Auf der Suche nach dem anderen Amerika

Von Günter Amendt |
Im Alter von 65 Jahren hat es Bob Dylan mit einem neuen Album, "Modern Times", noch einmal an die Spitze der internationalen Charts geschafft. Für die Medien weltweit ist Dylans 70. Geburtstag Anlass, ihn als einen der bedeutendsten Künstler unserer Zeit zu würdigen.
Für ihn sicher kein Grund, seine "never ending Tour" zu unterbrechen. In Dylans Laufbahn gab es immer wieder Brüche, die sein Publikum irritierten und bis zur Randale provozierten.

Die "Lange Nacht" kommt noch einmal zurück auf Dylans Deutschlandpremiere 1978 und den Zwischenfall in der Berliner Deutschlandhalle, als aus dem Publikum Wasserbeutel und Mehltüten auf die Bühne geworden wurden.

Auch das Konzert in Nürnberg, wo Dylan und seine Band sich plötzlich inmitten der Nazikulisse des Reichsparteitagsgeländes wiederfanden, ist Thema der Sendung. Im Hörspiel von Sam Shepard "True Dylan" gibt "Bob" Auskunft über die Idole seiner eigenen Jugend und über die Jahre, die er nach dem Motorradunfall in Woodstock als Familienmann mit Sara und den Kindern verbrachte.

In seinen "Chronicles" legt er offen, was ihn antreibt: die Suche nach einem archaischen Muster menschlichen Handelns und menschlichen Empfindens, einem Muster, das über die Kultur der Gegenwart hinausführt.

Bob Dylan interessieren die Geschichten alltäglicher Helden - "ungeschliffene Seelen, erfüllt von natürlicher Einsicht und innerer Wahrheit".

Mit dieser Sendung erinnern wir an Günter Amendt, langjähriger Autor der "Langen Nacht", und den Schauspieler Dietmar Mues, die im März bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind.


Die offizielle Website bobdylan.com

Aktuelle Nachrichtung rund um Bob Dylan (englisch) expectingrain.com

Bob Dylan - Chords and lyrics - es heißt, dass diese Website alle Gitarrenakkorde von Bob Dylans Songs gesammelt habe


True Dylan
Hörspiel in einem Akt, wie es sich an einem Nachmittag in Kalifornien wirklich ereignete

Von Sam Shepard
Übersetzung und Regie Günter Amendt
Zwei Männer, Bob und Sam, der eine als Musiker, der andere als Dramatiker lebende Legenden, treffen sich in einem Haus an der kalifornischen Küste und sprechen über die Idole ihrer Kindheit und Jugend. Wie sie sich mit dem Radio in den Schlaf geträumt haben, welche Musik sie dabei hörten und welcher Film in ihrem Kopf ablief. Sie versuchen das "Geheimnis" von James Dean zu ergründen und das der Frauen und Kellnerinnen. Was als Interview beginnt, entwickelt sich zu einem intensiven Zwiegespräch. Ob die Begegnung tatsächlich stattgefunden hat, wie der Untertitel von Shepards Einakter suggeriert, ist unerheblich. Wer Dylan begegnet ist, wird im Dialog von Sam und Bob den "wahren Dylan" wieder erkennen.


Auszug aus dem Manuskript:

