Auf den Spuren von Marcel Proust

Von Ursula Welter |
Inzwischen heißt das Dorf sogar "Illiers-Combray", so wie Proust es einst genannt hatte. Der Schriftsteller hatte noch mehr Szenen aus dem Ort für seine Romane entliehen. Heute kommen viele Touristen ins Dorf - die sich oft besser auskennen als die Einwohner.
Das Ortschild ist real. "Illliers-Combray" steht da. Seit 1971 ist das offiziell. Da nahm der Kulturminister, im gut 100 Kilometer nördlich gelegenen Paris, den Antrag auf Umbenennung des Dorfes an. Marcel Proust zu Ehren, der hier als Knabe die Ferien verbrachte, bis seine Asthmaanfälle den Aufenthalt im feuchten Klima der Beauce nicht mehr erlaubten.

Hinter dem Ortseingangsschild beginnen sich Realität und literarische Fiktion, Gegenwart und Vergangenheit zu mischen.

Der Bahnhof steht noch da, aber schon der Schienenweg ist nicht mehr exakt der, auf dem Proust daher kam. Immerhin lässt sich erahnen, wann der Vater aus dem Zugfenster blickte und rief "Also dann, nehmt die Decken, wir sind da !". Denn der Kirchturm von Saint-Hilaire ragt in die Luft, wie eh und je, mit seiner "Natürlichkeit und Vornehmheit", wie Proust die Großmutter schwärmen ließ.

Giselle Maini, eine ältere Dame aus dem Ort, führt durch den Seiteneingang ins Halbdunkel. In: "Die Kirche ! Diese Wohlvertraute" .

"Saint-Hilaire – so nennt sie Proust, aber sie ist dem Heiligen Jacob geweiht, denn wir sind auf dem Jakobsweg."

Im Illiers der Realität heißt die Kirche Saint-Jacques , im Proust’schen Combray Saint-Hilaire. Der Autor entlieh den Namen einer anderen Kirche im Dorf, von der die Revolution nur noch das Steinportal übriggelassen hat. Auch das Licht will der literarischen Vorlage an diesem herbstlichen Morgen nicht recht stand halten:

"Wenn er in die Messe kam, mit seiner Großmutter, beschreibt er, wie sich vom Weihwasserbecken kommend, auf dem Weg zur Bank , das Licht änderte – hier war der Platz, der für die Familie Amiot reserviert war."

Die Krypta, die Proust erwähnt? Gibt es nicht ! Auch nicht die Wandteppiche. Sie habe alle im Dorf gefragt, sagt Giselle Maini, die Teppiche habe Proust erfunden.

Madame Maini hat sich aus Leidenschaft für den Schriftsteller vor Jahren ein Häuschen im benachbarten Weiler namens "Tansonville" gekauft. Auch diesen Namen verwendet Proust. Und sagt, dass die Häuser in "Combray" keine Hausnummern trugen. Stimmt! Aber heute ist das anders, weil die Postboten häufig wechseln, sind die Ziffern am Eingang seit 20 Jahren Pflicht.

"Für mich war Combray imaginär. Als ich 1994 hierher kam, war das nur eine Vorstellung, etwas, was ich aus dem Werk von Proust kannte. Bis mein Bruder, der in Chartres lebt und wusste, dass ich Proust-Fan bin, mir sagte, es gibt in 'Illiers-Combray' ein Haus zu kaufen. Ich kam hierher und plötzlich war das wie die 'unbeabsichtigte Erinnerung', plötzlich war alles wieder da."

Realität traf auf Literatur, als Giselle Maini hierherzog. So lebt sie nun unweit von, "Pré Catelan", dem Garten des Onkels, der in Wahrheit ein Park ist. Und der von der Gemeinde liebevoll wieder bepflanzt wurde, nachdem ein Hochwasser vor Jahrzehnten, bis auf drei alte Bäume, alles vernichtet hatte.

Unweit auch des Landsitzes, in dem Proust seinen Swann wohnen lässt, im Buch eher ein Schloss, in Tat und Wahrheit ein großbürgerliches Haus, heute in Privatbesitz. Von hier aus bricht Swann zu seinen Besuchen im Haus der "Tante Léonie" auf, die in Wahrheit Elisabeth hieß.

"Schauen Sie, dort das graue Haus, das ist das Haus der Tante Léonie"."

Ein privates Museum inzwischen. Die Nachfahren der Familie Amiot kauften das Haus in den 1950er-Jahren zurück, rekonstruierten, was von der Einrichtung übrig war, schufen die Welt von Prousts Erzähler neu. Und auch hier verschieben sich die Ebenen, Literatur und Realität, Gegenwart und Vergangenheit.

Am Gartentor hängt die Glocke. Zwei "zögerliche Schläge des Glöckchens", aber niemand ruft "Ein Besuch, wer kann das nur sein?" . Die Sitzgruppe auf den Kieseln , unter dem Baum, ist leer. Auch die Küche von "Francoise", der Magd, …

Da ist die Treppe, die ganz nach oben führt, in die kleine Kammer unterm Dach , wo es heute nicht mehr nach Iris riecht…. In der mittleren Etage das Zimmer des Knaben, in dem er weinte, weil die Mutter den Gutenachtkuss ausgelassen hatte: Die Laterna magica ist aufgebaut, die die Zeit zum Abendbrot verkürzen half.

Im Raum gegenüber die Stube der kranken "Tante Léonie", in der die "Kleine Madeleine" gereicht wurde, "in Lindenblütentee getunkt" , das berühmte Gebäck, das bei Prousts Erzähler später die Erinnerung wachruft. Die Bäckerin unten an der Straßenecke verkauft sie auch heute, in Cellophantütchen zu sechs oder zehn Stück verpackt.

""Die Touristen, die das Haus besucht haben, kommen dann, um die 'Petite Madeleine' zu kaufen."

Namen, Orte, Szenisches - in Illiers-Combray vermengen sich Realität und Fiktion zu einer neuen Wahrheit.

"Es gibt so viele Interpretationen, man verliert sich ein wenig darin, aber ich höre den Leuten zu, die hier seit Generationen ihre Wurzeln haben. Die werden aber weniger, und so geht das Wissen verloren. Wir versuchen, die Dinge zu sortieren, aber das alles ist im Buch so gut vermengt, man verliert sich…."

Dass es Leute im Dorf gibt, die Proust nicht gelesen haben, das kann man sich kaum vorstellen.

""Doch, doch, die Besucher wissen häufig mehr, als die Einwohner, denn nicht alle wohnen hier seit jeher"."

Und wenn sie es Recht betrachtet, ist es für die, die Proust nicht gelesen haben, fast noch am Einfachsten. Doch die verpassen etwas, denn wo sonst gehen Literatur und Wirklichkeit eine solche Liaison ein wie in "Illiers-Combray"?
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