Auf der Seite des kritischen Beobachters

Von Burkhard Birke |
"Entrelacs" so heißt die aktuelle Ausstellung von Ai Wei Wei in Paris - und dass sie als "Flechtwerk" bezeichnet ist, hat seinen Grund - denn der Künstler und Dissident Ai Wei Wei lässt uns Zusammenhänge erkennen, die man ohne ihn vielleicht gar nicht bemerken würde.
Auch dem Eiffelturm zeigt er den Stinkefinger: Ai Wei Wei liebt es, zu provozieren. Studie der Perspektive hat der 54-jährige Architekt, Photograph, Kommunikator und vor allem Beobachter die Serie an Fotographien genannt, die für Kurator Urs Stahel eines der Highlights der Ausstellung im Pariser Jeu de Paume sind:

"Er hält diesen Finger hoch im Tiananmen Square 1994, auch wieder diese provokative Geste, aber mit der Zeit, über die Jahre hält er diesen Finger auch gegen den Eiffelturm, gegen das Weiße Haus in Washington, gegen die Landschaften, gegen die Wüste Gobi, gegen sein eigenes Studio, gegen seine eigene Kunst – und plötzlich wandelt sich diese provokative Geste in eine Geste der Reflektion eines Menschen, der sich überlegt, wo stehe ich hier in dieser Welt."

Eindeutig auf der Seite des kritischen Beobachters. Und so hat Ai Wei Wei in den achtziger Jahren in New York, in einer nach seinen Worten Phase des ‚In- den-Tag-Hineinlebens’, auf tausenden meist Schwarzweiß-Fotos zunächst den Alltag festgehalten.

Später ab 1993, wegen der Erkrankung seines Vaters wieder nach China zurückgekehrt, illustriert Ai auf unzähligen Landschaftsfotos den rasanten Wandel, die Bau- und Zerstörungswut eines unter Deng entfesselten Kapitalismus. Der Architekt Ai spielt als Fotograph Chronist: Die Entstehungsphasen des Flughafenterminals und des Olympiastadions, des sog. Vogelnestes, dokumentiert er – keineswegs nur, weil er als Berater an diesen Projekten beteiligt war. Urs Stahel:

"Wenn Sie eine Arbeit von ihm sehen in der Tate Modern in London mit seinen Sonnenblumen in Porzellan, dann hat man immer noch die Möglichkeit, weil das eine sehr minimalistische Haltung ist, das einfach als schönes Werk ästhetisch zu betrachten. Hier in dieser Fotographieausstellung kann man das eigentlich nicht mehr. Jedes einzelne Bild, jedes einzelne Foto in dieser Ausstellung trieft fast schon von seiner Haltung, dass er jemand ist, der dieses unglaubliche Tabula Rasa in der chinesischen Gesellschaft dokumentiert einerseits, um es zu bewahren, um quasi Zeugnis abzulegen davon und gleichzeitig sieht man seine provokativen Gesten, die er macht, zum Beispiel gegenüber dem Tiananmen Square fünf Jahre nach dem großen Massaker 1989."

Ein unbequemer Zeuge für die Regierenden, der auch die Folgen des verheerenden Erdbebens 2008 mit 69.000 Toten festgehalten und kritische Fragen gestellt hat. Ai Wei Wei ist vor allem einer, der mit seinen Blogs und dort veröffentlichten Bildern kein Blatt vor den Mund genommen und keine Scheuklappen aufgesetzt hatte.

""Diese zwölf Bildschirme hier mit insgesamt 16.000 Fotos geben einen ziemlich guten Einblick in Ai Wei Weis Leben,"

erläutert sein Assistent Lucas Lai im Jeu de Paume. Glücklicherweise konnten viele Bilder gesichert werden, bevor die Zensur zuschlug, Ais Computer beschlagnahmt und bevor Ai von den Behörden 81 Tage an unbekanntem Ort verschleppt worden war. Gegen Zahlung von 1,7 Millionen Euro ist er in Erwartung seines Prozesses frei gelassen worden. Zur Eröffnung der wohl in dieser Form bisher umfassendsten Ausstellung seiner Fotos über seine verschiedenen Schaffensphasen als Künstlers der vielen Facetten durfte Ai jedoch nicht nach Paris reisen; er schickte seinen Assistenten Lucas Lai:

"Diese Ausstellung verleiht ihm eine Stimme außerhalb Chinas. Und da es sich um eine sehr persönliche Ausstellung handelt, die sein Leben und seine politische Aktivität widerspiegelt, bietet ihm das die Gelegenheit auf seine aktuelle Lage hinzuweisen."

Das tat Ai Wei Wei parallel noch in einem Interview mit der Tageszeitung Libération: Er sei ein Medium mit einer Botschaft, hieß es dort. Und sie lautete: China sei das Land der Undurchsichtigkeit mit drakonischer Unterdrückung und allgegenwärtiger Korruption. Im Pariser Jeu de Paume machen Ais Fotos einiges davon sichtbar.


Website zur Ausstellung in Paris: Ai Wei Wei: Entrelacs
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