Jean-Martin Büttner:
"Es ist der 26. Mai 1966 und sein vorletztes Konzert. Bob Dylan steht allein auf der Bühne der Royal Albert Hall in London. Die Tour hat lange gedauert, 76 Konzerte in zehn Monaten und auf drei Kontinenten. Dazwischen edierte er einen Film, schrieb an seinem ersten Buch und nahm ein Doppelalbum mit neuen Liedern auf, 'Blonde on Blonde'.
Alle Konzerte der Tour sind ausverkauft, fast jedes läuft nach demselben Muster ab. Wenn er alleine auf die Bühne kommt und zur Gitarre seine Lieder singt, sitzt das Publikum andächtig da. Und wenn er nach der Pause mit seiner Band zurückkommt, pfeifen ihn die Leute aus.
Überall, auch in Amerika und in liberalen Städten wie Berkeley oder New York, wollen sie seine neue, elektrische Musik nicht hören, die er zu maximaler Lautstärke entfesselt. Die Gemeinde will ihren Rebellen als Pfadfinder mit Wandergitarre konservieren, als singenden Redenschreiber für die Revolution. Einen Rock 'n' Roll- Star aber, der seine Zeilen zum Feedback seiner Mitmusiker ins Mikrophon schreit, das ist nicht, was sie von ihm erwarten.
Seine Liebe zum Rock 'n' Roll erscheint ihnen als Verrat, ihm bedeutet sie das genaue Gegenteil. Sein größter Wunsch, schrieb er einmal zu Beginn seiner Karriere, sei ein Posten in der Begleitband von Little Richard. Als ihn Journalisten fragen, ob er ein Dichter sei, nennt er sich einen 'song and dance man', das klang wegwerfend, damals, aber es war ihm ernst: Protest durch Bewegung."

Günter Amendt:
Jean-Martin Büttner, der im TagesAnzeiger Zürich veröffentlicht, was er zu Dylan zu sagen hat, beschäftigt sich für die Lange Nacht mit dem, was jenseits des Skandals das eigentliche Ereignis in England war - die europäische Uraufführung von "Visions of Johana" in einer, wie ein Kritiker schrieb, "überirdischen Qualität".

