Auf der Suche nach dem verlorenen Rausch
In der Kunst sind Rausch und Ekstase gängige Themen, wie eine Ausstellung in Hamburg zeigt. Aus dem echten Leben aber haben wir den Exzess verbannt: Wir ernähren uns gesund, trinken maßvoll, bewahren stets die Fassung. Der Philosoph Robert Pfaller meint: Wir leben in lustfernen Zeiten.
Christine Watty: Bei der Ausstellung "Dionysos. Ekstase und Rausch" im Bucerius Kunst Forum in Hamburg werden die Besucher ab morgen auch an einem Bild des Weingottes Bacchus aus dem 17. Jahrhundert in einer Darstellung als kindlicher dicklicher Knabe vorbeigehen. Und der kleine, dicke und nackte Bacchus trinkt darauf selbstständig und mit geröteten Wangen Rotwein aus einer Karaffe und er entleert sich gleichzeitig frohgemut, also er macht Pipi, könnte man auch sagen.
Sieht alles sehr vergnügt aus und irritiert doch heute ein wenig. Da gucken wir nämlich aus unserer sauberen, unekstatischen Zeit in eine Welt, in der Rausch und Ekstase, rote Wangen, Nicht-mehr-ganz-klar-sein und Einfach-mal-alles-mal-genießen-und-fließen-lassen möglich waren. Und wir wollen doch hingegen oder sollen wenigstens wollen: gesund sein, ausgeruht sein, nicht so viel trinken und schon gar nicht rauchen.
Von der "Maßlosigkeit des Maßhaltens" hat in diesem Zusammenhang mal der Philosoph Robert Pfaller gesprochen, und über eben diese wie auch die Sehnsucht nach dem groben Gegenteil haben wir uns gestern mit ihm unterhalten. Die erste Frage war: Das wird schon ein absurdes Szenario sein rund um die Dionysos-Ausstellung in Hamburg, dass man sich da so vorstellen kann. An den Wänden die beschriebenen Bilder, in Saus und Braus, beeinflusst von Dionysos' Haltung und davor Menschen, die dann zum Rauchen rausgehen. Wie kommt denn dieser Widerspruch eigentlich zustande?
Robert Pfaller: Nun, vielleicht ist es in der Kunst ja ohnehin immer so, dass wir die Dinge, die wir uns gerade versagen, uns dann in der Kunst noch ansehen. Das wäre so eine Verlagerung aus unserer ersten Welt in unsere zweite. Und die Kunst hat vielleicht immer diese Funktion gehabt, uns über bestimmte Verluste hinwegzutrösten. Also auch Verluste an Gewalt zum Beispiel, dann stellt sie große Gemetzel da, und wir sind ganz friedlich und träumen aber vielleicht noch davon, Helden zu sein, freuen uns aber auch, dass wir in Wirklichkeit keine zu sein brauchen.
Das sind vielleicht Kompensationsfunktionen, die die Kunst immer wieder ausgeübt hat, und das ist ja immerhin ganz schön in einer Zeit, in der man sich so viel versagen muss, wenn die Kunst wenigstens noch die Fahne dieser Dinge hochhält und Erinnerung an sie wachhält.
Watty: Ich hab ja dieses Bild jetzt eben einfach so widersprüchlich gezeichnet. Wenn man von außen drauf schaut, also da die ausschweifende Kunst, davor der eher zurückhaltende Besucher, der eben eigentlich nicht mehr ausschweifend lebt. Fühlen wir denn diese Diskrepanz auch so, wenn man vor solchen Bildern steht? Oder ist das einfach so eine Sicht, die wir jetzt von außen konstruieren?
Pfaller: Nein, nein, ich glaube, diese Diskrepanz wird zunehmend spürbarer und auch irgendwie – wir werden immer komischer angesichts dessen, was die Kunst uns zeigt und uns lehren kann. Die Stilllebenmalerei ist voll von üppigen Tafeln und wunderbaren Speisen und wir vegetarisch gestimmten Menschen ernähren uns nur von Körnchen und fühlen uns dabei großartig.
