Mangelwirtschaft in Kuba
Nur wenige Menschen auf der Straße in San Antonio, eine Stunde von Havanna entfernt. Hier begannen die Proteste gegen die Regierung. © ARD / Anne Demmer
Auf die Wut folgt der Exodus
22:43 Minuten
Regierungskritische Proteste in Kuba sind selten. Wenn es sie gibt, werden sie massiv unterdrückt. So auch vor einem Jahr, als mehr als 1400 Menschen verhaftet wurden. Inzwischen sind viele zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Doch es gärt weiter.
Ein magischer Moment sei der 11. Juli 2021 gewesen, erinnert sich Aylin.
„Es war ein spontaner Protest. Ich bin rausgegangen, weil ich es wollte. Es waren in dem Moment viele Dinge zusammengekommen: Der Mangel an Medikamenten und Nahrungsmitteln, die Ineffizienz der kubanischen Regierung. In San Antonio, eine Stunde von Havanna entfernt, hatten die Proteste begonnen, das war der Impuls für den Rest des Landes. Die Menschen dort hatten drei Tage lang keinen Strom und auch kein frisches Wasser.“
Zwei-Klassen-Gesellschaft im Sozialismus
Die kubanische Mangelwirtschaft bringt die Menschen seit Jahrzehnten zum Verzweifeln. Die Proteste vor einem Jahr waren ein Ventil. Über die sozialen Netzwerke organisierten sich die Demonstranten im ganzen Land. „No tenemos miedo“ (Wir haben keine Angst mehr), „Libertad“ (Freiheit) und „Tenemos hambre“ (Wir haben Hunger), so skandierten die Menschen auf der Straße.
Die 33-jährige Aylin arbeitet in einem Friseursalon und sieht die derzeitige Situation im sozialistischen Kuba äußerst kritisch. Statt Gleichheit gibt es eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, meint sie. Die einen haben Devisen, die anderen nicht. Ähnlich wie die DDR mit den „Intershops“ betreibt auch Kuba spezielle Geschäfte für Privilegierte.
„Diese Devisenläden sind die größte Demütigung für einen Kubaner. Sie verkaufen dort die Produkte, die es in den normalen Läden nicht gibt, wo die Regale leer sind. In den Devisenläden kann man nur in ausländischer Währung bezahlen.“
Während der Proteste wurden deshalb auch die Devisenläden angegriffen. 1400 Menschen wurden verhaftet, darunter auch Aylins Bruder Rolando, der inzwischen wegen Bagatellen zu 12 Jahren Haft verurteilt worden ist. Gegen rund 480 Protestierende wurden teils massive Haftstrafen erlassen – bis zu 25 Jahren.
Movimiento San Isidro macht Schlagzeilen
Auch der Rapper Maykel Osorbo Castillo und der Künstler Luis Manuel Otero Alcántara wurden zu neun bzw. fünf Jahren verurteilt. Sie hatten die oppositionelle Künstlerbewegung Movimiento San Isidro mitgegründet. Den beiden werden Störung der öffentlichen Ordnung und Respektlosigkeit gegenüber der kubanischen Revolution vorgeworfen.
Maykel Osorbo war an dem regierungskritischen Lied „Patria y Vida“ beteiligt, das zur Hymne der Dissidenten wurde und im letzten Jahr mit zwei Latin Grammys ausgezeichnet wurde. Deshalb machten die beiden Künstler Schlagzeilen, aber die vielen anderen – wie Aylins Bruder – nicht.
Die Demonstrationen Mitte Juli ereigneten sich inmitten der Pandemie. Die Kubanerinnen und Kubaner hatten monatelang unter dem harten Lockdown, den anhaltenden Stromausfällen und Lebensmittelknappheit gelitten, erklärt der kubanische Wirtschaftswissenschaftler Omar Everleny.
„Kuba befindet sich in einer sehr schwierigen Situation. Die Wirtschaft wurde durch die Pandemie extrem geschwächt. Einer der größten Wirtschaftsfaktoren für das Land, der Tourismus, ist in den letzten beiden Jahren komplett eingebrochen.“
Im Tourismus haben sich viele Kubanerinnen und Kubaner selbstständig gemacht. Sie waren nun ohne Einkommen. Hinzu kommt das anhaltende US-Embargo, das seit Jahrzehnten in Kraft ist und den internationalen Handel mit Kuba unterbinden soll.
