Regie: Frank Merfort
Technik: Jan Fraune
Sprecherin: Ilka Teichmüller
Sprecher: Timo Weisschnur
Redaktion: Carsten Burtke
Wie Europa autoritären Regimen das Überwachen erleichtert
30:37 Minuten
EU-Unternehmen exportieren Überwachungstechnologie in autoritär regierte Länder. EU-Behörden bilden Sicherheitskräfte solcher Länder beim Ausspähen ihrer Bevölkerung aus. Eine neue Verordnung soll das ändern. Doch das Verhalten der EU bleibt widersprüchlich.
Mittwoch, 25. Oktober 2017. Die ARD-Tagesthemen.
"Guten Abend. ‚Ich fordere meine sofortige Freilassung‘, sagte heute der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner in Istanbul. Seit mehr als drei Monaten sitzt er in der Türkei in Untersuchungshaft – wegen Terrorverdachts."
Insgesamt hundert Tage saß Peter Steudtner in einem türkischen Gefängnis, weil er lokale Menschenrechtsaktivisten zu Fragen der Datensicherheit beraten hatte: Wie können sie sich, ihre Kontakte, ihre Daten schützen vor staatlicher Überwachung? Derlei Fragen zu erörtern, gilt in der Türkei als Terrorismus.
"Meine persönlichen Erfahrungen mit der Überwachung waren zum Beispiel gleich in den ersten zwei Wochen im Anti-Terror-Gewahrsam. Das ist ein unterirdischer Trakt des Polizeipräsidiums von Istanbul; und ich lag auf dieser Gummimatte, die unsere Betten waren, guckte hoch und stellte fest, dass die Videokamera, die uns überwachte, noch die Aufschrift 'Telefunken' trug", sagt Steudtner.
Forensische Software aus Schweden und Israel
"Hinzu kam, dass meine Geräte konfisziert wurden bei der Festnahme und nach hundert Tagen zurückgegeben wurden, wobei sich die türkische Justiz an die Vorschriften hielt. Wir haben dann eine Festplatte mit dazubekommen, wo alle Daten drauf waren, die in das Justizsystem überführt wurden. Wir haben diese dann analysiert und festgestellt, dass diese Kopien erstellt wurden mit forensischer Software einer schwedischen und einer israelischen Firma."
Mit Überwachungstechnik aller Art drangsaliere die türkische Regierung Menschenrechtler, Oppositionelle und Journalisten, berichtet Steudtner. In anderen autoritär regierten Ländern geschehe Ähnliches. Trotzdem exportieren bis heute EU-Firmen Überwachungstechnik in solche Länder – und EU-Institutionen schulen deren Sicherheitskräfte beim Umgang mit der Technik.
Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Reporter ohne Grenzen kritisieren dies seit langem. Doch erst seit 2016 reformiert die EU ihre sogenannte Dual-Use-Verordnung. Die Verordnung, die den Export zivil und militärisch nutzbarer Güter regelt, soll künftig auch Produkte umfassen, deren Gebrauch Menschenrechte verletzen kann.
Dual-Use-Produkte: Ammoniumnitrat gehört dazu, aus dem man Dünger herstellen kann – oder Sprengstoff; Lastwagen, mit denen man Getreide transportieren kann – oder Munition; Werkzeugmaschinen, Messvorrichtungen, Ventile, Elektronik.
Den internationalen Handel mit solchen Produkten regelt das sogenannte Wassenaar-Abkommen von 1995. Dessen Listen exportbeschränkter Güter hat die EU eins zu eins übernommen. Das Problem: Nur wenig Überwachungstechnologie steht auf diesen Listen; und es gibt keine verbindlichen Regeln, die die Exportkontrolle auch durchsetzen. Nur in einzelnen EU-Staaten wie Deutschland bedarf der Export einiger Überwachungsprodukte der Genehmigung.
