Der Beitrag wurde erstmals am 10. November 2021 ausgestrahlt.
Auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs in Frankreich
Was damals passierte, darf nicht vergessen werden
An den mörderischen Stellungskrieg in Nord- und Ostfrankreich von 1914 bis 1918 erinnern heute zahlreiche Denkmäler, Friedhöfe und Museen. Privatleute kämpfen darum, dass auch aus den Schlachtfeldern Erinnerungsorte werden. (Erstsendung: 10.11.2021)
Das schlichte Holzkreuz sieht man schon von Weitem. Aber der Lochnagar-Krater tut sich erst an der niedrigen Brombeerhecke auf, die seinen Rand begrenzt. Ein grasbewachsener Schlund, 90 Meter breit und 21 Meter tief.
Es ist der 1. Juli, früher Morgen. Julie Thomson steht unter dem Kreuz und hält ihre Armbanduhr fest im Blick. Die Britin leitet die alljährliche Erste-Weltkriegs-Zeremonie an diesem Erinnerungsort in der Somme, 160 Kilometer nördlich von Paris. Vor dem Krater reiht sich die "Somme Battlefield Pipe Band" auf. Ein Dutzend Trommler und Dudelsackpfeifer, alles Franzosen in Schottenröcken. Wie eine Ehrengarde an der Kante des Abgrunds. Um sie herum haben sich etwa 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer versammelt.
Um Punkt 7.28 Uhr bläst Julie in eine Trillerpfeife, einige Zuschauer tun es ihr nach. Die halbstündige Gedenkfeier beginnt.
"Lochnagar ist ein ganz besonderer Ort, ein einzigartiger Schauplatz von Zerstörung, Konflikt und Leid", sagt Julie Thomson. "Diese sichtbare Wunde im Erdreich schlägt eine Zeitbrücke von dem schicksalhaften 1. Juli 1916 zu unserem heutigen Leben. Wir denken an all die Männer, die an jenem Sommertag fürchterliche Gewalt erleben mussten. Heute kommen wir in Lochnagar in Frieden zusammen und nehmen uns hier vor, ein Leben zu führen, das diesen Männern würdig ist."
"Allein auf diesem Feld sind 6500 Briten gefallen"
Ehemann David filmt die Szene und stellt sie live ins Internet, für all jene, die wegen der Pandemie nicht dabei sein können. Vor Corona seien immer Hunderte von Briten in Bussen oder privat für die Zeremonie angereist, sagt er, und erklärt, was an diesem Ort geschehen ist:
"Vor 105 Jahren, es war ein Samstag, lag die 34. britische Division 150 Meter weiter unten im Tal. Um 7.28 Uhr sind hier 28 Tonnen hochexplosiver Sprengstoff detoniert und haben den Krater gebildet. Zwei Minuten später mussten die Soldaten den Hang hinauf marschieren, um das Gelände einzunehmen. Die aufgehende Sonne am blauen Himmel hat sie geblendet."
Britische Pioniereinheiten hatten monatelang Tunnel gegraben und enorme Sprengladungen unter den deutschen Linien platziert. 19 Minen wurden nahezu gleichzeitig zur Explosion gebracht. Die Ladung am Ende des Lochnagar-Tunnels – so benannt nach einem schottischen Berg – war eine der stärksten und riss daher auch einen besonders großen Trichter. Die Sprengungen waren der Auftakt zur Schlacht an der Somme. Aber der britische Angriff kam nur stockend voran. Die deutschen Soldaten schossen zurück und viele Briten flüchteten in den Krater, wo sie erst recht zur Zielscheibe wurden.
"Allein auf dem Feld dort vorne sind 6500 Briten gefallen. Es war die höchste Konzentration von Verlusten am ersten Tag der Schlacht an der Somme, deshalb wird es auch das blutigste Feld an der Westfront genannt. Viele der Opfer wurden bis heute nicht geborgen. Die Nachkommen, und viele andere Menschen auch, können hier regelrecht spüren, was die Soldaten erlitten haben. Deshalb zieht sie dieser Ort so an."
