Auf der Suche nach Zuneigung

Von Walter Bohnacker |
Vom Enfant terrible zum Liebling des Kunstbetriebs: Die Endvierzigerin Tracey Emin hat einen langen Weg hinter sich, mit einigen Höhen und vielen Tiefen. Provokation und radikaler Exhibitionismus gehören zu ihren Markenzeichen, aber auch Sensibilität, Humor und Witz. Die Londoner Hayward Gallery würdigt das Werk der britischen Starkünstlerin mit "Love is What You Want" - einer großen Retrospektive.
Die meisten kennen sie aus den Medien, meint Kurator Cliff Lauson. Doch da werde vieles überzeichnet und verzerrt. Völlig falsch sei der Eindruck, sie lege in ihren Arbeiten tatsächlich alles offen. Im Gegenteil:

"Tracey Emin gibt längst nicht alles preis."

Das klingt überraschend. Eine Tracey Emin, die sich selbst zensiert? Die bis an die Schamgrenze geht und nicht weiter? Sie, die keine Feigenblätter kennt und sowieso noch nie eines vor den Mund nahm? Nein, so kennen wir sie wirklich nicht, das ist neu.

Man denkt an "My Bed", ihr zerwühltes Bett, mit dem sie Furore machte und für das sie 1999 für den Turner-Preis nominiert war. Oder an die obsessive Zurschaustellung ihres nackten, gequälten Körpers. Hat sie als das Enfant terrible unter den Young British Artists damit nicht permanent – und medienwirksam – so ziemlich alle Tabus gebrochen?

Die schonungslose Offenheit und der radikale Exhibitionismus: Sie waren doch das Markenzeichen dieser Künstlerin, deren Werk immer nur ein Thema kennt: die eigene Biografie! Sind sie es heute nicht mehr? Zu ihrer Retrospektive in der Hayward Gallery, ihrer ersten in London, sagt Emin:

"Ich bin ledig und habe keine Kinder. Das hier ist meine komplette Hinterlassenschaft. Ich stehe hinter meiner Kunst und schütze sie mit ganzer Kraft, denn: das alles bin ich."

"Das alles” – das sind ihre Arbeiten aus den letzten 25 Jahren: bestickte Decken, Häkelarbeiten, Fotografien, Filme und Videos, Gemälde, Zeichnungen, Installationen, Readymades, Plastiken und Neon-Schriftzüge. Sie breite hier zwar ihr ganzes Leben aus, sagt Emin. Und denoch: Diese Schau sei alles andere als ein Ego-Trip:

"Im Zentrum steht die Praxis meiner künstlerischen Arbeit. Hier geht es um meine Sicht auf die Dinge und um mein Denken und Fühlen. Sicher, mein gesamtes Werk ist das Destillat von Erfahrungen."

Erfahren hat Emin viel, viel Schlimmes vor allem. Ihre Jugend liest sich wie eine Horrorstory: sexueller Missbrauch als Kind, mit zwölf eine Vergewaltigung, später zwei Abtreibungen, eine Magersucht, außerdem Alkohol- und Drogenexzesse und immer wieder schwere Depressionen. In insgesamt fünf Galerieräumen, verteilt auf zwei Etagen, präsentiert die Ausstellung die ganze multimediale Bandbreite der künstlerischen Aufarbeitung der diversen Traumata.

Emins große Themen sind nach wie vor ihre Sexualität, ihr eigener Körper, ihre Lust und ihre Liebschaften, ihr Selbsthass, ihre Verletzlichkeit und ihre Trauer. Anspruchsvoller und ansprechender als die unter Glas präsentierten Memorabilien aus ihrer Kindheit und Jugend und die benutzten Tampons in den Vitrinen sind die Textilarbeiten sowie das zeichnerische und bildhauerische Werk.

Sie, die weniger bekannten und nur selten gezeigten Arbeiten, sind der große Gewinn dieser Schau, allen voran die erst in jüngster Zeit entstandenen Skulpturenensembles. Eine Plastik zeigt einen Sockel mit einer Dornenkrone aus Stacheldraht. Bedrohliches und Verletzliches, so Emin, wende sich hier zum Schönen. Gleiches gilt für eine Arbeit aus dem Jahr 2007 – "White Rose", eine Wandskulptur aus weißen Neonröhren. Die Blume habe Ähnlichkeit mit einem Fötus an der Nabelschnur, aber der Betrachter sehe zuallererst eine Rose.

Auffallend ist in dieser Schau ein stark ausgeprägtes narratives Element. Viele Arbeiten – hier die bestickten Decken und Möbel, dort die Slogans der Leuchtröhren – sind textbasiert, auch wenn es dabei von, mitunter beabsichtigten, Orthografiefehlern nur so wimmelt.

""Einzigartig wird meine Kunst erst durch meine Sprache","

sagt Tracey Emin - "the story-teller".

In zwei Jahren wird sie 50. "Love is What You Want": Der Neonschriftzug, der der Retrospektive ihren Titel gibt, ist die Signatur einer Endvierzigerin, die sich nach wie vor nichts sehnlicher wünscht als Anerkennung und Zuneigung.

Die Ausstellung zeigt beide Tracey Emins: die Provokateurin und den Superstar der Kunstszene. Keine Frage: Sie ist milder geworden, zahmer und brav – und besser. Heute gehört sie zum Establishment. Kann sie damit leben? Aber sicher! Schämen brauche sie sich nicht.

Service:
"Love is What You Want" - die Tracey-Emin-Retrospektive ist bis 29.8.2011 in der Hayward Gallery in London zu sehen.
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