Als harmlose Apps getarnte Trojaner
Zur Überwachungssoftware zählen zum Beispiel sogenannte Trojaner, die, getarnt als harmlose Apps, auf Smartphones und Notebooks gelangen. Trojaner können Mikrofon, Kamera und GPS aktivieren, ohne dass der Nutzer es merkt. Sie können Bewegungsprofile des Nutzers erstellen und seinen gesamten Telefon- wie Datenverkehr absaugen. Andere Spähsoftware dient der Massenüberwachung: Sie identifiziert im Internet Oppositionelle und deren Posts.
Zur Überwachungshardware zählen sogenannte IMSI-Catcher: Geräte, die – getarnt als Sendemasten – sämtliche Smartphone-Nutzer im Umkreis identifizieren sowie deren Daten- und Telefonverkehr erfassen.
Neben solcher Technik zur verdeckten Überwachung gibt es Instrumente offener Überwachung: Programme etwa, die bestimmte Webseiten sperren, oder hochauflösende Kameras, die den öffentlichen Raum überwachen. Damit gekoppelte Gesichtserkennungstechnologie filtert aus Millionen Menschen diejenigen heraus, die interessant sein könnten für die Behörden.
Überwachungstechnik sei heute ein must buy für Diktatoren weltweit, meint Stéphane Chardon, leitender Exportkontrolleur der EU-Kommission. EDV-gestützte Überwachungstechnik sei einfach effizienter, eleganter und billiger als Tränengas, Wasserwerfer oder Spitzel.
"Der Handel mit diesen Produkten boomt – in praktisch allen Ländern der Erde. Und involviert sind neben Regierungen dubiose private Akteure, Kriminelle und Terroristen. Die Preise für Überwachungstechnik sinken, sie wird immer leichter erhältlich. Technik, die vor zehn Jahren nur wenigen Geheimdiensten zugänglich war, nutzen heute zahllose Akteure weltweit."
Umsätze mit Überwachungstechnologie steigen rapide
Die weltweiten Umsätze mit Überwachungstechnologie liegen heute bei vergleichsweise bescheidenen zwölf Milliarden US-Dollar jährlich. Sie steigen jedoch rapide. So soll nach einer Schätzung 2025 Gesichtserkennungstechnik im Wert von 54 Milliarden Dollar verkauft werden. Die meisten Produzenten dieser und anderer Überwachungstechnik sitzen in den USA, Israel und der EU.
Da ist zum Beispiel das Münchener Unternehmen Trovicor. Es zeigt im Internet dramatische Szenen, in denen seine Abhör-Software Monitoring Center Terroristen zur Strecke bringt – gerade noch rechtzeitig, bevor Schlimmeres geschieht.
Trovicor sei weltweit führend bei legal genutzter Aufklärungstechnologie, sagt in einem anderen Werbespot Firmenchef Peter Weidermann. Für Menschenrechtsaktivisten allerdings ist Trovicor mit seinen Filialen in Dubai, Islamabad und Kuala Lumpur ein rotes Tuch. Die Abhörsoftware des Unternehmens wird immer wieder in Ländern gefunden, wo die Regierungen regelmäßig Menschenrechte verletzen.
Welche und wie viele Menschen dort mit Monitoring Center abgehört werden, lasse sich technisch schwer feststellen, sagt Lena Rohrbach, Expertin für Überwachungstechnologie bei Amnesty International. Das sei ein grundsätzliches Problem bei Überwachungstechnik. Und Rohrbach weist auf eine weitere Überwachungssoftware aus München hin.
"Ein besonders bekannter Trojaner, der exportiert wird insbesondere in Länder des Nahen Ostens, ist Finspy, der in München von der Firma FinFisher hergestellt wird. Und den haben Forscher zuletzt gefunden in Ägypten 2019 – und davor unter anderem 2017 in der Türkei auf einer Webseite. Die war getarnt als eine Webseite der türkischen Oppositionsbewegung. Und es wurde also der türkischen Oppositionsbewegung empfohlen, sich doch hier diese schöne App herunterzuladen."