Beim Gelöbnis ist kein deutscher Vertreter dabei
David Thomson steigen Tränen in die Augen, er dreht sich abrupt um. Dann filmt er wieder die Erinnerungszeremonie mit kurzen Reden, Gedichten, Schweigeminute und der Niederlage von Kränzen aus künstlichem Klatschmohn, der britischen Erinnerungsblume für die Gefallenen. Auch jetzt blüht roter Mohn am Feldrand. Abschließend wird das sogenannte "Lochnargar-Gelöbnis" vorgetragen, wie immer in drei Sprachen. Weil kein deutscher Vertreter anwesend ist, übernimmt der Niederländer Marcel Gouw den deutschen Part:
"In Gedenken an alle, die im Krieg gelitten haben und denen, die noch immer leiden, versprechen wir unser Leben zu leben. Mit mehr Mitgefühl und Güte, Verständnis und Vergebung, Versöhnung und Einheit wollen wir nun ihnen zu Ehren Frieden führen."
Ein grauhaariger Urlauber in Radlershorts geht auf den Niederländer zu. Der Mann aus Tübingen sagt, dass er sich als Deutscher hier tief betroffen fühlt.
Julie und David verabschieden sich von einigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die sie persönlich kennen. Das Ehepaar ist in La Boisselle zu Hause, so heißt das Dorf neben dem Trichter. Dort betreiben sie ein Bed and Breakfast. David übernimmt auch Führungen in der Gegend und Julie hilft Briten, die auf Spurensuche sind, die Kriegsgeschichte ihrer Vorfahren zu recherchieren. Wo ihr Großonkel gefallen und beerdigt ist, weiß sie nicht. Aus Davids Familie hat niemand im Ersten Weltkrieg gekämpft. Dennoch ist der Lochnagar-Krater Grund dafür, dass das Ehepaar nach Frankreich ausgewandert ist.
"Vor zehn Jahren haben wir unser Leben völlig umgekrempelt, um selbst Teil dieser wunderschönen Landschaft zu werden und dessen, was hier passiert ist", sagt Julie. Sie ist 55, David 60 Jahre alt. Sie hat früher in einem Londoner Ingenieurbüro gearbeitet, er war Geschäftsführer in Sussex. Eine Postkarte machte sie auf den Lochnagar-Krater neugierig. Bei einem Frankreichurlaub in den 1990ern besichtigten sie den Ort und hatten, wie beide sagen, den "Wow-Effekt": Der Anblick des Kraters traf sie wie ein Schlag. Zufällig sind sie dort einem Landsmann begegnet, der die Brombeerhecke stutzte. Es war der Eigentümer Richard Dunning.
Eine offene Kriegswunde mitten im Ackerland
"Richard hat Lochnagar 1973 entdeckt", sagt David. "Für ihn war es eine der letzten offenen Kriegswunden mitten im Ackerland. Er hat den Krater gekauft. Andernfalls wäre er wohl aufgefüllt worden, genau wie ein anderer Trichter in der Umgebung als Müllgrube."
Dunning bat die damals noch jungen Leute, ihm beim Heckenschneiden zu helfen. Wenig später traten Julie und David dem Unterstützerkreis bei, der auch Marcel Gouw aus Amsterdam angezogen hat. Richard Dunning, mittlerweile fast 80 Jahre alt, hat eine Stiftung gegründet und ihr den Krater übertragen, "damit dessen Zukunft für alle kommenden Generationen gesichert ist und man hier für immer über die Geschichte nachdenken kann und warum Menschen in den Krieg ziehen", so David.
Rund um den Lochnagar-Krater wachsen Zuckerrüben. Die Felder sind eingeebnet, die Kriegsspuren längst verwischt. Nur am Dorfrand von La Boisselle ist noch eine seltsam verformte Buckelwiese zu sehen, groß wie drei Fußballfelder. Ein Schild informiert, dass französische Truppen den deutschen Vormarsch an diesem Ort, wo damals ein Bauernhof stand, zum Stehen brachten, im September 1914. Anschließend hielten sich die Feinde rund um den so genannten Granathof fast zwei Jahre fast bewegungslos in Schach. Nur dass die Franzosen zwischendurch von ihren britischen Alliierten abgelöst wurden. Für diese heißt der Ort bis heute "The Glory Hole".