Oder die Kunst platzt vor Sex und Lust und wir sind ganz asketisch und leben im Low-Desire-Syndrom und sind stolz auf unsere Asexualität. Das sind Zeiterscheinungen, die wirklich, wie Sie richtig sagen, uns ein wenig komisch machen im Kunstraum. Vielleicht hat die Kunst aber hier eine bestimmte Funktion, uns anzustacheln und uns zumindest zu zeigen, dass wir auch anders leben könnten.
Watty: Also dann doch eine Zigarette zu rauchen direkt in der Ausstellung.
Pfaller: Ja, ich meine, auch das sehen wir ja heute, wenn Rolling-Stones-Musiker beklagt werden, weil sie auf der Bühne eine Zigarette rauchen. Das ist ja auch vollkommen lächerlich. Also gesund zu leben, passt einfach nicht zu dieser Musik. Also, dann darf man auch die Musik nicht spielen.
Watty: Würden Sie denn wirklich sagen, ganz allgemein betrachtet, wir leben heute in lustfernen Zeiten?
Pfaller: Ja. Und ich glaube, das ist keine gewagte These, das kann man auf vielen Ebenen beobachten. Zum einen auf der Ebene klinischer Symptome. Die Mediziner, die Psychotherapeuten berichten uns, dass sozusagen Symptome massiv zugenommen haben, die alle auf Probleme mit der Lust verweisen. Also zum Beispiel die Depression, aber auch Low-Desire-Syndrom, dass Menschen Schwierigkeiten haben, überhaupt irgendwas zu begehren. Genauso die Anorexie oder auch das Attention-Deficit-Syndrom. Also das sind ja auch wieder Formen einer Schwierigkeit, zur Lust zu finden, irgendwas lustvoll zu finden und daran festzuhalten oder auch lustvoll zu unterbrechen, sodass man sich danach wieder auf irgendwas konzentrieren kann. All diese Symptome im klinischen Bereich, die in den letzten Jahren massiv zugenommen haben, glaube ich, zeigen das.
Und auch ein zweites, eher kulturelles Symptom, glaube ich, beweist das auch. Selten noch in der jüngeren Geschichte der westlichen Kultur haben sich so viele Menschen ständig über die anderen beschwert. Allen fallen die anderen ständig mit irgendwas zur Last. Die anderen grillen und man will das nicht, oder die anderen duften, und man will das nicht. Oder die anderen sind höflich, und man will das nicht. Die anderen sind elegant gekleidet, und man findet das ärgerlich. Also, man kann sich über alles beschweren, und bezeichnenderweise beschweren wir uns dann eigentlich immer über Dinge, die man auch großartig finden könnte.
Man könnte auch ganz anders an das herangehen und könnte zum Beispiel sagen, das ist doch eigentlich wunderbar, dass da jetzt eine Familie mit migrantischem Hintergrund als erste auf die Idee kommt, diese scheußliche Platzgestaltung hier zu nutzen, um ein Picknick zu feiern. Und wenn ich vielleicht einen Salat mitbringe, bin ich auch eingeladen und kann dann mitfeiern. Also man kann sich genauso über das freuen, und das könnten Anlässe zu Begeisterung und Solidarität sein.
Watty: Oder man könnte auch, wie Sie mal schön geschrieben haben, sich freuen, dass die anderen alle doch noch ein paar Zigaretten rauchen, damit man auch als Nichtraucher selbst mal wie ein Intellektueller riecht, statt sich darüber zu beschweren – das fand ich auch ein sehr schönes Bild. Man kann also sagen, wenn man diese Gesellschaft so beschreibt und wenn man den Status quo betrachtet, dass Dionysos natürlich den Kopf schütteln würde, wenn er heute also Kneipen ohne Aschenbecher vorfinden würde, diese Vorschläge zum Veggie Day hören würde, und wenn er Menschen erleben würde, die auf ihre Gesundheit achten und eher stolz sind, wenn sie das Fest sogar noch ein bisschen früher als normalerweise verlassen haben, dann ist es trotzdem noch schwierig, ein heutiges Phänomen zu verstehen, nämlich diese große Sehnsucht offenbar nach einer absolut, fast schon verheerenden Ekstase, die es dann an anderer Stelle gibt.