Auch in Äthiopien, Nigeria, Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten haben Experten die Spionagesoftware FinSpy gefunden – und noch 2020 in Ägypten. Die nach deutschem Recht notwendigen Ausfuhrgenehmigungen für Trojaner sind offenbar nicht eingeholt worden. Deshalb ermittelt seit 2019 die Münchner Staatsanwaltschaft gegen das Unternehmen FinFisher.
EU-Unternehmen helfen China bei Massenüberwachung
Von drei EU-Unternehmen schließlich, die China geholfen haben, seine Massenüberwachung auszubauen, berichtet im Herbst 2020 ein Report von Amnesty: Das schwedische Unternehmen Axis Communications habe chinesischen Sicherheitsbehörden hochauflösende Netzwerk-Kameras für die Videoüberwachung geliefert. Das französische Unternehmen Idemia habe den Sicherheitsbehörden von Shanghai modernste Gesichtserkennungstechnologie verkauft. Und das niederländische Unternehmen Noldus schließlich habe Software zur Emotionsanalyse an die Universität von Xinjiang geliefert – in eine Region also, wo Hunderttausende muslimische Uiguren in Umerziehungslagern interniert sind. Ein absolutes No-Go aus der Sicht von Amnesty-Expertin Lena Rohrbach.
"In China wird staatliche Videoüberwachung auch mit Gesichtserkennung in rasendem Tempo ausgebaut. Und da handelt es sich einmal um die großangelegten chinaweiten Massenüberwachungsprogramme – zum Beispiel Skynet oder Sharp Eyes, die dann durch Videoaufzeichnung und zunehmend auch automatisierte Analyse das öffentliche Leben aufzeichnen", sagt Rohrbach.
"Und dann ist es auch so, dass Gesichtserkennungstechnologie und Videoüberwachung ein wichtiger Baustein ist des Überwachungsapparates in der Region Xinjiang, wo es ja zu schweren Menschenrechtsverletzungen an den Uigurinnen und Uiguren kommt."
Die niederländische Noldus-Software FaceReader erkennt Gefühle wie Glück, Angst, Ärger, Ekel oder Überraschung. Sie erkennt die Emotionen Zeitung lesender Menschen. Sie erkennt aber auch, ob ein der Korruption verdächtiger Funktionär lügt oder ein Alzheimer-Patient Schmerz leidet.
Noldus wehrt sich gegen Vorwürfe
Noldus wehrt sich denn auch vehement gegen die Behauptung, es stärke mit seinem Produkt den Überwachungsstaat in China. Alle chinesischen Kunden hätten schriftlich garantiert, mit der Software keine Menschenrechte zu verletzen, schreibt Noldus-Chef Lukas Noldus in einer Stellungnahme gegenüber dem Deutschlandfunk Kultur.
Und: "Amnesty sagt im Grunde, europäische Firmen sollten China nicht helfen, das Leid von Alzheimer-Patienten zu lindern und die Sicherheit in der Luftfahrt zu verbessern."
Das Beispiel der Noldus-Software zur Emotionsanalyse beleuchtet die Janusköpfigkeit vieler Überwachungsprodukte: Einerseits können sie medizinischen Zwecken oder legitimen Sicherheitsinteressen dienen. Andererseits können Sie Menschenrechte verletzen und Diktaturen stabilisieren.
Die Entscheidung, ob ein solches Produkt exportiert werden darf, ist deshalb im Einzelfall kompliziert. Sie bedarf der Abwägung höchst unterschiedlicher Aspekte. Wie schwer die menschenrechtlichen Aspekte wiegen, zeigen Erlebnisse von Überwachungsopfern.
"An einem Vormittag im März 2020 fuhr ich mit einem Studenten in meinem Auto nach Rabat. Wir sprachen über den Fortgang seines Studiums, und er fragte mich, wie er eine Doktorandenstelle in den USA ergattern könne. 'Du musst dort- und dorthin schreiben und dich bewerben', sagte ich dem Studenten. Zwei Tage später berichtete dann Chouf TV, ich hätte Geld von dem Studenten bekommen, um seine illegale Auswanderung in die USA zu organisieren", berichtet Maati Monjib.
