-er Jahre alles andere als unbedeutend ist – ihr bisheriges Leben wird zur Disposition gestellt. Während sie versucht, sich zu erinnern, ist das Land, dem sie sich zuwenden muss, bereits verschwunden. Doch es hat Spuren hinterlassen. Santa Monica, wo sie 1992/93 auf Einladung des Getty-Centers weilt, wird zum Ausgangspunkt, von dem aus es hinabgeht, dorthin, wo im Verborgenen die Erinnerungen lagern.
Eine andere Frage wird ihr in der Fremde immer wieder gestellt: "What about Germany?" Ihr bleibt nicht verborgen, dass darin die Frage mitschwingt: "What about you?" Der Roman ist eine Antwortsuche, wobei Schreiben zur Selbsterkundung wird.
Die Erzählerin dringt in unterschiedliche Schichten der eigenen Biographie vor und sie gerät bei dieser archäologischen Arbeit zugleich in die Untiefen der DDR-Geschichte. Was sie findet, zeigt sich vor dem amerikanischen Hintergrund in anderem Licht. Auch das Experiment Sozialismus, für das sie sich engagiert hat. Es war so noch nicht gewagt worden und in Ermangelung einer Alternative hielt die Erzählerin an dem Traum fest, auch dann noch, als sie bereits ahnte, dass er misslingen würde.
Als im Herbst 1989 Bewegung in die versteinerten Verhältnisse kommt, hat es den Anschein, als könnte der Traum doch noch in Erfüllung gehen. Lang währt die Hoffnung nicht. Hoffnung, ließe sich mit Ernst Bloch sagen, ist enttäuschbar‚ "aber sie nagelt doch wenigstens eine Flagge an den Mast".
Nach der Zäsur von 1989, und den gegen sie erhobenen Vorwürfen, verstellt der Erzählerin nichts mehr den Blick – keine Utopie liegt mehr auf der Lauer. Es gibt ihn nicht mehr, jenen blinden Fleck, der das Urteilsvermögen trübt. Sie schaut genau hin.
Das wäre die Alternative gewesen, als sie noch die Wahl hatte. Sie hat sie ausgeschlagen und blieb in der DDR, was Unverständnis hervorrief. Nun erntet sie wieder Kopfschütteln. Denn sie will aus dem Land nicht weichen, in dem der Stab über sie gebrochen wird. In Santa Monica lernt sie Freunde kennen, die ihr helfen. Viele von ihnen gehören zur second generation der jüdischen Exilanten.
Einer von ihnen ist Peter Gutmann, der ein Buch über Walter Benjamin schreiben will. Auf diesen Hoffnungsphilosophen, dem Glück nicht beschieden war, wird mehrfach in "Stadt der Engel" verwiesen. Fortschritt hat Benjamin jenen Sturm genannt, der vom Paradiese her weht. Er treibt einen Engel rückwärts in die Zukunft, die er nicht sehen kann. Er sieht nur die Toten und Erschlagenen, die er gern erwecken würde. Eine Vertraute dieses Engels ist Angelina, ein "schwarzer Engel", der gegen Ende des Buches der Ich-Erzählerin zur Seite steht.
Der Roman umspannt das 20. und die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts. In den Verwerfungen dieser Epoche verortet Christa Wolf ihre Biografie. Wie ihr das gelingt, ist beeindruckend. Leicht, fast schwerelos wechselt sie von einer Zeitebene in die andere. Und obwohl es ums Ganze geht, findet Christa Wolf einen Erzählton, dem ein feiner Humor unterlegt ist und der gefangen nimmt. "Stadt der Engel" ist alles andere als ein Alterswerk: Die Erzählerin ist auf dem Zenit ihres Könnens. Ein großartiges, ein wichtiges Buch – ein Manifest, das erwartet wurde und gebraucht wird. Großartig: Gönnen Sie sich einen Whiskey, Madame!