Jean-Martin Büttner:
"Am Ende der langen Tournee die beiden Auftritte in der Londoner Royal Albert Hall. Dylan zuerst wie immer eine Dreiviertelstunde alleine, mit Gitarre, Harmonika und feurigem Haarbusch, ein schmaler junger Mann im Scheinwerferlicht, charmant, unnahbar. Nobody feels any pain, singt er im totenstillen, vollbesetzten Saal. Er ist am Anschlag, nur das Amphetamin hält ihn noch wach. Schläfrige Stimme, hellwache Phrasierungen.
Dann spielt er 'Visions of Johana', ein weiteres Stück aus dem neuen Album, das in England noch keiner kennt. Die Gitarre schlägt ihre Zeitlupen-Akkorde, die Mundharmonika atmet schwer, ansonsten hört man nur die Stimme im dunklen Saal, ahnt das atemlose Publikum. Die Stimme füllt den Raum, aber wenn Dylan nicht singt, nimmt man hinter den Pickings der Gitarre die Stille wahr, das schweigende Publikum. Dylan deutet diese Stille in der ersten Zeile und singt von den Enttäuschungen in der Nacht: Ain't this just like the night to play tricks when you are trying to be so quiet?
In der zweiten Zeile schon besingt er dann das Ende dessen, das noch gar nicht angefangen hat, sieht voraus, was mit dem Ende der sechziger Jahre zusammenfallen wird, die große Ratlosigkeit: We sit here stranded, though we do our best to deny it.
'Visions of Johana' schildert die Erscheinungen eines Erzählers, der zugleich von der Unmöglichkeit berichtet, seine Visionen in Worte zu fassen: How can I explain? It's so hard to get on. Die Vokabeln klingen gedehnt, die Konsonanten scharf, man hört beides, die Visionen und die Schwierigkeit, sie zu artikulieren. 'Visions of Johana' ist ein Stück über den Rand der Sprache und das Flackern der Gedanken in der Nacht, über das Unwirkliche und das Hyperreale, über die Flutung des Bewusstseins mit Bildern, Tönen und Gefühlen. Die Gesellschaft bricht auseinander, das Ich löst sich auf, Dylan deutet das erste im zweiten.
The ghost of electricity howls in the bones of her face, heißt es an einer Stelle. Ein Gespenst geht um, das Gespenst der Elektrizität, das er später entfesseln wird. Der Folksänger wird schreien, das Bürgerrechtslied von früher wird in sexuell geladenen, kriegerisch lauten Rock 'n' Roll überführt. 'It used to be like this', sagt Dylan einmal, 'and now it goes like that.'
Auf 'Visions of Johana' künden sich die Ereignisse an, fast lautlos. Dylan besingt mit entrückter Stimme die Visionen, die ihn überwältigen. Die Phrasierung ist präzis, doch die Vokabeln klingen gedehnt. Man nimmt beides wahr, die Visionen und den Widerwillen, sie zu artikulieren. Der amerikanische Kritiker Cameron Crowe spricht von der 'überirdischen Qualität' dieser Aufführung, sein Kollege Paul Williams findet, Dylan sänge 'wie aus tiefem Schlaf erwacht'. Es kommt einem vor, als müssten sich die Worte gegen ihren Sound, das Gesagte gegen das Gemeinte durchsetzen. Wie wenn, kurz vor dem Einschlafen, das Bewusstsein durch Erinnerungen sich rekonstruiert oder beim Aufschrecken der Traum erst vergessen geht und plötzlich wieder erinnert wird. 'Visions of Johana' mit seinen halbwachen Bildern, dem flackernden Licht, ist ein Song über das Helle im Dunkeln, Hohlräume werden beschrieben und mit Bildern und Tönen vermessen: Der Ofen hustet, das Radio dudelt, das Licht flackert: Lights flicker from the opposite loft / In this room the heat pipes just cough / The country music staion plays soft / But there's nothing, really nothing to turn off.
Es ist ein Stück über die Flutung des Bewusstseins: The visions of Johana conquer my mind endet die erste Strophe, they have now taken my place die zweite, They kept me up past the dawn die dritte. Zuletzt sind die Visionen bloß noch Erinnerung und die Erinnerung das Einzige, was bleibt. Die letzten Zeilen: The harmonicas play the skeleton keys and the rain / And these visions of Johana are now all that remain.
It's so hard to get on: Seit seiner ersten Aufführung ist 'Visions of Johana' als Drogensong herumgereicht worden, aber Dylan selbst hat solche Interpretationen immer zurückgewiesen: 'I never have and never will write a drug song', kündigt er das Stück am nächsten Abend an, wobei ihm anzuhören ist, dass er dabei völlig bekifft ist.
Aber er hat Recht. Es ist nicht relevant, ob 'Visions of Johana' von Halluzinationen oder Träumen handelt, 'Series of Dreams', wie Dylan ein späteres Stück von 1989 genannt hat. Sondern relevant ist, wovon diese Visionen erzählen und was dem Erzähler dabei widerfährt. Der Sänger hat Visionen und singt darüber: 'His sunglasses became windows', wie Patti Smith einmal über ihn geschrieben hat.
Für einen Moment halten Songs die Zeit an, sagt Dylan. An die Stelle der Zeit tritt der Raum, dessen Stille sich mit Sound füllt, so wie der Sänger die Stille im Saal mit Gesang füllt. Wo die Musik nicht hinkommt, ist die Stille endlos: Inside the museums, Infinity goes up on trial.
In den Museen herrscht Unendlichkeit, aber mit den Museen konnte er noch nie etwas anfangen. 'Visions of Johana' handelt von den Visionen, die kein Museum zeigen kann. Es sind die Visionen eines Schlaflosen im amerikanischen Traum."

Günter Amendt
Back to the Sixties.
Bob Dylan zum Sechzigsten.
2001. konkret Literatur Verlag

Thomas Brasch:

