"Auf Lücke geschrieben"
In den Texten des Frankfurter Autors Andreas Maier finden sich Referenzen an Heinrich von Kleist, und doch vermisst er in den Werken des deutschen Dichters einen universalen, umfassenden Blick aufs Sein.
Joachim Scholl: Als den einzigen Schüler des deutschen Dichters Heinrich von Kleist hat der Schriftsteller Daniel Kehlmann den amerikanischen Romancier E. L. Doctorow ausgemacht, neulich, in einer Laudatio auf den großen Mann. Für die deutsche Gegenwartsliteratur hingegen spiele Kleist im Grunde keine Rolle. Eine Behauptung, die in diesem Kleist-Jahr 2011 besonders zur Diskussion reizt, wie wir finden. Deshalb wollen wir in den kommenden Wochen Autoren nach Heinrich von Kleist fragen. Heute den Romancier und auch promovierten Literaturwissenschaftler Andreas Maier. Er ist uns jetzt aus Frankfurt am Main zugeschaltet. Ich grüße Sie, Herr Maier!
Andreas Maier: Hallo!
Scholl: Heinrich von Kleist ist in der deutschen Literatur fast folgenlos geblieben. Wohl kein Klassiker wurde so viel bewundert und so wenig nachgeahmt, das hat Daniel Kehlmann gesagt. Hat er recht?
Maier: Das ist eine recht gewagte These. Die Frage ist, wie man so was wie eine Nachfolge schafft oder wie man auf einen Autor antwortet, wie man das in Worte fassen will. Ich habe in den letzten Wochen gerade noch mal die Erzählungen von Kleist gelesen, das ist vollkommen kafkaesk zum Beispiel. Kafka ist jemand, der - ich kann nicht sagen, ob er ein Kleist-Leser war und deshalb unmittelbar auf ihn folgt -, aber Kafka und Kleist haben solche großen Ähnlichkeiten, dass das für mich ganz klar ist, dass also Kleist auch ins 20. Jahrhundert stilmäßig völlig reingewabert ist und da ganz viele Einflüsse hinterlassen hat.
Scholl: Die Literaturwissenschaft weist ja gerne nach, welchen Einfluss dieser oder jener Schriftsteller auf einen anderen Autor hatte und erklärt auf diese Weise Bezüge, Motive und Schreibweisen. Sie, Herr Maier, kennen dieses germanistische Prozedere. Wie ist es aber für Sie als Schriftsteller selbst? Wie blickt man selber auf dieses in Spuren gehen?
Maier: Als Originär-Genie werden, wenn überhaupt, dann nur sehr wenige geboren. Das war früher eine recht klassische Verfahrensweise, dass man erst mal Leute imitiert hat. Ich rede jetzt insbesondere von der klassischen Antike. In meinem eigenen Leben war das so, dass ich das jetzt nicht unbedingt mit Absicht gemacht habe, aber ich hatte gar keine andere Möglichkeit, als von Anfang an erstmal Imitate zu schaffen. Der erste große Autor, der mich sehr beeindruckt hat, war Thomas Mann. Und als ich so 16, 17 Jahre alt war, habe ich ausschließlich geschrieben wie Thomas Mann. Das ging bis in den Stil hinein, das ging bis in die Motivik der überhaupt nicht gelungenen Erzählungen hinein - ich habe damals beispielsweise ... es ging da um einen jungen Künstler, der irgendwie auf der Suche nach sich selbst ist, kommt irgendwie nach Italien und gerät da an eine Malerin, mit der er im Mittelteil der Erzählung einen langen Diskurs darüber führt, wie man Kunst zu schaffen hat. Und als er - Sie lachen, natürlich: "Tonio Kröger"!
Scholl: "Tonio Kröger" plus "Tod in Venedig", ja?
Maier: In etwa. Und mit der Zeit baut sich dann Stein für Stein sowas zusammen, was ich dann vielleicht eventuell meinen persönlichen Stil nennen kann. Obwohl ich bis heute sehe, wo was bei mir herkommt. Es ist auch immer wieder so, dass neue Autoren, die in meinem Leben dazukommen, mich sehr stark beeinflussen. Der Stadler zum Beispiel, der Arnold Stadler, der hat mich die letzten zehn Jahre sehr beeinflusst.