Doch die US-Blockade werde oft auch als Ausrede für die eigenen Unzulänglichkeiten angeführt, erklärt der ehemalige Diplomat und Experte für internationale Beziehungen, Carlos Alzugaray.
„Die Blockade ist eines der größten Hindernisse für die wirtschaftliche Entwicklung, betont die kubanische Regierung immer wieder. Und natürlich ist sie ein Hindernis, aber es ist nicht die größte Hürde. Die Regierung war selbst nicht fähig und mutig genug, die Reformen umzusetzen, die sie eigentlich schon verabschiedet hatte. Für mich ist das der Hauptgrund.“
Impfstoffentwicklung trotz Embargo
Trotz der massiven Krise und vieler Hürden hat die sozialistische Karibikinsel während der Pandemie Erstaunliches erreicht. Kuba hat als einziges Land Lateinamerikas eigene Impfstoffe entwickelt, sogar für Kinder. Und das trotz des US-Embargos, das zum Beispiel die Einfuhr von medizinischem Equipment und anderen notwendigen Produkten zur Entwicklung von Impfstoffen verhindert hat.
Am Ende hat das Embargo aber nur zu Verzögerugen geführt. Die kubanischen Impfstoffe Soberana 2 und Abdala wurden breit eingesetzt und innerhalb weniger Monate waren mehr als 95 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Eine der höchsten Impfquoten weltweit.
Aber das hatte seinen Preis, denn die Hälfte des Gesundheitsbudgets wurde in die Impfstoffentwicklung investiert. Es mangelt an allen anderen Medikamenten.
Doch so konnte sich die sozialistische Karibikinsel wieder dem Tourismus öffnen. Aber die internationalen Urlauber bleiben nach wie vor aus.
Javier Torres arbeitet als Tauchlehrer in Havanna und versucht, die Zuversicht nicht zu verlieren.
„Der Tourismus erholt sich nur sehr langsam. Wir hoffen, dass es zur nächsten Hochsaison im November wieder richtig losgeht und mit den kleinen Lockerungen der US-Sanktionen auch wieder mehr US-amerikanische Touristen nach Kuba kommen.
Unter Präsident Biden wurden einige Flugverbindungen nach Kuba wieder aufgenommen und die Restriktionen für Überweisungen aus den USA nach Kuba wurden gelockert. Es sind sehr verhaltene Schritte der Annäherung.
Viele Kubaner hatten große Hoffnung in US-Präsident Biden gesetzt, der im Wahlkampf angekündigt hatte, dass er der Annäherungspolitik von Barack Obama folgen würde. Doch diese Hoffnungen wurden enttäuscht. Für den US-Präsidenten hat Kuba keine Priorität.
Javier hofft auf baldige weitere wirtschaftliche Öffnungen und hat das Vertrauen in die Regierung noch nicht völlig verloren. Er selbst bewegt sich als selbstständiger Tauchlehrer in einer Grauzone, sagt er.
„Man ist schnell frustriert, weil einem Steine in den Weg gelegt werden. Entscheidungen werden sehr langsam gefällt. Die Regierung muss erkennen, dass sie schneller arbeiten muss. Schnell und gründlich. Und dann ist natürlich ein weiteres Problem, dass es beispielsweise schon schwierig ist, wenn man ein Airbnb betreibt, anständige Bettwäsche zu finden.“
Als er damals von den Demonstrationen vor einem Jahr hörte, war er erschrocken. Angeschlossen hat er sich nicht. "Wir sind solche Proteste nicht gewöhnt," sagt er. "Es war ein sehr angespannter Moment. Ich wusste nicht, wie das enden würde."
Hauptbeschäftigung ist das Schlangestehen
Viele, vor allem junge Menschen, die vor einem Jahr auf die Straße gegangen sind, haben das Land verlassen. Sie sehen keine Perspektiven in ihrer Heimat – keine Jobaussichten, keine politischen Freiheiten. Es fehlt an allem, sagt Yanet.
Sie ist vor acht Monaten von der Kleinstadt Camagüey mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern nach Havanna gezogen, zu viert bewohnen sie ein Zimmer zur Untermiete. Sie wollen sparen. Ihr Ziel: die USA.