Also Stichworte wären da das Komasaufen bei Jugendlichen – das ist natürlich eine fiese Schlagzeile, aber so wird es eben genannt. Die enthemmte Sexualität in Swingerclubs – also, dass es offenbar so Räume gibt, in denen dann aber diesem Genuss nachgegangen wird, sobald er in einer Form des, ja, Sperrbezirkes, jetzt mal ganz allgemein gemeint, stattfinden kann. Wo kommt das denn her?
Pfaller: Also zunächst könnte man hier mit Sigmund Freud sagen, die Götter, die wir nicht mehr verehren, kehren uns als Dämonen wieder. Man kann diese Dinge vielleicht nie ganz verbannen. Die Frage ist nur, geht man gut oder schlecht mit ihnen um. Und wir gehen sozusagen schlecht mit ihnen um, sodass sich all diese Dinge heute eben von ihrer abstoßenden Seite zeigen.
Das zweite, was man dazu aber sagen muss, ist vielleicht auch, dass wir heute die Genießer fast immer als Primitive erleben. Wir mokieren uns über die Unterschichten, die angeblich sich in einer pornografischen Kultur ergehen, wir mokieren uns über die Jugendlichen, die angeblich komatrinken oder über diese Swinger oder über die Menschen, die in den Talkshows oder in diesen Containern der Reality Shows sitzen und so weiter.
Aber wir vergessen dabei meistens den Beitrag, den unser eigener Blick zu dieser Primitivität leistet. Genauso nämlich, wie wir neidisch sind auf den anderen, sind die anderen dann trotzig gegen uns und genießen sozusagen trotzig. Sie machen sich selbst so primitiv, weil sie ahnen, dass wir sie für primitiv halten. Und dann entwickeln sie einen abstoßenden Genuss, der auch ihnen selbst nur lustvoll vorkommt, solange sie angewiderte Beobachter haben.
Also die Horden, die sozusagen am Freitagabend durch die Großstädte ziehen und meistens schon betrunken angereist sind, die würden das nicht auf dem Land machen, die brauchen sozusagen den angewiderten Blick der urbanen Bevölkerung, um sich selbst zu versichern, dass das, was sie tun, ein Glück wäre.
Und ich glaube, da müssen wir lernen, mit dem Glück wieder besser umzugehen, wir müssen das Glück an uns selbst so dulden können, dass wir keinen anderen brauchen, der angewidert ist. Dann ist unser Glück für uns selbst, glaube ich, sehr viel lustvoller und für andere auch.
Watty: Und was bedeutet das konkret für das, was vielleicht die Gesellschaft wieder in ein besseres Gleichgewicht bringen würde? Also, reicht es, den Blick zu verändern, den Genuss des anderen nicht mehr als Ärgernis zu empfinden? Oder sollte man insgesamt sagen, in der Kantine sollte doch lieber mal ein Glas Wein zum Mittagessen getrunken werden, als dafür nur an Karneval oder beim Oktoberfest auf der Wiesn mal über die Stränge zu schlagen. Also reicht die innere Haltung oder sollten sich auch konkret Genussrituale wieder ändern?
Pfaller: Nun, ich glaube, das, was wir als innere Haltungen begreifen, ist immer determiniert durch institutionelle Vorgaben. Es sind Institutionen und Medien, die unsere Haltungen und auch unsere Subjektstruktur prägen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Wenn ein Gericht feststellt, dass es für Menschen völlig unzumutbar ist, durch ein Raucherzimmer durchzugehen, wenn Sie auf dem Weg zur Toilette in einem Restaurant sind – das hat sich gerade in Österreich abgespielt – dann stellt dieses Gericht die österreichischen Staatsbürger und alle, die hier sind, als unendlich verletzbare, schwache, gesundheitsgefährdete Wesen dar. Wenn die jetzt anfangen, sich selbst so zu empfinden, dann müssen die die anderen hassen und jeden anderen als Ärgernis und als Bedrohung empfinden.