Scholl: Welchen Einfluss, würden Sie sagen, hat Kleist denn für Ihre Literatur, Herr Maier, gehabt oder hat es noch - auf Ihre Form und Art des Schreibens?
Maier: Dieses knappe, konzise Schreiben auf den Punkt gebracht, ist natürlich etwas, was ich technisch sehr bewundern kann. Aber andererseits gibt es für mich halt auch ein großes Problem mit Kleist - das selbe Problem, das ich mit Kafka habe: Das ist für mich - ich nenne das immer so - das ist für mich alles so ein bisschen auf Lücke geschrieben. Da guckt also jemand mit großem analytischen Verstand: Was kann ich? Was kann ich nicht? Und das nicht so Umfassende, das eher kleiner Geratene, was er kann, an dem hält er eisern fest, schafft interessante Formen, die teilweise sehr exzessiv sind - sprachlich sehr exzessiv sind, die von der Drastik her exzessiv sind, ähnlich bei Kleist wie bei Kafka. Das halten die dann eisern durch und kriegen dann da anschließend dafür auch eine dementsprechende Fangemeinde; was ich weder schlecht noch gut heiße. Die Person Kafkas ist mir nicht unsympathisch, die Person Kleists ist mir eher nicht so sympathisch. Aber ganz unabhängig davon: Für mich ist das beides so ein bisschen auf Lücke geschrieben. Deshalb wirkt es so speziell, so besonders, auch so absurd, aber es gibt halt doch Autoren, die ein bisschen mehr den Zugang zu einem umfassenderen Blick aufs Sein haben und einfach universaler arbeiten können als jemand wie Kafka und wie Kleist.
Scholl: Was bedeutet Kleist heute für die Gegenwartsliteratur, für die zeitgenössischen Autoren? Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Schriftsteller Andreas Maier. Nun können pfiffige Textexegeten aber in Ihren Büchern, Herr Maier, ein direktes Kleist-Zitat erspähen, denn Sie bauen regelmäßig einen Kleist-Satz ein, wie ich gehört habe. Ich habe es nicht selbst erkannt, sondern man hat es mir gesagt - oder Sie haben es uns, glaube ich, selbst gesagt, man muss ganz ehrlich sein. Und zwar einen aus der "Marquise von O", der lautet wie folgt, ich lese ihn mal vor: "Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich an ihrer eigenen Hand aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor." Das ist ein herrliches Beispiel für Kleists geniale Syntax. Was gefällt Ihnen so sehr an diesem Satz, Herr Maier, dass Sie ihn anscheinend öfter mal verwenden?
Maier: Ich verwende das erste Kolon: "Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst vertraut gemacht ... ". Das verwende ich öfter. Ich habe es auch ab und zu mal in einem Text verwandt. Ich benutze diesen Satz hin und wieder mal, um dem Publikum - auch bei Poetik-Dozenturen - anschaulich zu machen, was Schreiben bedeutet, weil Schreiben, in die Romanform reinkommen, für mich, ja, vielleicht ein bisschen ähnlich dem ist, was die Marquise in dieser Erzählung erlebt. Sie muss sich ja urplötzlich völlig auf sich selbst allein stellen, wird von ihrem Vater rausgeschmissen nach dieser eigenartigen Schwangerschaft, die sie da erlebt, deren Urheber sie nicht kennt, und kommt dadurch mehr zu sich selbst; nicht nur in dem Sinne, dass sie sich an eigenen Haaren aus dem Sumpf rauszieht und es ihr anschließend sozial wieder besser geht, sondern sie wächst dadurch als Person. Und Schreiben selbst ist für mich immer diese Art von zu sich selbst kommen, aber dieses Ich dadurch auch erst heranbilden. Es ist ein Bildungsweg, der dazu führt, dass die Person immer mehr angereichert wird, zwar immer sie selbst bleibt, aber sie muss sich erst mal selbst erarbeiten. Und das nenne ich dann immer durch eine schöne Anstrengung sich mit sich selbst vertraut machen.