Über den Sänger Dylan in der Deutschlandhalle

" ausgepfiffen angeschrien mit Wasserbeuteln beworfen
von seinen Bewunderern, als er die Hymnen
ihrer Studentenzeit sang im Walzertakt und tanzen ließ
die schwarzen Puppen, sah er staunend in die Gesichter
der Architekten mit Haarausfall und 5 000 Mark im Monat,
die ihm jetzt zuschrieen die Höhe der Gage und
sein ausbleibendes Engagement gegen das Elend der Welt. So sah

ich die brüllende Meute: Die Arme ausgestreckt im Dunkel neben
ihren dürren Studentinnen mit dem Elend aller Trödelmärkte
der Welt in den Augen, betrogen um ihren Krieg,
zurückgestoßen in den Zuschauerraum
der Halle, die den Namen ihres Landes trägt, endlich
verwandt ihren blökenden Vätern, aber anders als die
betrogen um den, den sie brauchen: den führenden Hammel
Die Wetter schlagen um:
Sie werden kälter.
Wer vorgestern noch Aufstand rief,
ist heute zwei Tage älter. "

Greil Marcus
"Basement Blues - Bob Dylan und das alte, unheimliche Amerika"

Aus dem Amerikanischen von Fritz Schneider überarbeitete Neuauflage
Rogner&Bernhard Verlag 2011
Im Frühsommer des Jahres 1967 trafen sich Bob Dylan und seine Band so gut wie täglich in dem Keller eines pinkfarbenen Hauses in Woodstock und machten dort zwanglos, abseits der Öffentlichkeit, Musik. Irgendwann begannen sie, diese Musik mitzuschneiden. Was dabei herauskam, waren die legendären "Basement Tapes", mehr als hundert Aufnahmen von Standardtiteln oder selbstkomponierten Songs. Einige davon wurden in der Interpretation von Peter, Paul & Mary, Manfred Mann und den Byrds binnen kürzester Zeit zu Hits. 1970 wurde die Musik auf Vinyl gepresst und überall als Bootleg feilgeboten. Als 1975 das Doppelalbum The Basement Tapes erschien, eine offizielle Zusammenstellung von sechzehn Basement-Aufnahmen sowie acht Demos der Band, und in die Top Ten kam, zeigte sich Dylan erstaunt: "Ich dachte, jeder hätte schon eine Kopie davon." Die Musik, die zunächst nur dazu gedacht war, die Zeit totzuschlagen, und die Dylan zum Teil selbst vernichten wollte, besaß von Anbeginn einen eigentümlichen Reiz, eine besondere Ausstrahlung, eine Aura des Vertrauten, eine Ahnung ungeschriebener Traditionen, einen Geist "irgendwo angesiedelt zwischen Beichtstuhl und Bordell" (Greil Marcus).
Basement Blues erscheint zum 70. Geburtstag von Bob Dylan mit einem neuen Vorwort, vollständig überarbeiteter Diskographie und Literaturverzeichnis.

Olaf Benzinger
Bob Dylan
Die Geschichte seiner Musik.

2011 DTV
Wer ist Bob Dylan, wie ist sein Werk einzuordnen? Olaf Benzinger befasst sich ausführlich mit den Songs, Alben und Schaffensperioden, erläutert die biografischen Hintergründe und eröffnet einen fundierten Zugang zu dem wohl komplexesten Gesamtwerk, das die Popmusik zu bieten hat. Seit nunmehr 50 Jahren prägt Bob Dylan die Musikszene und begeistert die Fans. Dabei ist der Musiker und Songwriter immer für eine Überraschung gut, gestaltet jeden Auftritt anders, variiert Melodien, Texte, Arrangements und wirbelt die Hörgewohnheiten durcheinander. Olaf Benzinger befasst sich ausführlich mit den Songs, Alben und Aufnahmesessions, erläutert die Schaffensperioden, beleuchtet die wesentlichen biografischen Stationen und eröffnet so einen fundierten Zugang zu dem wohl komplexesten Gesamtwerk, das die Popkultur zu bieten hat.