Anruf in Rabat bei dem marokkanischen Menschenrechtler. Monjib ist Historiker an einer Universität. Er leitet die Organisation Freiheit jetzt und eine Akademie für investigativen Journalismus. Auf Monjibs Smartphone wurde das Programm Pegasus des israelischen Herstellers NSO gefunden – eine ähnlich heimtückische Software wie der deutsche Trojaner FinSpy.
Auch die Wohnung des Menschenrechtlers wird überwacht; mit welcher Technik, weiß er nicht. Er weiß nur, dass der staatsnahe Online-Sender Chouf TV immer wieder bösartig Zusammengeschnittenes aus seinen Privatgesprächen daheim verbreitet.
Haufenweise bösartige Karikaturen Maati Monjibs präsentiert Chouf TV auf YouTube – seine Krallen voller Dollar, Häuser und Grundstücke. Auch andere regimetreue Medien in Marokko bezeichnen den Aktivisten seit Jahren als Dieb, Geldwäscher, Verräter oder Homosexuellen, diffamieren und beleidigen ihn.
Menschenrechtler sollen mürbe gemacht werden
Ähnlich operierten Geheimdienste anderer Diktaturen im mittleren Osten und Nordafrika, sagt der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner. Sie spähten aus, was gehe. Und reiche es nicht für Gefängnis oder ein Gerichtsverfahren, reiche es doch dafür, den Betroffenen nachhaltig die Ehre abzuschneiden. Und das habe im kulturellen Kontext der Türkei oder arabischer Länder weit ernstere Auswirkungen als bei uns. Das Ausspähen, Bedrohen und Beleidigen solle Menschenrechtler und Menschenrechtlerinnen mürbe machen, ihnen Paranoia einimpfen, sie lähmen.
"Der Staat ist übermächtig. Ich kann gar nicht mehr genau wissen, wo werde ich genau überwacht. Und grad, dass die Handys, die Smartphones, zur Überwachung genutzt werden, das ist dann schon der Verräter in der eigenen Tasche, weil die meisten von uns können sich ja ein Leben ohne Smartphone kaum vorstellen", sagt Steudtner.
"Und es sind fast Körperteile. Und wir brauchen sie einfach zum Kommunizieren, zum in Kontakt bleiben mit unseren Arbeitskontakten et cetera. Wir können auf die nicht verzichten, und gleichzeitig sind es die Lokalisierungs- und Trackinginformationen, die die Regierungen nutzen. Und das führt zu einer allgemeinen Verunsicherung. Viele der Aktivistinnen haben schon aufgegeben, andere sind in ständiger Angst – und das erhöht den Stresslevel, das führt zu anderen Fehlern. Das macht Leute einfach auch krank."
Zum Glück seien viele Menschenrechtler Kämpfer, meint Steudtner. Und in Workshops zeigt er ihnen, wie sie sich zumindest ein wenig wehren können – durch Verschlüsselung zum Beispiel, um sensible Daten zu schützen.
"Sensible Daten heißt zum Beispiel, dass es um Interviews geht, die man gemacht hat mit Menschenrechtsverteidigerinnen, die gefoltert wurden oder in Gefängnissen waren, die dann direkt auch Beamte in diesen Interviews beschuldigen. Und wenn das den Behörden bekannt wird, könnte es zu Repressionen wieder gegen diese Menschenrechtsverteidigerinnen kommen. Deshalb ist es einfach unendlich wichtig, dass diese Daten verschlüsselt bleiben, dass sie geschützt bleiben."
Technologie, die Verschlüsselungen blockt
Ein anderes Mittel, staatliche Überwachung zu unterlaufen, sind virtuelle private Netzwerke, sogenannte VPN-Tunnel.