Scholl: Aber wie und wo bauen Sie dann diesen Satz ein? Er unterscheidet sich ja in der Syntax schon so ein wenig von dem modernen Sprechen einfach durch diese Art von - ja, man hört das späte 18., frühe 19. Jahrhundert eigentlich durch in dieser sehr gehobenen Syntax, oder?
Maier: Ja, das stimmt. Wie gesagt, ich verwende ja immer nur das erste Kolon, das steht meiner Ansicht nach zum Beispiel nur in einer Doktorarbeit drin, eventuell noch woanders. Aber das, was Sie sagen, ist gar nicht so dramatisch. In "Wäldchestag" zum Beispiel, meinem ersten Roman, habe ich mal mindestens sieben oder acht Zeilen ein komplettes Zitat aus dem "Buddenbrooks" gebracht, und das hat niemals ein Mensch bemerkt! Der Satz, über den wir gerade reden, ist allerdings sehr, sehr berühmt.
Scholl: Es gibt ein weiteres Beispiel, Herr Maier: In Ihrem Roman "Kirillow" findet sich ein Idyll, zu dem Sie Kleist in seiner Novelle "Das Erdbeben in Chili" inspiriert hat. Wie kam es denn dazu?
Maier: Na ja, das Idyll ist ja eine sehr festgeschriebene literaturwissenschaftliche Form. Es ist eine Art von stehender Zeit, da passiert nichts. Das berühmteste Idyll, das wir eben kennen als Einlage in einer ansonsten dramatischen Handlung, ist das im "Erdbeben in Chili", und wer auch immer ein Idyll schreibt, wird wahrscheinlich notgedrungen immer an Kleist denken müssen. So auch ich, als ich begonnen habe, diese kleine Einlage in dem Roman zu schreiben. Das ist nicht lang, das geht über vielleicht fünf Seiten. Da stehen bei einem Castor-Transport im hannoverischen Wendland sich die Demonstranten und die Polizisten gegenüber, und zwar einige Stunden, bevor es richtig dramatisch wird. Da ist noch nichts passiert, es ist kühl, Sonnenschein - auf einer Wiese, gemeinsam spielen auf der einen Seite die Polizisten Fußball, und auf der anderen Seite dieser Wiese versammelt sich so eine Demonstranten-Picknick-Gruppe. Und da gibt es so Interferenzen zwischen beiden, alles vollkommen friedlicher Natur, und wenige Stunden später werden die sich alle schwer eine auf die Mütze geben gegenseitig. Genau wie im "Erdbeben in Chili". Und das ist ganz klar: Wenn man so eine Stelle schreibt, muss man an Kleist denken, das geht gar nicht anders. Und Kleist hat tatsächlich es durch dieses Wort Idyll meiner Ansicht nach auch eingeleitet und wieder ausgeleitet - und das habe ich in meiner Szene auch so gemacht. Ich habe - das schlechteste Erlebnis, was ich mit Kleist hatte, waren seine Briefe - das muss ich wirklich sagen! Das hat mir mein Bild auf die Person Kleist ziemlich verändert und eigentlich auch ziemlich miesgemacht. Eine sehr unruhige, aufgeregte Person mit einer - meiner Ansicht nach - nicht wirklich authentischen Fähigkeit zur Selbstanalyse. Seine Verlobte, der Erziehungsauftrag, mit dem er seine Verlobte überzogen hat - sie musste eine Abhandlung für ihn schreiben, und so weiter - das ist traurig, das zu lesen. Dann geht er um das Jahr 1800 auf seine Reise nach Frankreich, und salbadert sie dann mit Reisebeschreibungen zu, und dann nimmt er auch noch wörtlich Partien aus seinen Briefen, die er in Briefe an andere Leute reinsetzt, weil ihm das offensichtlich so wichtig ist, oder weil er diese Passage gerade stilistisch so für gelungen hält. Und das wurde mir dann sehr, sehr peinlich.
Scholl: Ja, es ist eine sehr quälende Lektüre, weil man sie auch kaum mit der Prosa und dieser Genialität, die ja doch drinsteckt, einfach zusammenbringt. Wenn Sie, Herr Maier, Kleist mal treffen könnten, und Sie hätten eine Frage frei, welche würden Sie stellen?