Und das geschieht ja derzeit auf vielen Ebenen. Wir sind dazu angehalten, den anderen als Sicherheitsbedrohung, als Bedrohung der Kosteneffizienz, als Bedrohung der Sozialfonds und so weiter wahrzunehmen. Und ich glaube, wir müssen politischen Druck erzeugen, dass dieser Appell aufhört. Dass wir nicht mehr adressiert werden als schwache, verletzbare Wesen, dass wir auch nicht adressiert werden als unmündige Wesen.
Denken Sie nur an diese seltsamen Warnungen auf den Zigarettenpackungen. Da richten erwachsene Politiker Warnungen an erwachsene Wähler – weil Minderjährige kriegen diese Packungen ja eh nicht – und behandeln die eigentlich, wie wenn das Minderjährige sind.
Also ich finde das kränkend, dass ich als Bürger hier von anderen gesagt bekomme, dass Rauchen schädlich ist. Wenn ich das nötig habe – ich hab ja diese Politiker schließlich gewählt –, dann ist meine Wahl ungültig, dann ist deren Mandat ungültig. Die sollten eigentlich zurücktreten, wenn sie das tun. Das muss aufhören, glaube ich, und das ist eine politische Frage. Das hängt gar nicht so sehr zusammen mit den Genusspraktiken, die wir im Alltag tun. Allerdings ist es vielleicht ganz nützlich, wenn wir uns ab und zu selbst üben in einer kleinen Genusspraktik und sehen, dass uns das auch nicht umbringt, dann fühlen wir uns vielleicht auch ein bisschen erwachsener.
Watty: Sehr gerne. Danke schön an den österreichischen Philosophen Robert Pfaller über den verloren gegangenen Geist des Dionysos in unserer Gesellschaft. Bilder vom Leben in Saus und Braus kann man sich ab Donnerstag im Bucerius Forum in Hamburg anschauen, und Robert Pfallers Gedanken sind nachzulesen unter anderem in seinen Büchern "Wofür es sich zu leben lohnt" oder "Zwei Welten und andere Lebenselixiere".
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Sieht alles sehr vergnügt aus und irritiert doch heute ein wenig. Da gucken wir nämlich aus unserer sauberen, unekstatischen Zeit in eine Welt, in der Rausch und Ekstase, rote Wangen, Nicht-mehr-ganz-klar-sein und Einfach-mal-alles-mal-genießen-und-fließen-lassen möglich waren. Und wir wollen doch hingegen oder sollen wenigstens wollen: gesund sein, ausgeruht sein, nicht so viel trinken und schon gar nicht rauchen.
Von der "Maßlosigkeit des Maßhaltens" hat in diesem Zusammenhang mal der Philosoph Robert Pfaller gesprochen, und über eben diese wie auch die Sehnsucht nach dem groben Gegenteil haben wir uns gestern mit ihm unterhalten. Die erste Frage war: Das wird schon ein absurdes Szenario sein rund um die Dionysos-Ausstellung in Hamburg, dass man sich da so vorstellen kann. An den Wänden die beschriebenen Bilder, in Saus und Braus, beeinflusst von Dionysos' Haltung und davor Menschen, die dann zum Rauchen rausgehen. Wie kommt denn dieser Widerspruch eigentlich zustande?