"Mit so einem Tunnel kann man sich in ein anderes Land hinein versetzen. Das heißt, meine Internetverbindung geht hier in einen Tunnel hinein und kommt dann meinetwegen in Niederlanden, in den USA, wo auch immer, wieder raus. Und dort hat man dann Zugang zu den Inhalten. Für die Menschenrechtsarbeit nutzen diese VPN-Tunnel auch, weil man damit die Daten schützen kann vor den Eingriffen der jeweiligen Regierung."
… wenn die Regierung nicht, im steten Wettrennen mit den Überwachten, Technologie erworben hat, die VPN-Tunnel oder auch verschlüsselnde Messenger wie Signal und Telegram blockt. In jedem Fall bleibt der Überwachungsdruck für die Aktivisten.
Maati Monjib trotzt ihm seit bald einem Jahrzehnt – und zahlt einen hohen Preis dafür.
"Mindestens einmal die Woche breche ich in Tränen aus – aus purer Verzweiflung. Das Regime verfolgt mich, obwohl ich mein Land liebe und auch die Regierung nicht stürzen will. Ich verteidige nur die Menschenrechte der Marokkaner. Und wegen der ständigen Drohungen und Verleumdungen musste ich meine 16-jährige Tochter ins Ausland schicken. Trotzdem: Ich werde durchhalten. Nein, aufgeben werde ich mit Sicherheit nicht."
Am 29. Dezember 2020, wenige Tage nach dem Gespräch mit dem Autor dieser Sendung, wird der Menschenrechtsaktivist Maati Monjib in Rabat festgenommen. Monjib wird angeklagt wegen Betrugs und Untergrabung der Staatssicherheit. Am 28. Januar 2021 wird er verurteilt – zu einem Jahr Haft ohne Bewährung.
Tausende Menschenrechtler und Millionen Bürger autoritär regierter Staaten leben unter der Knute zunehmend raffinierter Überwachungstechnologie – geliefert von Industrieländern und insbesondere auch der EU. Den Arabischen Frühling, der vor einem Jahrzehnt so hoffnungsvoll begann, konnten fast alle Regierungen niederschlagen, weil ihnen Überwachungstechnik die nötigen Informationen lieferte.
In Lateinamerika verfolgen Drogenkartelle Journalisten mit europäischer Technologie; und in China entwickelt sich, mithilfe europäischer Technologie, der perfekte Überwachungsstaat.
Der Export von Überwachungstechnologie aus der EU in autoritär regierte Länder bedürfe einer radikalen Begrenzung und Kontrolle – meint Lena Rohrbach von Amnesty. Auf weltweite Regelungen zu warten, sei sinnlos. Das für zivil und militärisch nutzbare Güter eigentlich zuständige Wassenaar-Abkommen sei völlig ungeeignet für schnelle Reaktion auf immer neue Überwachungstechnik.
"Im Wassenaar-Abkommen sind über 40 Staaten Mitglied und das ist eine sehr unterschiedliche Gruppe. Da sind die EU-Staaten dabei, auch USA, Russland oder die Türkei beispielsweise", sagt Rohrbach.
"Und da kann man sich schon vorstellen: Wenn sich also die USA, Russland und die Türkei mit ihren jeweils unterschiedlichen Interessen auf eine Liste der Exportkontrolle einigen müssen, das ist sehr schwer und folglich ist diese Liste auch eher minimalistisch. Das heißt: Viele Güter fehlen da. Zum Beispiel biometrische Überwachung wie Gesichtserkennung steht da nicht mit drauf. Systeme der Vorratsdatenspeicherung stehen da nicht mit drauf. Und um etwas neu aufzunehmen, das dauert sehr lange."
Watchlist für menschenrechtlich problematische Güter
Nach langem Drängen aus Zivilgesellschaft und Europaparlament präsentierte die EU-Kommission 2016 ein Konzept, die Dual-Use-Verordnung der EU grundlegend zu reformieren. Vier Jahre rangen die Mitgliedsstaaten, verteidigten Souveränitätsrechte und Wirtschaftsinteressen. Im November 2020 einigten sie sich, im Frühjahr 2021 soll die reformierte Verordnung in Kraft treten.