Den Anstoß zum Gedenken gaben Briten
Die Wiese ist abgezäunt, Claudie Llewellyn sperrt ein Gartentor auf und steigt auf eine Anhöhe zwischen zwei Sprengtrichtern. Die 74-Jährige, eine große Frau mit hochgesteckten grauen Haaren, hat das Terrain von ihrem Vater geerbt:
"Die feindlichen Soldaten saßen sich hier auf engstem Raum gegenüber. Die Franzosen fingen schon im Dezember 1914 an, Tunnel zu graben, weil sie unter den deutschen Linien Minen verlegen wollten. Die Deutschen machten es genauso. Beide Seiten haben 18 Monate lang versucht, die gegnerischen Stellungen zu sprengen. Auf einer Frontlinie von nur 280 Metern. Historikern zufolge gab es hier 110 Explosionen."
Das alles hat sie aber erst erfahren, nachdem ihre damals noch lebenden Eltern einen Teil des Grundstücks verkauft hatten und dort 2004 ein kleines Haus gebaut werden sollte.
"Einige Briten, vor allem die Reiseleiter unter ihnen, haben die Bautafel gesehen. Daraufhin sind sie regelrecht auf die Barrikaden gegangen. Auf ihren Internetforen zum Ersten Weltkrieg musste ich lesen: 'Was für eine Schande. Die Franzosen sind ein Volk ohne Gedächtnis.' Aber es ist stimmt: Für meine Schwestern und mich waren das bis dahin alte Sprengtrichter, mehr nicht. Wir haben dann in Archiven geforscht und herausgefunden, dass hier ein Minenkrieg getobt hat."
Den Hausbau konnte sie nicht mehr stoppen. Drei Jahre später haben Claudie Llewellyn und ihre Familie aber einen Antrag auf Denkmalschutz gestellt, um wenigstens das restliche Feld zu schützen.
"Eine Inspektorin hat sich das Gelände angeguckt. Sie meinte, es sei ja nichts zu sehen. Damals war alles zugewuchert. Wir haben das Gestrüpp beseitigt und dann mehrmals bei der Behörde nachgehakt, ohne Erfolg."
Das Gelände sollte Bauland werden
2010 ließ das Rathaus von La Boisselle einen Bebauungsplan erstellen. Weil das Feld eine Lücke am Rand der Hauptstraße bildet, sollte nun sogar das ganze Terrain als Bauland ausgewiesen werden. Claudie Llewellyn lief dagegen Sturm. Vergeblich.
"Schließlich habe ich britische Archäologen kontaktiert. Sie waren unweit von hier tätig, um einen Flammenwerfer auszugraben. Ich habe sie gefragt, ob sie mein Gelände mit ihrem GPS vermessen könnten. Zwei Wochen später bekam ich eine Luftaufnahme, die sie mit alten Tunnelplänen abgeglichen hatten. Darauf war ein großes Netz von unterirdischen Minengängen zu erkennen. Ich war völlig platt, dass sich so etwas unter unseren Füßen verbirgt."
Mit diesem Beweis gelang es ihr, den Bebauungsplan zu ändern. Die Urbanismusbehörde erklärte das Feld zu einer sogenannten "natürlichen Zone für Erinnerungstourismus", was sie aber jederzeit wieder rückgängig machen kann. Genau das befürchtet Claudie für den Fall, dass sie ihr Feld eines Tages nicht mehr unterhalten und für Besucher öffnen kann.
Das britische Archäologen-Team aber war neugierig geworden, wollte das Gelände erschließen und einen Dokumentarfilm drehen. Claudie Llewellyn – sie ist selbst mit einem Briten verheiratet, daher der britische Nachname – trat für drei Jahre die Rechte ab. Die Fachleute legten Teile der alten Stellungen frei und öffneten eine Minengalerie.