In Havanna ist sie täglich stundenlang damit beschäftigt, Grundnahrungsmittel zu organisieren, damit überhaupt etwas abends auf den Tisch kommt. Dafür steht sie ewig in der Schlange. Das Leben besteht aus Warten für ein bisschen Reis, Öl, Bohnen, Zucker.
„Viele Bekannte haben das Land schon verlassen. Sie haben genau wie wir alles verkauft, ihr Haus, alles, was einen Wert hat. Einige haben es in die USA geschafft, andere wurden deportiert. Das ist natürlich sehr traurig, du hast über Jahre gespart und dann stehst du vor dem Nichts.“
Bis die 33-Jährige das Geld zusammen hat, wird es dauern. Wenn es soweit ist, wird sie sich wie Dutzende andere täglich in eine weitere lange Schlange stellen: vor die Botschaft von Panama, um ein Transit-Visum für Nicaragua zu bekommen und von dort aus illegal, mit einem Schlepper, über Mexiko in die USA zu gelangen.
Der Weg ist teuer und gefährlich: Rund 15.000 Dollar pro Kopf, Flugtickets, Schlepper, Schutzgeldzahlungen an kriminelle Banden, der Weg durch die Wüste. Allein in den letzten acht Monaten versuchten rund 140.000 Kubaner, irregulär über die mexikanische Grenze in die USA einzureisen.
Viele gehen ins Ausland, aber nicht alle
Martha Roldan hat kein Verständnis für die Revolte und den Exodus. Die Rentnerin lebt in dem Viertel Fanguito in Havanna. Sie sitzt unter dem Dach vor ihrem Haus in einem Gartenstuhl.
„Das sind doch Leute, die keine Kultur haben, die machen hier Propaganda und sind einfach nur unfähig. Hier in meinem Viertel sind alle arm, aber keiner ist auf die Straße gegangen, niemand hat auch nur ein Plakat aufgehängt. Die Revolution gibt so viel Unterstützung. Niemand wird hier misshandelt.“
Am Kiosk steht auf einem Schild mit roter Farbe geschrieben: Die Bewohner von Fanguito bedanken sich bei allen Einheiten, die die Transformation des Viertels möglich gemacht haben. Nach und nach sollen alle Häuser saniert werden, so das Versprechen, sagt Martha. Dank der Revolution habe sie ein Telefon, einen Fernseher, ein Heim.
„Sie unterstützen uns hier. Wenn ich jetzt ein Problem habe, dann lösen sie es in der nächsten Woche. Allerdings stimmt es, dass wir sehr viele Probleme haben.“
Kürzlich kam es anlässlich eines Stromausfalls wieder zu kleineren spontanen Demonstrationen. Studenten schlugen wütend auf Kochtöpfe, in Camagüey und auch in Manzanillo gingen die Bewohner auf die Straße. Mögliche Konsequenzen, die Repression der Regierung fürchteten sie offenbar nicht. „Gebt uns den Strom zurück“, riefen sie außer sich. Der kubanische Präsident Díaz-Canel reagierte prompt und versuchte, zu beschwichtigen.
„Alle Welt sollte wissen, dass wir intensiv an Lösungen für die Probleme arbeiten. Es gibt hier Menschen, die unter den schwierigsten Bedingungen rund um die Uhr damit beschäftigt sind, Elektriker, die an den Stromnetzen arbeiten, Landwirte, die trotz jüngsten Überschwemmungen die Ernte einbringen.“
Zu größeren Protesten kam es nicht. Die hohen Haftstrafen, die in den letzten Monaten gegen die Demonstranten verhängt wurden, schrecken ab. Und das ist wohl auch beabsichtigt. Aber die Regierung nimmt in Kauf, dass massenhaft gut ausgebildete Leute das Land verlassen.
Die Friseurin Aylin denkt nicht daran, zu gehen, sie liebt ihr Land und will weiter ihrem Bruder, der im Gefängnis sitzt, helfen.
„Ich lebe hier gerne: Wenn ich aufstehe und morgens schon die Sonne spüre, die Wärme, ich liebe die Luft. Es ist mein Land. Derzeit ist die gängige Frage: Wann gehst Du? Aber warum sollte ich mich vertreiben lassen? Mein Leben steht auf Pause. Ich lache weniger. Aber das interessiert mich nicht. Das ist eine Phase in meinem Leben, ich muss mich darauf konzentrieren, dass mein Bruder freigelassen wird.“