Robert Pfaller: Nun, vielleicht ist es in der Kunst ja ohnehin immer so, dass wir die Dinge, die wir uns gerade versagen, uns dann in der Kunst noch ansehen. Das wäre so eine Verlagerung aus unserer ersten Welt in unsere zweite. Und die Kunst hat vielleicht immer diese Funktion gehabt, uns über bestimmte Verluste hinwegzutrösten. Also auch Verluste an Gewalt zum Beispiel, dann stellt sie große Gemetzel da, und wir sind ganz friedlich und träumen aber vielleicht noch davon, Helden zu sein, freuen uns aber auch, dass wir in Wirklichkeit keine zu sein brauchen.
Das sind vielleicht Kompensationsfunktionen, die die Kunst immer wieder ausgeübt hat, und das ist ja immerhin ganz schön in einer Zeit, in der man sich so viel versagen muss, wenn die Kunst wenigstens noch die Fahne dieser Dinge hochhält und Erinnerung an sie wachhält.
Watty: Ich hab ja dieses Bild jetzt eben einfach so widersprüchlich gezeichnet. Wenn man von außen drauf schaut, also da die ausschweifende Kunst, davor der eher zurückhaltende Besucher, der eben eigentlich nicht mehr ausschweifend lebt. Fühlen wir denn diese Diskrepanz auch so, wenn man vor solchen Bildern steht? Oder ist das einfach so eine Sicht, die wir jetzt von außen konstruieren?
Pfaller: Nein, nein, ich glaube, diese Diskrepanz wird zunehmend spürbarer und auch irgendwie – wir werden immer komischer angesichts dessen, was die Kunst uns zeigt und uns lehren kann. Die Stilllebenmalerei ist voll von üppigen Tafeln und wunderbaren Speisen und wir vegetarisch gestimmten Menschen ernähren uns nur von Körnchen und fühlen uns dabei großartig.
Oder die Kunst platzt vor Sex und Lust und wir sind ganz asketisch und leben im Low-Desire-Syndrom und sind stolz auf unsere Asexualität. Das sind Zeiterscheinungen, die wirklich, wie Sie richtig sagen, uns ein wenig komisch machen im Kunstraum. Vielleicht hat die Kunst aber hier eine bestimmte Funktion, uns anzustacheln und uns zumindest zu zeigen, dass wir auch anders leben könnten.
Watty: Also dann doch eine Zigarette zu rauchen direkt in der Ausstellung.
Pfaller: Ja, ich meine, auch das sehen wir ja heute, wenn Rolling-Stones-Musiker beklagt werden, weil sie auf der Bühne eine Zigarette rauchen. Das ist ja auch vollkommen lächerlich. Also gesund zu leben, passt einfach nicht zu dieser Musik. Also, dann darf man auch die Musik nicht spielen.
Watty: Würden Sie denn wirklich sagen, ganz allgemein betrachtet, wir leben heute in lustfernen Zeiten?
Pfaller: Ja. Und ich glaube, das ist keine gewagte These, das kann man auf vielen Ebenen beobachten. Zum einen auf der Ebene klinischer Symptome. Die Mediziner, die Psychotherapeuten berichten uns, dass sozusagen Symptome massiv zugenommen haben, die alle auf Probleme mit der Lust verweisen. Also zum Beispiel die Depression, aber auch Low-Desire-Syndrom, dass Menschen Schwierigkeiten haben, überhaupt irgendwas zu begehren. Genauso die Anorexie oder auch das Attention-Deficit-Syndrom. Also das sind ja auch wieder Formen einer Schwierigkeit, zur Lust zu finden, irgendwas lustvoll zu finden und daran festzuhalten oder auch lustvoll zu unterbrechen, sodass man sich danach wieder auf irgendwas konzentrieren kann. All diese Symptome im klinischen Bereich, die in den letzten Jahren massiv zugenommen haben, glaube ich, zeigen das.
Und auch ein zweites, eher kulturelles Symptom, glaube ich, beweist das auch. Selten noch in der jüngeren Geschichte der westlichen Kultur haben sich so viele Menschen ständig über die anderen beschwert. Allen fallen die anderen ständig mit irgendwas zur Last. Die anderen grillen und man will das nicht, oder die anderen duften, und man will das nicht. Oder die anderen sind höflich, und man will das nicht. Die anderen sind elegant gekleidet, und man findet das ärgerlich. Also, man kann sich über alles beschweren, und bezeichnenderweise beschweren wir uns dann eigentlich immer über Dinge, die man auch großartig finden könnte.