Claudie gründete einen Freundes- und Unterstützerverein. Auf Anfrage führt sie Besucherinnen du Besucher auch gern in den Stollen. Deshalb hat sie an diesem Wintertag ein Institut für Umweltrisiken bestellt: Die Techniker sollen die Anlage kontrollieren. Ein paar Vereinsmitglieder sind ebenfalls zugegen, unter ihnen der deutsche Historiker Markus Klauer.
Noch fast 100 Jahre später werden Gefallene geborgen
Der Eingang zur Minengalerie verbirgt sich in einer Mulde. Der Stollen führt leicht bergab. Seitlich sind Stützpfeiler und Lüftungsrohre zu sehen, auf dem Boden liegen verrostete Corned-Beef-Dosen, gewiss Überbleibsel von Feldrationen, sagt Klauer. Der ehemalige Offizier der Bundeswehr hat mehrere Bücher zur Militärgeschichte des Ersten und Zweiten Weltkriegs geschrieben.
"Das hier ist ein alter Eingang, der durch die französischen Kräfte gegraben worden ist, durch die französischen Pioniere", erklärt er. "Und dieser Eingang – wir sind jetzt nicht sehr weit weg von der Trichterlinie, die ja das Niemandsland darstellt – war also zu dicht an der vorderen Linie. Dann haben die britischen Pioniere einen neuen Eingang gegraben, der 30 bis 40 Meter weiter hinten liegt und damit natürlich mehr Sicherheit bietet für die gesamte Anlage."
Die Techniker packen ihre Geräte aus, messen den Kohlendioxid-Gehalt im Tunnel und prüfen dessen Stabilität. Später läuft Llewellyn mit ihren Mitstreitern noch einmal über die ehemalige Frontlinie. Im Schatten einer Esche ist ein Holzkreuz aufgestellt. L. Fowkes, steht darauf, 4. Februar 1916, 21 Jahre alt. Genau hier konnte sie zusehen, wie die Archäologen im November 2013 zwei britische Gefallene geborgen haben, die später auch namentlich identifiziert wurden.
"Sie haben auch zwei Franzosen gefunden, dort am Kraterrand, und Teile eines Deutschen: ein Bein in einem Stiefel. Es war in einer Stacheldrahtrolle verheddert. Ich glaube, dass die Leiche nicht vollständig war. Sie konnte jedenfalls nicht geborgen werden, weil das Erdreich sonst womöglich in den Krater abgerutscht wäre."
Krater wie schlecht verheilte Narben
Die ehemalige Kampfzone ist unübersichtlich, große und kleine Krater gehen ineinander über, wie schlecht verheilte Narben. Ihre Ränder sind oval oder auch leicht gezackt. Indiz dafür, dass sich jeweils mehre Sprengungen überlagert haben. Markus Klauer deutet über einen solchen Trichter hinweg: Auf der anderen Seite hätten sich damals die Deutschen verschanzt.
"Hier gab es Unterstände, also unterirdische Anlagen, in denen die Soldaten sich vor dem Artilleriefeuer schützen konnten. Und hier gab es natürlich auch die Minen-Kriegsanlagen. Also das Pendant zu der britischen Seite, das, was wir gerade eben gesehen haben. Und im Moment ist alles noch unter der Grasnarbe versteckt.
Und dann stellt sich natürlich wie immer die Frage: Lässt man es so, wie es jetzt ist oder versucht man vorsichtig, einen entsprechenden Zustand wiederherzustellen, wie er vermutlich im Krieg gewesen ist? Das ist viel Arbeit und das bedarf natürlich einer ständigen Unterhaltung. Und dann soll natürlich auf keinen Fall sowas wie Disneyland entstehen, sondern wenn, dann muss es möglichst authentisch sein."
"Die blutigste Schlacht des ganzen Kriegs"
Zur Freundesgruppe gehört auch der Brite Nigel Cave. Er öffnet den Kofferraum seines Autos, deutet auf einen Stapel Bücher - alles Werke von ihm. Der Schriftsteller hat fast 50 Bücher über die Schlachten des Ersten Weltkriegs verfasst: "Die Schlacht an der Somme war die blutigste Schlacht des ganzen Kriegs. In nur viereinhalb Monaten gab es hier viel mehr Tote und Verletzte als in Verdun", sagt er.
"Aber die Erinnerung daran wird heute fast nur noch von uns Briten gepflegt. Die Franzosen pilgern nach Verdun und die Deutschen pilgern nach Verdun. Aber Briten werden die Somme auch in 100 Jahren noch besuchen. Wir müssen dafür sorgen, dass Orte wie dieser auch dann noch vorhanden sein werden."
Genau diese Verantwortung lastet auf Claudie Llewellyn, weil ständig neue Schwierigkeiten auftauchen. So hat die Sicherheitsprüfung vom Winter zwar ergeben, dass der Tunnel stabil ist. Doch im Februar hat es besonders viel geregnet und dann setzte auch noch Frost ein:
"Ich habe einen Haufen Steine auf dem Boden gefunden. Sie sind von der Decke abgesprungen. Die Stromkabel hängen auch nicht mehr richtig an der Wand. Und jetzt faulen die Holzbretter, mit denen wir den Boden schützen. Wir haben es nicht geschafft, sie auszutauschen, wegen des Lockdowns."
Claudie Llewellyn zeigt ihren Besuchern nur noch das Buckelfeld. Den Minentunnel zu öffnen, traut sie sich nicht mehr.
In den Steinbrüchen gibt es unzählige Spuren von Soldaten
Zwei Autostunden nordöstlich von Paris, im Dreieck der Städte Laon, Soissons und Reims, liegt der "Chemin des Dames". So heißt ein 26 Kilometer langer Höhenzug mit weitem Blick in die Landschaft. Die deutsche Armee hat den "Damenweg" schon im September 1914 erobert und hielt ihn drei Jahre lang besetzt. Dabei hat sie die vielen ehemaligen Steinbrüche der Gegend genutzt. Im größten von allen, dem Steinbruch Froidment, sind noch unzählige Spuren von Soldaten zu sehen.
Dass sie erhalten sind, ist vor allem Gilles Chauwin zu verdanken. Der 68-Jährige – hageres Gesicht, graues Stoppelhaar, eckige Brille – geht über ein Feld auf einen mit Efeu bewachsenen Abhang zu. Dort ist eine Gittertür eingelassen, der Eingang zum Steinbruch. Chauwin sperrt auf, betritt einen kleinen Vorraum mit einem Rost im Boden, schließt ein weiteres Schloss auf:
"Wir müssen den Steinbruch gut absichern, weil es viele böswillige Leute gibt. Sie kommen her, um zu plündern."
Vor etwa 30 Jahren hat der ehemalige Autolackierer aus dem nahegelegenen Städtchen Laon einen Verein gegründet, der den Steinbruch betreut und auf Nachfrage auch für Besucherinnen und Besucher öffnet. Er zieht eine Leiter aus dem Erdloch, sichert sie notdürftig mit einem Strick am Schacht. An ihrem Fuß ist eine zweite Leiter befestigt. Gilles Chauwin klettert voran, acht Meter in die Tiefe. Unten ist es völlig dunkel. Nur der Strahl seiner Stirnlampe erhellt einen breiten Gang, links und rechts zweigen Seitengänge ab.
"Das 20. Infanterieregiment Graf Tauentzien von Wittenberg musste den Steinbruch herrichten. Es hat Lüftungssysteme, Strom- und Telefonleitungen gelegt, außerdem wurden direkte Zugänge zu den Schützengräben gegraben. Die Deutschen haben die verschiedenen Steinbrüche auch so miteinander verbunden, dass die Soldaten den ganzen Höhenzug unterirdisch durchqueren konnten."
Schon im Mittelalter wurde hier Kalkstein abgebaut, zum Beispiel für den Bau der berühmten gotischen Kathedrale von Laon. Gilles beleuchtet eine Wand. In dem rauen Fels wurde ein Rechteck geschliffen und viereckig umrandet, wie ein Blatt in einem Heft. "Mit Gott für König und Vaterland" ist darauf zu lesen, in blauer Tinte und akkurater Sütterlinschrift, außerdem die Namen der Soldaten Fritz Hase, Zajak, Hörnicke und Hoer. Ein paar Schritte weiter hingegen hat ein Soldat seiner Wut Luft gemacht. Unter dem Spruch "Gott strafe den Kaiser" ist ein blutrünstiges Wildschwein mit Pickelhaube gezeichnet. Gilles Chauwin deutet auf eine Datumsangabe: 31. Juli 1917.
"Am 16. April 1917 haben die Franzosen ihren großen Angriff gestartet. Ende Juli sitzen die Deutschen immer noch hier drinnen, und die Franzosen sind da draußen. Man sieht auch, dass jemand versucht hat, die Inschrift herauszuschneiden. Deshalb musste der Steinbruch unbedingt zugesperrt und unter Denkmalschutz gestellt werden."
Der Steinbruch Froidment wurde zum Kulturdenkmal erklärt
Die französischen Truppen konnten den Damenweg und somit auch den Steinbruch Froidment erst im Herbst 1917 zurückerobern. Ab Februar 1918 hausten dann auch US-amerikanische Soldaten der sogenannten Yankee-Division in dieser Höhle. Ihre Namen haben sie meist mit drei Initialen abgekürzt, oft auch das Regiment hinzugefügt, manchmal sogar die komplette Heimatanschrift und kleine Skizzen hinterlassen.
"Hier sieht man das Abzeichen der Feuerwehr von Chicago und daneben das Symbol der Kolumbus-Ritter, so heißt eine katholische Bruderschaft aus den USA. In der Yankee-Division haben viele Einwanderer aus Europa gekämpft, die katholisch waren. Dort ist ein Freimaurerabzeichen, weitere Namen... Und da sind an zwei Stellen Steine herausgebrochen worden."
Gilles hat den weitläufigen Untergrund schon als Jugendlicher durchstreift. Damals waren die meisten Zeichnungen und Reliefs noch intakt, sagt er. Diebe und Vandalen drangen erst später ein. Zusammen mit einem Historiker konnten er und seine Mitstreiter in den 90er-Jahren durchsetzen, dass der Steinbruch Froidment zum Kulturdenkmal erklärt wurde.
An diesem Nachmittag führt Gilles Chauwin eine amerikanische Wissenschaftlerin aus New Hamphire durch das unterirdische Labyrinth. Heather Warfield will ein digitales Archiv aller Stätten erstellen, die für die Yankee-Division der US Army von Bedeutung waren. Dafür recherchiert sie auch die Lebensläufe der Soldaten.
"Hier drinnen zu sein, das ist für mich fast so, als wären wir hier unter den Lebenden", sagt sie. "Wir können uns den Soldaten sehr persönlich annähern und erahnen, was ihnen wichtig war, in einem Moment, in dem sie genau wussten, dass sie schon sehr bald sterben können."
"Als Amerikanerin bin ich tief beeindruckt"
Die Hochschullehrerin blickt auf Gilles Chauwin, der unermüdlich erzählt, was er über einzelne Soldaten herausgefunden hat.
"Als Amerikanerin bin ich tief beeindruckt, dass dieser Ort so gut erhalten ist und Franzosen wie Gilles so innige Bindungen zu den Soldaten aller beteiligten Länder haben."
Nicht nur Graffitis, auch Alltagsgegenstände liegen noch im Steinbruch herum, nichts ist museal aufgearbeitet. Gilles deutet auf eine Wand voll rostiger Nägel: lauter Haken für die Siebensachen der Soldaten, die hier ausharren mussten. Ein paar Holzbalken und Drahtgeflechte zeugen von ehemaligen Lagerstätten, eine rudimentäre Schiene sollte offenbar verletzte Glieder stützen. In einem Eck liegen Lederreste.
"Der Infanterist braucht gute Schuhe", erklärt Gilles. "Das hier ist ein deutscher Reitstiefel mit genagelter Sohle, eine Kugel hat den Schacht durchschlagen. Da drüben haben wir einen Haufen Flaschen: Wein, Bier, auch Mineralwasser. Wir haben sogar Cerveza de Maracaibo gefunden. Ein Bier, das in Deutschland für Südamerika gebraut worden war. Aber wegen der Seeblockade ist es offenbar in die Schützengräben in Frankreich geliefert worden."
"Die feindlichen Soldaten haben sich respektiert"
Nach vierstündiger Führung dringt die feuchte Kälte in die Knochen ein. Gilles stört das offensichtlich nicht, er könnte noch viel mehr zeigen. Auf dem Rückweg leuchtet er die niedrige Decke an. Dort hat ein "Landsturmmann W. Schmitz" notiert, dass er vom 20. bis 29. Juli 1915 im Steinbruch war. Gleich daneben hat sich im Jahr 1917 der französische Infanterist Pierre Théoleyre verewigt, in Schönschrift.
"Ich habe viel darüber nachgedacht: Der französische Soldat rührt die Inschrift des deutschen Soldaten nicht an. Die Schäden in der Höhle wurden alle nach dem Krieg angerichtet. Die feindlichen Soldaten aber haben sich respektiert. Hier ist der Beweis."
Bevor er wieder ans Tageslicht klettert, zündet Chauwin eine Kerze an und stellt sie auf einen Felsvorsprung mit drei alten Holzkreuzen und kleinen Fahnen der ehemaligen Kriegsgegner. Der Steinbruch ist ihm ans Herz gewachsen. Umso mehr sorgt es ihn, dass sein Verein immer kleiner und die Mitglieder älter werden. Er selbst habe Gesundheitsprobleme und wünsche sich, dass einst seine Asche hier unten verstreut werde. Aber wer sich dann um den Steinbruch kümmern soll, darauf hat Gilles Chauwin keine Antwort.
Oft sind es alte Menschen, die dafür sorgen, dass die Spuren des Ersten Weltkrkiegs in Nordfrankreich erhalten bleiben. Aber nicht immer. In der Nähe des Dorfes Fa-y in der Somme stapft Bruno Thoral mit zwei Jugendlichen über einen frisch gepflügten Herbstacker. Sie fixieren die klumpige Erde, bücken sich, klauben kleine Messingteile auf:
"Wir reißen die Überbleibsel des Krieges aus dem Vergessen. Das hier sind deutsche Gewehrpatronen", sagt Thoral, Militaria-Sammler und Gründer des Vereins "Le Sapeur Picard".
"Jede einzelne Patrone kann zum Tod eines französischen Soldaten beigetragen haben. Und das hier ist ein französisches Projektil, das sein Ziel verfehlt hat."
Auch Valentin und Noan, beide 17 Jahre alt, zeigen stolz, was sie gefunden haben: Stückchen von altem Stacheldraht, außerdem sogenannte Schweineöhrchen, also Reste von Metallstangen, an denen der Stacheldraht befestigt war.
Angst vor einer "Disneylandisierung"
Der Acker ist eingeebnet. Aber im angrenzenden Laubwald sind noch viele Sprengtrichter zu sehen. Dort kniet Mathilde Greuet auf dem Waldboden. Lange Haare, runde Goldrandbrille, viele Ohrstecker. Die 27-Jährige gräbt zusammen mit Thoral und den Schülern einen deutschen Schützengraben aus. An diesem Samstag verlegt sie Ziegelsteine, die Jungen haben sie vorher im Wald ausgebuddelt. Zwischendrin singt sie alte Soldatenlieder.
"Dieser Wald ist eine ´rote Zone´", erklärt Greuet. "So heißen Gegenden, wo noch viel Munition liegt. Deshalb kann hier nichts angebaut werden. Ich weiß, dass irgendwo im Umkreis von 50 Metern ein Geschoss liegt."