Besprochen von Michael Opitz
Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud
Suhrkamp, Berlin 2010
416 Seiten, 24,80 Euro
Zum Thema: "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud"
Doch was bleibt, ist ein Makel: IM. Dass sie diese Episode vergessen konnte, lässt der Erzählerin keine Ruhe. Sie, die Erinnern als wesentliches Moment ihrer schriftstellerischen Arbeit begreift, hat eine marginale Episode vergessen, die Anfang der 90-er Jahre alles andere als unbedeutend ist – ihr bisheriges Leben wird zur Disposition gestellt. Während sie versucht, sich zu erinnern, ist das Land, dem sie sich zuwenden muss, bereits verschwunden. Doch es hat Spuren hinterlassen. Santa Monica, wo sie 1992/93 auf Einladung des Getty-Centers weilt, wird zum Ausgangspunkt, von dem aus es hinabgeht, dorthin, wo im Verborgenen die Erinnerungen lagern.
Eine andere Frage wird ihr in der Fremde immer wieder gestellt: "What about Germany?" Ihr bleibt nicht verborgen, dass darin die Frage mitschwingt: "What about you?" Der Roman ist eine Antwortsuche, wobei Schreiben zur Selbsterkundung wird.
Die Erzählerin dringt in unterschiedliche Schichten der eigenen Biographie vor und sie gerät bei dieser archäologischen Arbeit zugleich in die Untiefen der DDR-Geschichte. Was sie findet, zeigt sich vor dem amerikanischen Hintergrund in anderem Licht. Auch das Experiment Sozialismus, für das sie sich engagiert hat. Es war so noch nicht gewagt worden und in Ermangelung einer Alternative hielt die Erzählerin an dem Traum fest, auch dann noch, als sie bereits ahnte, dass er misslingen würde.
Als im Herbst 1989 Bewegung in die versteinerten Verhältnisse kommt, hat es den Anschein, als könnte der Traum doch noch in Erfüllung gehen. Lang währt die Hoffnung nicht. Hoffnung, ließe sich mit Ernst Bloch sagen, ist enttäuschbar‚ "aber sie nagelt doch wenigstens eine Flagge an den Mast".
Nach der Zäsur von 1989, und den gegen sie erhobenen Vorwürfen, verstellt der Erzählerin nichts mehr den Blick – keine Utopie liegt mehr auf der Lauer. Es gibt ihn nicht mehr, jenen blinden Fleck, der das Urteilsvermögen trübt. Sie schaut genau hin.
Das wäre die Alternative gewesen, als sie noch die Wahl hatte. Sie hat sie ausgeschlagen und blieb in der DDR, was Unverständnis hervorrief. Nun erntet sie wieder Kopfschütteln. Denn sie will aus dem Land nicht weichen, in dem der Stab über sie gebrochen wird. In Santa Monica lernt sie Freunde kennen, die ihr helfen. Viele von ihnen gehören zur second generation der jüdischen Exilanten.
Einer von ihnen ist Peter Gutmann, der ein Buch über Walter Benjamin schreiben will. Auf diesen Hoffnungsphilosophen, dem Glück nicht beschieden war, wird mehrfach in "Stadt der Engel" verwiesen. Fortschritt hat Benjamin jenen Sturm genannt, der vom Paradiese her weht. Er treibt einen Engel rückwärts in die Zukunft, die er nicht sehen kann. Er sieht nur die Toten und Erschlagenen, die er gern erwecken würde. Eine Vertraute dieses Engels ist Angelina, ein "schwarzer Engel", der gegen Ende des Buches der Ich-Erzählerin zur Seite steht.
Der Roman umspannt das 20. und die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts. In den Verwerfungen dieser Epoche verortet Christa Wolf ihre Biografie. Wie ihr das gelingt, ist beeindruckend. Leicht, fast schwerelos wechselt sie von einer Zeitebene in die andere. Und obwohl es ums Ganze geht, findet Christa Wolf einen Erzählton, dem ein feiner Humor unterlegt ist und der gefangen nimmt. "Stadt der Engel" ist alles andere als ein Alterswerk: Die Erzählerin ist auf dem Zenit ihres Könnens. Ein großartiges, ein wichtiges Buch – ein Manifest, das erwartet wurde und gebraucht wird. Großartig: Gönnen Sie sich einen Whiskey, Madame!
Besprochen von Michael Opitz
Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud
Suhrkamp, Berlin 2010
416 Seiten, 24,80 Euro
Zum Thema: "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud"