Auf der Suche nach neuen Narrativen

Die Welt ist radikal subjektiv geworden

Datenzentrumschef Joel Kjellgren läuft durch die Serverräume im schwedischen Lapland.
Ein riesiger Serverraum: Längst spielen sich große Teile unseres Lebens virtuell ab. Das zersplittert die Wirklichkeit © AFP / JONATHAN NACKSTRAND
Von Daniel Hornuff · 02.02.2017
Europa brauche eine neue Erzählung, ein neues Narrativ, wird allenthalben gefordert, um seine Fliehkräfte wieder einzufangen. Doch das ist eine falsche Forderung: In Zeiten von Internet und Social Media gibt es die eine Erzählung schon lange nicht mehr.
Eigentlich schien die Sache längst erledigt – die Sache mit den großen Erzählungen. Bereits im Jahr 1979 veröffentlichte der französische Philosoph Jean-François Lyotard ein Buch, das mit der Vorstellung aufräumte, in einem Zeitalter der verbindlichen Erzählungen zu leben: "La condition postmoderne", "Das postmoderne Wissen" lautete der Titel seines Verkaufsschlagers.
Lyotard sieht den Beginn der Moderne als Zeitenwende. Bis dahin erschlossen sich die Menschen ihre Welt aus Fabeln, Mythen, Erzählungen. Diese Narrative waren Mittel der Sinnstiftung und wurden von Generation zu Generation tradiert. Erzählen bedeutete, Wissen zu festigen. Mit Anbruch der Moderne aber ging es darum, wissenschaftliche Beweisführungen zu entwickeln und Wissen zu akkumulieren. Der Positivismus trat an die Stelle des Mythos.
Doch war damit nur scheinbar das Ende der Erzählungen erreicht. Denn auch das Wissen der modernen Wissenschaften brauchte eine Erzählung – und zwar als Begründung ihrer eigenen Legitimation. Allerdings blieb diese Erzählung ein Spezialfall der Wissenschaften. Für das Leben der Menschen entfaltete sie keine Relevanz. Für Lyotard folgt daraus eine klare Erkenntnis: "Die Sehnsucht nach der großen Erzählung ist für den Großteil der Menschen selbst verloren."

Mit dem Geist des Kulturpessimismus

Dieser Satz kann zu denken geben; gerade heute, zu einer Zeit, in der sich vor allem Intellektuelle und Politiker bemüßigt fühlen, an allen Ecken und Enden neue Erzählungen einzufordern. Jüngst plädierte etwa Richard David Precht für "eine neue europäische Erzählung." Damit schrieb er bereitwillig fort, was einst Peer Steinbrück als Kanzlerkandidat nicht minder pathetisch gefordert hatte: "Wir brauchen eine neue Erzählung von Europa."
Doch war Steinbrück seinerseits nur einer unter vielen, der Europa mit einer neuen Erzählung belegen wollte. Europas Bindekräfte erodierten, und eine neue europäische Erzählung solle Sinn und Zweck Europas für die Menschen wieder greifbar machen. Dass im selben Atemzug meist noch eine neue Erzählung für die Sozialdemokratie, den Konservatismus, die Linke oder gleich die ganze Zukunft gefordert wird, unterstreicht nur einmal mehr: Die Forderung nach einer neuen politischen Großerzählung entspringt dem Geist des Kulturpessimismus.
Umso ärgerlicher ist, dass sich gerade Intellektuelle der etablierten Politik anbiedern, indem sie sich der Suche nach derartigen Erzählungen anschließen. Anstatt die Forderungen nach einem Storytelling zu analysieren und gesellschaftlich einzuordnen, erklären sie sich zu dessen Mitautoren.

Rechte Nationalisten verkünden nur noch

Doch wird damit nur Verdruss erzeugt. Denn das Leben in Zeiten der Sozialen Medien ist längst kein Leben mehr, in dem eine Autorität verbindliche Geschichten über die Welt erzählen könnte. Im Gegenteil: Gerade weil das Kommunizieren prinzipiell aller mit allen die wesentliche Kulturtechnik unserer Zeit ist, hat die Grundsatzerzählung ausgedient. Die richtungsweisende, übergeordnete Erzählung ist von der radikalen Subjektivität der vielen kleinen Erzählungen abgelöst worden.
Rechte Nationalisten haben diesen Umstand erkannt – und konterkarieren die Mahner der großen Erzählungen, indem sie überhaupt nichts mehr erzählen, sondern nur noch verkünden.
Doch Vorsicht: Begründet eine solche Feststellung nicht geradewegs eine neue Erzählung? Nämlich die Erzählung vom Ende der großen Erzählungen? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, auf Erzählungen zu verzichten? Ich meine nein. Denn selbst die stolzen Verkünder erzählen – in ihrem Fall das Märchen der großen Nicht-Erzählung. Das Erzählen geht also munter weiter. Machen wir das Beste draus!
Daniel Hornuff, geboren 1981, vertritt derzeit eine Professur für Kunstwissenschaft an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik, Komparatistik, Kunstwissenschaft und Philosophie promovierte er 2009 und habilitierte er sich 2013. Er hatte zahlreiche Lehraufträge inne und legte etliche Publikationen zu Themen der Kunst- und Bildwissenschaft sowie zur Kulturgeschichte vor.
Mehr zum Thema