Maier: Oh Gott. Vielleicht, was er von seiner neuen Grabgestaltung hält, die er nächstes Jahr bekommen wird?
Scholl: Kleist und die Folgen. Wir fragen in diesen Wochen deutsche Schriftsteller nach Einfluss und Wirkung von Heinrich von Kleist, heute war das Andreas Maier. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Maier!
Maier: Vielen Dank, ja!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Andreas Maier: Hallo!
Scholl: Heinrich von Kleist ist in der deutschen Literatur fast folgenlos geblieben. Wohl kein Klassiker wurde so viel bewundert und so wenig nachgeahmt, das hat Daniel Kehlmann gesagt. Hat er recht?
Maier: Das ist eine recht gewagte These. Die Frage ist, wie man so was wie eine Nachfolge schafft oder wie man auf einen Autor antwortet, wie man das in Worte fassen will. Ich habe in den letzten Wochen gerade noch mal die Erzählungen von Kleist gelesen, das ist vollkommen kafkaesk zum Beispiel. Kafka ist jemand, der - ich kann nicht sagen, ob er ein Kleist-Leser war und deshalb unmittelbar auf ihn folgt -, aber Kafka und Kleist haben solche großen Ähnlichkeiten, dass das für mich ganz klar ist, dass also Kleist auch ins 20. Jahrhundert stilmäßig völlig reingewabert ist und da ganz viele Einflüsse hinterlassen hat.
Scholl: Die Literaturwissenschaft weist ja gerne nach, welchen Einfluss dieser oder jener Schriftsteller auf einen anderen Autor hatte und erklärt auf diese Weise Bezüge, Motive und Schreibweisen. Sie, Herr Maier, kennen dieses germanistische Prozedere. Wie ist es aber für Sie als Schriftsteller selbst? Wie blickt man selber auf dieses in Spuren gehen?
Maier: Als Originär-Genie werden, wenn überhaupt, dann nur sehr wenige geboren. Das war früher eine recht klassische Verfahrensweise, dass man erst mal Leute imitiert hat. Ich rede jetzt insbesondere von der klassischen Antike. In meinem eigenen Leben war das so, dass ich das jetzt nicht unbedingt mit Absicht gemacht habe, aber ich hatte gar keine andere Möglichkeit, als von Anfang an erstmal Imitate zu schaffen. Der erste große Autor, der mich sehr beeindruckt hat, war Thomas Mann. Und als ich so 16, 17 Jahre alt war, habe ich ausschließlich geschrieben wie Thomas Mann. Das ging bis in den Stil hinein, das ging bis in die Motivik der überhaupt nicht gelungenen Erzählungen hinein - ich habe damals beispielsweise ... es ging da um einen jungen Künstler, der irgendwie auf der Suche nach sich selbst ist, kommt irgendwie nach Italien und gerät da an eine Malerin, mit der er im Mittelteil der Erzählung einen langen Diskurs darüber führt, wie man Kunst zu schaffen hat. Und als er - Sie lachen, natürlich: "Tonio Kröger"!
Scholl: "Tonio Kröger" plus "Tod in Venedig", ja?
Maier: In etwa. Und mit der Zeit baut sich dann Stein für Stein sowas zusammen, was ich dann vielleicht eventuell meinen persönlichen Stil nennen kann. Obwohl ich bis heute sehe, wo was bei mir herkommt. Es ist auch immer wieder so, dass neue Autoren, die in meinem Leben dazukommen, mich sehr stark beeinflussen. Der Stadler zum Beispiel, der Arnold Stadler, der hat mich die letzten zehn Jahre sehr beeinflusst.
Scholl: Welchen Einfluss, würden Sie sagen, hat Kleist denn für Ihre Literatur, Herr Maier, gehabt oder hat es noch - auf Ihre Form und Art des Schreibens?
Maier: Dieses knappe, konzise Schreiben auf den Punkt gebracht, ist natürlich etwas, was ich technisch sehr bewundern kann. Aber andererseits gibt es für mich halt auch ein großes Problem mit Kleist - das selbe Problem, das ich mit Kafka habe: Das ist für mich - ich nenne das immer so - das ist für mich alles so ein bisschen auf Lücke geschrieben. Da guckt also jemand mit großem analytischen Verstand: Was kann ich? Was kann ich nicht? Und das nicht so Umfassende, das eher kleiner Geratene, was er kann, an dem hält er eisern fest, schafft interessante Formen, die teilweise sehr exzessiv sind - sprachlich sehr exzessiv sind, die von der Drastik her exzessiv sind, ähnlich bei Kleist wie bei Kafka. Das halten die dann eisern durch und kriegen dann da anschließend dafür auch eine dementsprechende Fangemeinde; was ich weder schlecht noch gut heiße. Die Person Kafkas ist mir nicht unsympathisch, die Person Kleists ist mir eher nicht so sympathisch. Aber ganz unabhängig davon: Für mich ist das beides so ein bisschen auf Lücke geschrieben. Deshalb wirkt es so speziell, so besonders, auch so absurd, aber es gibt halt doch Autoren, die ein bisschen mehr den Zugang zu einem umfassenderen Blick aufs Sein haben und einfach universaler arbeiten können als jemand wie Kafka und wie Kleist.
Scholl: Was bedeutet Kleist heute für die Gegenwartsliteratur, für die zeitgenössischen Autoren? Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Schriftsteller Andreas Maier. Nun können pfiffige Textexegeten aber in Ihren Büchern, Herr Maier, ein direktes Kleist-Zitat erspähen, denn Sie bauen regelmäßig einen Kleist-Satz ein, wie ich gehört habe. Ich habe es nicht selbst erkannt, sondern man hat es mir gesagt - oder Sie haben es uns, glaube ich, selbst gesagt, man muss ganz ehrlich sein. Und zwar einen aus der "Marquise von O", der lautet wie folgt, ich lese ihn mal vor: "Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich an ihrer eigenen Hand aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor." Das ist ein herrliches Beispiel für Kleists geniale Syntax. Was gefällt Ihnen so sehr an diesem Satz, Herr Maier, dass Sie ihn anscheinend öfter mal verwenden?
Maier: Ich verwende das erste Kolon: "Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst vertraut gemacht ... ". Das verwende ich öfter. Ich habe es auch ab und zu mal in einem Text verwandt. Ich benutze diesen Satz hin und wieder mal, um dem Publikum - auch bei Poetik-Dozenturen - anschaulich zu machen, was Schreiben bedeutet, weil Schreiben, in die Romanform reinkommen, für mich, ja, vielleicht ein bisschen ähnlich dem ist, was die Marquise in dieser Erzählung erlebt. Sie muss sich ja urplötzlich völlig auf sich selbst allein stellen, wird von ihrem Vater rausgeschmissen nach dieser eigenartigen Schwangerschaft, die sie da erlebt, deren Urheber sie nicht kennt, und kommt dadurch mehr zu sich selbst; nicht nur in dem Sinne, dass sie sich an eigenen Haaren aus dem Sumpf rauszieht und es ihr anschließend sozial wieder besser geht, sondern sie wächst dadurch als Person. Und Schreiben selbst ist für mich immer diese Art von zu sich selbst kommen, aber dieses Ich dadurch auch erst heranbilden. Es ist ein Bildungsweg, der dazu führt, dass die Person immer mehr angereichert wird, zwar immer sie selbst bleibt, aber sie muss sich erst mal selbst erarbeiten. Und das nenne ich dann immer durch eine schöne Anstrengung sich mit sich selbst vertraut machen.
Scholl: Aber wie und wo bauen Sie dann diesen Satz ein? Er unterscheidet sich ja in der Syntax schon so ein wenig von dem modernen Sprechen einfach durch diese Art von - ja, man hört das späte 18., frühe 19. Jahrhundert eigentlich durch in dieser sehr gehobenen Syntax, oder?
Maier: Ja, das stimmt. Wie gesagt, ich verwende ja immer nur das erste Kolon, das steht meiner Ansicht nach zum Beispiel nur in einer Doktorarbeit drin, eventuell noch woanders. Aber das, was Sie sagen, ist gar nicht so dramatisch. In "Wäldchestag" zum Beispiel, meinem ersten Roman, habe ich mal mindestens sieben oder acht Zeilen ein komplettes Zitat aus dem "Buddenbrooks" gebracht, und das hat niemals ein Mensch bemerkt! Der Satz, über den wir gerade reden, ist allerdings sehr, sehr berühmt.
Scholl: Es gibt ein weiteres Beispiel, Herr Maier: In Ihrem Roman "Kirillow" findet sich ein Idyll, zu dem Sie Kleist in seiner Novelle "Das Erdbeben in Chili" inspiriert hat. Wie kam es denn dazu?
Maier: Na ja, das Idyll ist ja eine sehr festgeschriebene literaturwissenschaftliche Form. Es ist eine Art von stehender Zeit, da passiert nichts. Das berühmteste Idyll, das wir eben kennen als Einlage in einer ansonsten dramatischen Handlung, ist das im "Erdbeben in Chili", und wer auch immer ein Idyll schreibt, wird wahrscheinlich notgedrungen immer an Kleist denken müssen. So auch ich, als ich begonnen habe, diese kleine Einlage in dem Roman zu schreiben. Das ist nicht lang, das geht über vielleicht fünf Seiten. Da stehen bei einem Castor-Transport im hannoverischen Wendland sich die Demonstranten und die Polizisten gegenüber, und zwar einige Stunden, bevor es richtig dramatisch wird. Da ist noch nichts passiert, es ist kühl, Sonnenschein - auf einer Wiese, gemeinsam spielen auf der einen Seite die Polizisten Fußball, und auf der anderen Seite dieser Wiese versammelt sich so eine Demonstranten-Picknick-Gruppe. Und da gibt es so Interferenzen zwischen beiden, alles vollkommen friedlicher Natur, und wenige Stunden später werden die sich alle schwer eine auf die Mütze geben gegenseitig. Genau wie im "Erdbeben in Chili". Und das ist ganz klar: Wenn man so eine Stelle schreibt, muss man an Kleist denken, das geht gar nicht anders. Und Kleist hat tatsächlich es durch dieses Wort Idyll meiner Ansicht nach auch eingeleitet und wieder ausgeleitet - und das habe ich in meiner Szene auch so gemacht. Ich habe - das schlechteste Erlebnis, was ich mit Kleist hatte, waren seine Briefe - das muss ich wirklich sagen! Das hat mir mein Bild auf die Person Kleist ziemlich verändert und eigentlich auch ziemlich miesgemacht. Eine sehr unruhige, aufgeregte Person mit einer - meiner Ansicht nach - nicht wirklich authentischen Fähigkeit zur Selbstanalyse. Seine Verlobte, der Erziehungsauftrag, mit dem er seine Verlobte überzogen hat - sie musste eine Abhandlung für ihn schreiben, und so weiter - das ist traurig, das zu lesen. Dann geht er um das Jahr 1800 auf seine Reise nach Frankreich, und salbadert sie dann mit Reisebeschreibungen zu, und dann nimmt er auch noch wörtlich Partien aus seinen Briefen, die er in Briefe an andere Leute reinsetzt, weil ihm das offensichtlich so wichtig ist, oder weil er diese Passage gerade stilistisch so für gelungen hält. Und das wurde mir dann sehr, sehr peinlich.
Scholl: Ja, es ist eine sehr quälende Lektüre, weil man sie auch kaum mit der Prosa und dieser Genialität, die ja doch drinsteckt, einfach zusammenbringt. Wenn Sie, Herr Maier, Kleist mal treffen könnten, und Sie hätten eine Frage frei, welche würden Sie stellen?
Maier: Oh Gott. Vielleicht, was er von seiner neuen Grabgestaltung hält, die er nächstes Jahr bekommen wird?
Scholl: Kleist und die Folgen. Wir fragen in diesen Wochen deutsche Schriftsteller nach Einfluss und Wirkung von Heinrich von Kleist, heute war das Andreas Maier. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Maier!
Maier: Vielen Dank, ja!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.