Man könnte auch ganz anders an das herangehen und könnte zum Beispiel sagen, das ist doch eigentlich wunderbar, dass da jetzt eine Familie mit migrantischem Hintergrund als erste auf die Idee kommt, diese scheußliche Platzgestaltung hier zu nutzen, um ein Picknick zu feiern. Und wenn ich vielleicht einen Salat mitbringe, bin ich auch eingeladen und kann dann mitfeiern. Also man kann sich genauso über das freuen, und das könnten Anlässe zu Begeisterung und Solidarität sein.
Watty: Oder man könnte auch, wie Sie mal schön geschrieben haben, sich freuen, dass die anderen alle doch noch ein paar Zigaretten rauchen, damit man auch als Nichtraucher selbst mal wie ein Intellektueller riecht, statt sich darüber zu beschweren – das fand ich auch ein sehr schönes Bild. Man kann also sagen, wenn man diese Gesellschaft so beschreibt und wenn man den Status quo betrachtet, dass Dionysos natürlich den Kopf schütteln würde, wenn er heute also Kneipen ohne Aschenbecher vorfinden würde, diese Vorschläge zum Veggie Day hören würde, und wenn er Menschen erleben würde, die auf ihre Gesundheit achten und eher stolz sind, wenn sie das Fest sogar noch ein bisschen früher als normalerweise verlassen haben, dann ist es trotzdem noch schwierig, ein heutiges Phänomen zu verstehen, nämlich diese große Sehnsucht offenbar nach einer absolut, fast schon verheerenden Ekstase, die es dann an anderer Stelle gibt.
Also Stichworte wären da das Komasaufen bei Jugendlichen – das ist natürlich eine fiese Schlagzeile, aber so wird es eben genannt. Die enthemmte Sexualität in Swingerclubs – also, dass es offenbar so Räume gibt, in denen dann aber diesem Genuss nachgegangen wird, sobald er in einer Form des, ja, Sperrbezirkes, jetzt mal ganz allgemein gemeint, stattfinden kann. Wo kommt das denn her?
Pfaller: Also zunächst könnte man hier mit Sigmund Freud sagen, die Götter, die wir nicht mehr verehren, kehren uns als Dämonen wieder. Man kann diese Dinge vielleicht nie ganz verbannen. Die Frage ist nur, geht man gut oder schlecht mit ihnen um. Und wir gehen sozusagen schlecht mit ihnen um, sodass sich all diese Dinge heute eben von ihrer abstoßenden Seite zeigen.
Das zweite, was man dazu aber sagen muss, ist vielleicht auch, dass wir heute die Genießer fast immer als Primitive erleben. Wir mokieren uns über die Unterschichten, die angeblich sich in einer pornografischen Kultur ergehen, wir mokieren uns über die Jugendlichen, die angeblich komatrinken oder über diese Swinger oder über die Menschen, die in den Talkshows oder in diesen Containern der Reality Shows sitzen und so weiter.
Aber wir vergessen dabei meistens den Beitrag, den unser eigener Blick zu dieser Primitivität leistet. Genauso nämlich, wie wir neidisch sind auf den anderen, sind die anderen dann trotzig gegen uns und genießen sozusagen trotzig. Sie machen sich selbst so primitiv, weil sie ahnen, dass wir sie für primitiv halten. Und dann entwickeln sie einen abstoßenden Genuss, der auch ihnen selbst nur lustvoll vorkommt, solange sie angewiderte Beobachter haben.
Also die Horden, die sozusagen am Freitagabend durch die Großstädte ziehen und meistens schon betrunken angereist sind, die würden das nicht auf dem Land machen, die brauchen sozusagen den angewiderten Blick der urbanen Bevölkerung, um sich selbst zu versichern, dass das, was sie tun, ein Glück wäre.