Außerdem:
Bob-Dylan-Ressourcen im Internet (eine Auswahl)


Bob Dylan, In eigenen Worten
Hrsg. v. Christian Williams .
Neuaufl
2011 Palmyra
In diesem Buch erzählt Dylan "In eigenen Worten" über sein Leben und seine Musik. Als einzige Publikation von und über Bob Dylan enthält es seine wichtigsten Äußerungen aus Interviews, Pressekonferenzen und Talkshows. Das sich daraus ergebende beeindruckende Portrait umfaßt alle wichtigen Dylan-Themen: seine private Herkunft, die musikalischen Vorbilder und der Karrierebeginn in New York, Erläuterungen zu einzelnen Songs, Platten und Tourneen, Dylans Filmprojekte, das Musikbusiness, die Haltung zu Fans und Musikerkollegen, sein Wandel vom Folk zum Rock sowie seine politische Rolle und permanente religiöse Suche. Ausführlich geht Dylan, der bereits mehrfach für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen wurde, auch auf sein Songwriting und die Schattenseiten seines Ruhms ein.

Robert Shelton
Bob Dylan - No Direction Home
Sein Leben, Seine Musik 1941-1978.

Neu hrsg.: Thomson, Elizabeth; Humphries, Patrick .
Übersetzung: Haefs, Gisbert; Schirdewahn, Melanie (Ergänzungen) .
2011 Edel Germany
Robert Shelton lernte Bob Dylan kennen, als dieser 1961 ins Greenwich Village nach New York kam. Im Laufe der Zeit wurde er sein Freund und Kritiker. Sheltons Biografie über Dylan, erstmals erschienen 1986, gilt heute als Klassiker des Genres. Und von den über 1.000 Büchern, die über das Genie geschrieben wurden, ist Sheltons Werk bis heute das einzige, das Dylan aktiv unterstützte. Die längst überfällige, vollständig überarbeitete Neuausgabe anlässlich Dylans 70sten Geburtstags enthält bisher unveröffentlichte Passagen des Originalmanuskripts, aktualisierte Fußnoten, zahlreiche Fotos der wichtigsten Lebensstationen und nicht zuletzt eine aktualisierte Diskografie.


Willi Winkler
Bob Dylan. Ein Leben.

2001, Fest-Verlag

Early Dylan:
Mit einem Vorwort von Arlo Guthrie.

Aufnahmen von Barry Feinstein,
Daniel Kramer u. Jim Marshall.
1999. Schirmer/Mosel-Verlag


Auszug aus dem Manuskript:

Die achtziger Jahre waren ein schreckliches Jahrzehnt für Dylan. Sein "Verrat" am Judentum und sein Übertritt zum Christentum hatten Ende der siebziger Jahre das Interesse der Medien geweckt. Viele seiner Fans wandten sich irritiert und angewidert ab, nicht so sehr wegen seines religiösen Bekenntnisses, sondern wegen der reaktionären politischen Statements, die er im Namen seiner Religion abgab. Nun war auch er in die Ideologiefalle getappt. Es wurde ruhig um Dylan, so ruhig, daß selbst Dylan-Deuter überrascht sind über das Ausmaß der Krise, in der er sich befand. Das Kapitel "Oh Mercy" setzt Mitte der achtziger Jahre ein und beginnt mit einem Paukenschlag: "Wir schrieben das Jahr 1987, und meine Hand, die ich mir bei einem idiotischen Unfall schwer verletzt hatte, erholte sich langsam." So weit war das mediale Desinteresse an Dylan bereits gediehen, daß kaum jemand außerhalb seines Freundes- und Familienkreises von dieser Verletzung wußte. Seine Hand war bis auf die Knochen zerfetzt, und er mußte sich mit der Möglichkeit auseinandersetzen, nie wieder spielen zu können. Diese Verletzung und die Erkenntnis, "in den bodenlosen Abgrund kultureller Vergessenheit" gestürzt zu sein, trieben ihn in einen Zustand hart am Rande einer Depression. "Ich fühlte mich erledigt, ich war ein ausgebranntes Wrack. In meinem Kopf rauschte es zu laut, und ich konnte nicht abschalten." Wenn er nicht aufpasse, könne er leicht als Irrer enden, der die Wand anschreit, schreibt er.