Geplant ist eine von globalen Abkommen unabhängige Watchlist der EU. Sie soll menschenrechtlich problematische Güter enthalten – und problematische Adressaten für den Export solcher Güter.
Dass die Liste verbindlich sein soll für alle Mitgliedsstaaten, habe sich nicht durchsetzen lassen im Europäischen Rat, sagt Stéphane Chardon, der leitende Exportkontrolleur der EU-Kommission. Um überhaupt zu einer Watchlist zu kommen, habe man mit viel Fantasie einen Mechanismus entwickeln müssen, einen Mechanismus, der – immerhin – für zügige Entscheidungen sorge.
"Kern dieses neuen Mechanismus ist, dass wir nicht mehr vier, fünf Jahre warten mit einer Entscheidung. Nein, sobald zum Beispiel Deutschland für ein bestimmtes Produkt Exportkontrollen einführt, beginnt automatisch ein EU-Verfahren mit klar definierten Fristen. Jeder einzelne Staat kann dann verhindern, dass das betreffende Produkt auf die EU-Watchlist kommt. Widerspricht aber keiner, kommt das Produkt auf die Liste. Und am Ende haben wir hoffentlich eine EU-Watchlist von Technologien und potenziellen Empfängern, die den nationalen Exportkontrollbehörden wirklich hilft bei ihrer Arbeit."
Optimistische Worte – angesichts der ernüchternden Tatsache, dass künftig ein einziger Mitgliedsstaat jederlei Exportkontrolle auf EU-Ebene verhindern kann. Und selbst wenn eine Überwachungstechnologie auf die EU-Kontrollliste kommt, entscheidet immer noch jedes einzelne Land, ob es eine Exportgenehmigung erteilt oder nicht.
Die neue EU-Watchlist soll, immerhin, möglichst schnell auch neu entstehende Technologien erfassen. Und weil die Hersteller ihre Technologie am besten kennen, sollten sie mithelfen, Menschenrechtsverletzungen durch deren Gebrauch zu vermeiden – meint Lena Rohrbach von Amnesty International.
"Wir haben also gefordert, dass Unternehmen auch sogenannte menschenrechtliche Sorgfaltspflichten bekommen. Das heißt, dass sie ihre geplanten Exporte auch selbst darauf überprüfen müssen, ob die möglicherweise zu Menschenrechtsverletzungen beitragen könnten und dann gegebenenfalls vorsichtshalber eine Lizenz, eine Genehmigung bei der nationalen Ausfuhrbehörde erbitten, wenn sie da ein Risiko sehen – auch dann, wenn die Technik eigentlich gar nicht auf der Liste steht."
Nein – entgegnet Nikolas Keßels, Referent für Außenwirtschaftspolitik beim Bundesverband der Deutschen Industrie, BDI. So gehe das nicht. Industriemanager könnten sich nicht aufs Glatteis eigener Einschätzungen von Menschenrechtsfragen begeben. Sie bräuchten juristisch klare Regeln und Listen.
"Im deutschen Ausfuhrkontrollrecht gibt es ordnungs- und strafrechtliche Konsequenzen bei Verstößen, die Gefängnisstrafen von bis zu 15 Jahren nach sich ziehen. Rechtsklarheit, gerichtsfeste Entscheidungen sind da für die Unternehmen das A und O. Wenn die nicht bestehen, dann ist die Konsequenz, dass für alles, was irgendwie auch nur entfernt in die Wurfweite einer solchen Fragestellung gerät, beantragt wird. Dafür hat niemand die Ressourcen, geschweige denn die Zeit."