Auch Fa-y und Umgebung hatten die Deutschen von 1914 bis 1916 besetzt. Zeit genug, um sich in ihren Stellungen gut einzurichten. Mathilde zeigt, was sie und ihre Freunde bisher freigelegt und rekonstruiert haben. Der Schützengraben ist breit und winklig, die hohen Seitenwände sind mit Holz und Wellblech verkleidet. Ein enger Raum ist mit einem Stockbett, kleinem Tisch und rostigem Original-Ofen ausgestattet. In solch einem Bett hätten stets je drei Soldaten geschlafen. Auf die Frage, ob sie und ihre Freunde die Anlage vielleicht ein bisschen ausschmücken, holt Mathilde eine Papptafel mit alten Fotos hervor:
"Die sogenannte Disneylandisierung .... Nein, wir achten sehr auf Authentizität. Bruno hat viele Kriegstagebücher und Gefechtsberichte gelesen. Diese Fotos mit den deutschen Soldaten sind genau in diesem Schützengraben entstanden. Der Boden liefert auch Hinweise: Wo die Erde locker ist, verlief der Graben. Sobald wir auf Kreidefelsen stoßen, wissen wir: Da war nichts."
Eine Radierung von Otto Dix gab den Anstoß
Mathilde ist in der Nähe von Fa-y aufgewachsen. Ihr Interesse am Ersten Weltkrieg wurde schon in der siebten Klasse geweckt. Damals musste sie im Geschichtsunterricht über eine Radierung von Otto Dix arbeiten, die einen verletzten Soldaten zeigt.
"Zuerst fand ich das Bild abstoßend. Aber es ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie kann es sein, dass ein Mensch so einen entsetzten Blick hat? Was ist da geschehen?"
Später studierte sie Geschichte, heute schreibt sie ihre Doktorarbeit. Thema: "Die Kriegsruinen in Nordfrankreich von 1921 bis heute". Anfangs gab es Erinnerungstourismus. Familien und Veteranen guckten sich die zerstörten Städte und Denkmäler an.
"Den Glockenturm von Arras, die zerbombte Kathedrale von Reims... Aber dann bricht der Zweite Weltkrieg aus und diesmal wird ganz Frankreich besetzt, mit Zerstörungen an vielen Orten. Danach will niemand mehr Ruinen sehen. Zumal sie auch an die Schmach der deutschen Besatzung erinnern."
Erst in den 1990ern wurden die Erinnerungsorte gewürdigt
Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Kriegsruinen beseitigt. Erst in den 1990er-Jahren setzte ein Sinneswandel ein, die Arbeiten von Historikern trugen maßgeblich dazu bei. An der Somme wurden Erinnerungsorte gewürdigt und aufgewertet. Kriege werden immer aufs Neue geführt, an Orten wie diesen aber wird ihre Absurdität spürbar. Genau das ist der Sinn der Erinnerungsarbeit auf den Schlachtfeldern einer vergangenen Zeit für die Gegenwart.
"Die Hundert-Jahr-Feiern haben dann richtig starkes Interesse geweckt. Aber leider flaut das schon wieder ab. Das spüre ich bei meiner Doktorarbeit: Oft suche ich vergeblich nach bestimmten Archiven. Wenn ein Archivar in Rente gehen, kennt sich niemand mehr aus."
Die vielen Soldatenfriedhöfe gehören für Mathilde Greuet zum Alltag. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ist prägend für ihr Leben.
"Wenn ich durch das restliche Frankreich reise, kommt es mir irgendwie leer vor, weil es dort keine Erinnerungsorte gibt. Australier, Kanadier, Amerikaner reisen an die Somme, Deutsche auch, aber leider viel seltener. Der Erste Weltkrieg bringt Menschen aus aller Welt zu uns. Diesen Reichtum sollten wir pflegen."
Die junge Frau greift zur Schaufel, schiebt die lose Erde zur Seite und legt einen weiteren Ziegel in den ehemaligen deutschen Schützengraben.