Er spürte, daß er, der einmal Fußballstadien gefüllt hatte, als Performing Artist zu einem Veranstalterrisiko geworden war, der nur noch für einen Club-act taugte. Auch von den Kritikern, von den die meisten in Dylans Augen ohnehin nur PR-Agenten der Plattenindustrie sind, hatte er nichts mehr zu erwarten. Er kam sich vor wie ein alter Schauspieler, "der die Mülltonnen hinter dem Theater nach vergangenen Triumphen durchwühlt". Jemals wieder einen Song zu schreiben, lag außerhalb seiner Vorstellungskraft.

Aber dann beschreibt Dylan, wie er mit Hilfe der "Greatful Dead" und in der Zusammenarbeit mit Daniel Lanois seine fast ausweglose Krise überwunden hat, wie es ihm gelang, an frühere Erfolge anzuknüpfen, ohne sich selbst zu kopieren, wie ein Jazz-Sänger, dessen Namen er nicht nennt, "ein Fenster zu meiner Seele" aufstieß, und wie er plötzlich wußte, daß er "auf der Schwelle zu etwas Neuem" stand, und wie die Stadt New Orleans seine Phantasie bei der Arbeit im Studio mit Daniel Lanois beflügelte. Daß er überhaupt wieder in ein Studio ging, um eine Platte zu produzieren, hatte einen einzigen Grund: "Wenn ich in diesem Leben noch einmal eine Platte aufnehmen sollte, dann nur im Zusammenhang mit der Absicht, wieder auf der Bühne zu stehen."

Die Studioarbeit mit Lanois verlief nicht ohne Konflikte. Dylan beschreibt ihn als einen Mann mit festen Überzeugungen. Doch auch er selbst hatte dezidierte Vorstellungen von einem neuen Klang, den er erzeugen wollte. Zukünftig sollte nicht mehr primär der Text, sondern die Musik die eigentliche Triebfeder seiner Songs werden: "Wer mir seit Jahren zugehört hatte und meine Songs zu kennen glaubte, den würde es vielleicht in gelindes Erstaunen versetzen, wie sie jetzt gespielt werden sollten."

Schon bald sollte sich zeigen, daß New Orleans der geeignete Ort und Lanois der kongeniale Produzent war, um sich auf das Wagnis einer Aufnahmesession einzulassen. "Lanois' Art zu denken kam meiner eigenen entgegen", schreibt Dylan. "Lanois war ein Yankee aus der Gegend nördlich von Toronto - einer Schneeschuhgegend, in der das abstrakte Denken zu Hause ist." Und er fügt hinzu: "Auch ich denke abstrakt." Das Ergebnis ihrer Zusammenarbeit begeisterte nicht nur das Publikum, es überzeugte auch die Kritiker. Und doch war das Album "Oh Mercy" nur ein Probelauf. Sein Comeback als Singer und Songwriter feierte Dylan erst zehn Jahre später mit "Time out of Mind". Produzent auch diesmal - Daniel Lanois.

The artist und sein Producer trafen sich in New Orleans before the flood. Dylan mußte nicht lange dazu überredet werden, seine Platte in New Orleans zu produzieren: "Mir gefallen viele Städte, aber New Orleans ist mir die liebste von allen." Der große Sturm, unter dessen Fluten die Stadt begraben wurde und absoff, macht aus Dylans Hymne auf die Stadt einen bewegenden Nekrolog. "Beinahe kann man in New Orleans andere Dimensionen erschauen. Es gibt dort nur einen einzigen langen Tag, dann kommt die Nacht, und morgen wird es wieder heute sein. In den Bäumen hängt chronische Melancholie. Man bekommt es niemals satt. Lallemand, ein General Napoleons, soll einmal hier gewesen sein, als er nach der Niederlage von Waterloo nach einer Zuflucht für seinen Befehlshaber suchte. Er sah sich um und verabschiedete sich mit den Worten, daß hier der Teufel seine Höllenstrafe absitze, so wie alle anderen auch, nur noch schlimmer. Hierher kommt der Teufel, um zu seufzen."