EU-Dual-Use-Verordnung: Details, die wenig optimistisch stimmen
Im Ergebnis sollen nun Exporteure von Überwachungstechnik menschenrechtliche Aspekte zwar prüfen. Eine Exportgenehmigung beantragen aber müssen sie nur, wenn sie sich bewusst sind, dass die Technik zur Verletzung von Menschenrechten genutzt werden soll. Keine Genehmigung beantragen müssen sie, wenn dies nur möglich oder wahrscheinlich ist.
Der mehrere hundert Seiten lange Entwurf der neuen EU-Dual-Use-Verordnung enthält weitere, scheinbar winzige Details, die wenig optimistisch stimmen: Da ist zum Beispiel der Art. 1.21. Dort steht als Definition für Überwachungstechnologie, deren Export die neue Verordnung regelt:
"Gegenstände zur Internet-Überwachung sind zivil und militärisch nutzbare Gegenstände, die speziell dafür entwickelt wurden, die verdeckte Überwachung natürlicher Personen zu ermöglichen."
Eine Definition, durchgesetzt von der Industrie – aus naheliegenden Gründen: Technik, die nicht verdeckt, sondern offen überwacht, kann auch künftig problemlos an autoritäre Regime geliefert werden. Videokameras, zum Beispiel, oder Software zur Gesichtserkennung und Emotionsanalyse.
Es gibt nur eine mögliche Ausnahme: Werden mit der offen überwachenden Technik unbestreitbar schwere Menschenrechtsverletzungen in einem Land begangen, kann die Ausfuhr in dieses Land doch der Genehmigungspflicht unterworfen werden. Ein mögliches Beispiel: die Lieferung von Gesichtserkennungstechnologie nach China.
CEPOL, die Europäische Polizeiakademie mit Hauptquartier in Budapest. CEPOL bildet EU-Polizisten aus, schult jedoch auch – im EU-Auftrag – Sicherheitskräfte in autoritär regierten Ländern. Sie lernen von deutschen, österreichischen oder spanischen Polizisten, wie man Menschen, Organisationen und die Bevölkerung eines ganzen Landes überwacht.
EU-Poliziakademie schulte beim Umgang mit Überwachungstechnik
Dies dokumentiert die britische Menschenrechtsorganisation Privacy International in einem Ende 2020 vorgelegten Bericht. Die aufgedeckten Vorgänge konterkarierten sämtliche EU-Bemühungen um die Begrenzung kommerzieller Überwachungsexporte, meint der verantwortliche Mitarbeiter der Organisation Edin Omanovic.
"In unserem Bericht dokumentieren wir, wie Agenten der EU-Polizeiakademie Sicherheitskräfte in Nordafrika und auf dem Balkan ausbilden beim Umgang mit Überwachungstechnik. Zu den Ausbildungsinhalten zählt das Ausspähen von Nutzern sozialer Medien – in krassem Widerspruch zu den Richtlinien der Medienplattformen", sagt Edin Omanovic.
"Die EU liefert zudem den Grenzschutzbehörden der betreffenden Länder modernste Überwachungstechnik, Systeme biometrischer Massenüberwachung zum Beispiel, die die Daten von Millionen Menschen speichern können. So kann die EU den Schutz ihrer Außengrenzen vor Migranten outsourcen – finanziert mit Geld, das eigentlich für Entwicklungshilfe bestimmt ist. In einem Dokument ist auch von einem Austausch von Überwachungsdaten die Rede, um die Deportation illegaler Migranten zu erleichtern."
Kampf gegen Terrorismus und illegale Migration. Das ist die Rechtfertigung dafür, dass EU-Polizisten Sicherheitskräften diktatorisch regierter Staaten helfen, ihre Bevölkerung zu überwachen. Massenhafte Erhebung, Verarbeitung und der Austausch persönlicher Daten von Nicht-EU-Bürgern zählen ausdrücklich zum Konzept.
Von Privacy International eingesehene Kursunterlagen dokumentieren, wie EU-Polizisten Algeriens Gendarmerie beim Überwachen sozialer Medien schulen, beim Einsatz von Fake-Profilen sowie beim Lokalisieren und Hacken von Smartphones.