Und ich glaube, da müssen wir lernen, mit dem Glück wieder besser umzugehen, wir müssen das Glück an uns selbst so dulden können, dass wir keinen anderen brauchen, der angewidert ist. Dann ist unser Glück für uns selbst, glaube ich, sehr viel lustvoller und für andere auch.
Watty: Und was bedeutet das konkret für das, was vielleicht die Gesellschaft wieder in ein besseres Gleichgewicht bringen würde? Also, reicht es, den Blick zu verändern, den Genuss des anderen nicht mehr als Ärgernis zu empfinden? Oder sollte man insgesamt sagen, in der Kantine sollte doch lieber mal ein Glas Wein zum Mittagessen getrunken werden, als dafür nur an Karneval oder beim Oktoberfest auf der Wiesn mal über die Stränge zu schlagen. Also reicht die innere Haltung oder sollten sich auch konkret Genussrituale wieder ändern?
Pfaller: Nun, ich glaube, das, was wir als innere Haltungen begreifen, ist immer determiniert durch institutionelle Vorgaben. Es sind Institutionen und Medien, die unsere Haltungen und auch unsere Subjektstruktur prägen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Wenn ein Gericht feststellt, dass es für Menschen völlig unzumutbar ist, durch ein Raucherzimmer durchzugehen, wenn Sie auf dem Weg zur Toilette in einem Restaurant sind – das hat sich gerade in Österreich abgespielt – dann stellt dieses Gericht die österreichischen Staatsbürger und alle, die hier sind, als unendlich verletzbare, schwache, gesundheitsgefährdete Wesen dar. Wenn die jetzt anfangen, sich selbst so zu empfinden, dann müssen die die anderen hassen und jeden anderen als Ärgernis und als Bedrohung empfinden.
Und das geschieht ja derzeit auf vielen Ebenen. Wir sind dazu angehalten, den anderen als Sicherheitsbedrohung, als Bedrohung der Kosteneffizienz, als Bedrohung der Sozialfonds und so weiter wahrzunehmen. Und ich glaube, wir müssen politischen Druck erzeugen, dass dieser Appell aufhört. Dass wir nicht mehr adressiert werden als schwache, verletzbare Wesen, dass wir auch nicht adressiert werden als unmündige Wesen.
Denken Sie nur an diese seltsamen Warnungen auf den Zigarettenpackungen. Da richten erwachsene Politiker Warnungen an erwachsene Wähler – weil Minderjährige kriegen diese Packungen ja eh nicht – und behandeln die eigentlich, wie wenn das Minderjährige sind.
Also ich finde das kränkend, dass ich als Bürger hier von anderen gesagt bekomme, dass Rauchen schädlich ist. Wenn ich das nötig habe – ich hab ja diese Politiker schließlich gewählt –, dann ist meine Wahl ungültig, dann ist deren Mandat ungültig. Die sollten eigentlich zurücktreten, wenn sie das tun. Das muss aufhören, glaube ich, und das ist eine politische Frage. Das hängt gar nicht so sehr zusammen mit den Genusspraktiken, die wir im Alltag tun. Allerdings ist es vielleicht ganz nützlich, wenn wir uns ab und zu selbst üben in einer kleinen Genusspraktik und sehen, dass uns das auch nicht umbringt, dann fühlen wir uns vielleicht auch ein bisschen erwachsener.
Watty: Sehr gerne. Danke schön an den österreichischen Philosophen Robert Pfaller über den verloren gegangenen Geist des Dionysos in unserer Gesellschaft. Bilder vom Leben in Saus und Braus kann man sich ab Donnerstag im Bucerius Forum in Hamburg anschauen, und Robert Pfallers Gedanken sind nachzulesen unter anderem in seinen Büchern "Wofür es sich zu leben lohnt" oder "Zwei Welten und andere Lebenselixiere".
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.