Algerien ist bekannt dafür, dass es aus dem südlichen Nachbarland Niger kommende Migranten mit brachialen Methoden deportiert. Zahlreiche Journalisten und Oppositionelle sitzen in algerischen Gefängnissen. CEPOL-Schulungsunterlagen für die finanzielle Durchleuchtung zivilgesellschaftlicher Organisationen dokumentieren derweil, dass die EU den Behörden im Nachbarland Tunesien geradezu suggeriert, solche Organisationen sammelten Geld vor allem für terroristische Zwecke.
Überwachungs-Knowhow in autoritär regierte Länder Afrikas exportiert, neben CEPOL, auch Civipol, ein 2001 vom französischen Innenministerium gegründetes Sicherheitsunternehmen, an dem die gleichfalls französischen Rüstungsfirmen Thales und Idemia beteiligt sind – beide weltweit führend bei der Entwicklung von Gesichtserkennungstechnologie und biometrischen Identitätssystemen. Genau solche Systeme führen derzeit Senegal, Cȏte-d’Ivoire und Mali ein – unterstützt von Civipol im Auftrag der EU-Kommission.
Bezahlt wird all diese Hilfe aus wenig bekannten, aber gut ausgestatteten EU-Finanztöpfen. Einer davon ist der EU Trust Fund for Africa, mit dem man eigentlich den Ursachen von Terrorismus und illegaler Migration zu Leibe rücken will – durch Entwicklungshilfe. Stéphane Chardon von der EU-Kommission zeigt sich eher schmallippig bei diesem Thema.
"Ich kann zu Einzelheiten dieser Vorgänge leider keine Stellungnahme abgeben. Grundsätzlich sagen kann ich aber: Eine Zusammenarbeit der EU oder eines Mitgliedsstaats mit bestimmten Ländern verkörpert wahrscheinlich den besten Weg, die Behörden dort zu sensibilisieren für den angemessenen Umgang mit Überwachungstechnik."
Verhalten der EU geprägt von Widersprüchen
Das Europäische Parlament wisse wenig über Aktivitäten der Polizeiakademie CEPOL außerhalb des EU-Territoriums, berichtet Paul Diegel. Der Politikwissenschaftler berät das Parlament und die zuständige Berichterstatterin Markéta Gregorová zum Thema Überwachungsexporte.
"Wir haben eine offizielle Frage an die Kommission gestellt, was CEPOL gemacht hat, was die Serviceleistung war und wie das mit unserem human rights und regional stability und security approach zusammenhängt. Also die Befürchtung hier ist, dass man marokkanischen oder libyschen oder algerischen Sicherheitskräften nicht nur das Knowhow gegeben hat, sondern auch tatsächlich anscheinend gesagt hat, welche Produkte man denn am besten kaufen sollte, um Leute zu überwachen."
Wie beim kommerziellen Export von Überwachungstechnologie setze die EU auch mit ihrer Hilfe für Sicherheitskräfte autoritärer Regime viel Glaubwürdigkeit aufs Spiel, resümiert Edin Omanovic von Privacy International.
"Die EU spielt eine sehr wichtige Rolle bei der Förderung von Menschenrechten und Demokratie, beim Schutz auch von Journalisten und der Zivilgesellschaft weltweit. Und ich finde, die EU sollte sich endlich der grundsätzlichen Frage stellen, ob sie die Sicherheit von Diktatoren und Staaten schützen will oder die Sicherheit von Menschen."
Kurz: Das Verhalten der EU in Sachen "Überwachungshilfe für Diktatoren" bleibt vorläufig geprägt von Widersprüchen, Inkonsequenz und mangelnder Glaubwürdigkeit. Daran dürfte auch die neue Dual-Use-Verordnung wenig ändern. Indem wir die Ausfuhr von Unterdrückungstechnologie fördern, dulden oder beschränken, exportieren wir immer auch ein politisches Modell – hat Stéphane Chardon gesagt, der Leiter der Exportkontrolle in der EU-Kommission.