Auf unsicherem Terrain
In seinem Buch "Heimkehr der Unerwünschten" erzählt der Autor Olivier Guez auf einfühlsame und unaufgeregte Weise die Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945. Auch prominente Zeitzeugen wie Ralph Giordano kommen zu Wort.
Es ist eine Ironie der Geschichte: Ein Großteil der polnischen Juden, die den Nationalsozialismus überlebten, fanden nach dem Krieg ausgerechnet in Deutschland Zuflucht. In Polen begegneten sie, ihrer Wohnungen und ihres Eigentums beraubt, dem Antisemitismus katholischer oder kommunistischer Prägung. Der Weg nach Palästina war ihnen verwehrt, weil die britische Mandatsmacht Einwanderer mit rigiden Quoten abwehrte. In Deutschland dagegen, vor allem in der amerikanischen Zone, konnten sie sich in den Lagern für Displaced Persons sicher fühlen.
"In ihren kleinen autarken Kommunen knüpften die Displaced Persons, sobald ihnen das möglich war, an ihre intellektuellen und spirituellen Traditionen an - Zeitungen, Theater, Konzerte, Dichtung und alle anderen Ausdrucksformen jiddischer Kultur, jener Kultur, die beinahe auf immer zwischen Krematorien und Stacheldraht verschwunden wäre. In ihren Schtetlech aus Fertigbauten am Fuße der bayrischen Berge, zwischen Neckar und Donau, im Land der Mörder, deren große urbane Zentren wie durch göttliche Bestrafung in Staub verwandelt worden waren – überall brachten die Displaced Persons mit letzter Energie jiddische Kultur und Sprache zum Glänzen."
Es ist dieser Ton, der das Buch von Olivier Guez so sympathisch macht. Weder historisch-distanziert noch journalistisch-forciert, erzählt Guez auf einfühlsame, dabei gänzlich unaufgeregte Weise die Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945, die Heimkehr der Unerwünschten.
"Nicht selten gab es antisemitische Akte: Jüdische Einrichtungen und Kultstätten wurden mit Hakenkreuzen und Naziparolen beschmiert, Friedhöfe geschändet; oft kam es vor, dass Displaced Persons, diese 'Ostjuden', gegen die Hitlers Propaganda so gehetzt hatte, angegriffen wurden, wenn sie sich in die Städte wagten. Man warf ihnen vor, Schwarzhandel zu betreiben und die deutschen Städte zu beschmutzen. Man beschuldigte sie, dem Wiederaufbau zu schaden."
Sie waren unerwünscht, weil sie die Vergangenheit mit sich herumschleppten, weil sie das Verdrängen störten, das schlechte Gewissen der deutschen, der christlichen Gesellschaft personifizierten, kurz: weil von Traumatisierten ein Erschrecken ausgeht.
Guez verarbeitet in seinem zuerst in Frankreich erschienenen Buch Literatur und historische Forschungen genauso wie Aussagen von Zeitzeugen, die er außerhalb und innerhalb Deutschlands getroffen hat. Geschmeidig wechselt er, wie ein Reiseführer, von der Gegenwart in die Geschichte und wieder in die Gegenwart.
Nach der Schließung der Lager für die Displaced Persons Anfang der 50er-Jahre blieben um die 10.000 Heimatlose in Deutschland zurück. Sie ließen sich vornehmlich in den Städten nieder. Kurz zuvor hatte Konrad Adenauer Reparationen gegenüber Israel und den in der Diaspora lebenden Juden angekündigt. An das 1952 unterzeichnete Wiedergutmachungsabkommen war nicht zuletzt die Aufnahme der Bundesrepublik in die UNO verknüpft. Juden, die in Deutschland lebten, wurden nicht nur finanziell entschädigt, sondern erhielten ihr Eigentum - Wohnungen, Möbel, Schmuck - zurück, all dies unter den wenig wohlwollenden Blicken der außerhalb Deutschlands lebenden Juden.
"Seit dem Ende des Krieges und noch mehr nach der Gründung Israels wurden die Juden aus Deutschland dazu aufgerufen, sich dem hebräischen Staat anzuschließen. Diejenigen, die sich weigerten und, schlimmer noch, die versuchten, in Deutschland ein jüdisches Leben wiederaufzubauen, galten als amoralische und zynische Individuen."
Jahrzehntelang herrschte auf Seiten der Täter wie der Opfer eine merkwürdig einvernehmliche Stummheit. Guez zitiert Gila Lustiger, die 1963 geborene, in Paris lebende Tochter des Historikers Arno Lustiger:
"Mein Vater hat uns immer vor sich beschützen wollen, nicht vor den Deutschen, nur vor sich selbst. Natürlich nicht vor dem Mann, der er nach all den Jahren harter und disziplinierter Verdrängungsarbeit geworden war, sondern vor seinem ärgsten Feind, einem Feind, den er 50 Jahre bekämpft hatte und den er nun, als Geschäftsmann und gefragter Publizist, bezwungen zu haben glaubte: vor dem entkräfteten Jungen im KZ."
Aller Wiedergutmachung zum Trotz waren unter Adenauer die alten NS-Eliten wieder in Verwaltung, Polizei und Rechtswesen integriert. Man räumte ihnen ein "Recht auf politischen Irrtum" ein. Bekanntester Fall: Heinrich Globke, der als einstiger Kommentator der sogenannten Rassegesetze Staatssekretär im Kanzleramt wurde. Die Verhaftung Adolf Eichmanns 1960 war ein Wendepunkt. Sein Prozess in Jerusalem konfrontierte alle Welt mit der unfasslichen Logik der Schoah.
Zeitgleich wurde in Frankfurt gegen Angehörige der SS, die im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ihren verbrecherischen Dienst taten, ermittelt. Während des wenig später stattfindenden Auschwitz-Prozesses brach der in Belgien lebende österreichische Autor Jean Amery sein Schweigen. Im Süddeutschen Rundfunk veröffentlichte er Texte über sein eigenes Leiden in Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen, die später unter dem Buchtitel "Jenseits von Schuld und Sühne" erschienen.
"Das außergewöhnliche Wiedererstarken Deutschlands, im Nachhinein als unabdingbare Voraussetzung der europäischen Versöhnung zu sehen, war für ihn untragbar, da es sich auf Kosten der Gerechtigkeit vollzogen hatte - weil die Alliierten Deutschland ermöglicht hatten, einen Teil seiner Geschichte zu begraben, und alle lieber die Augen vor den Realitäten des 'neuen Deutschlands' schlossen. Jenseits von Schuld und Sühne war ein Schrei in der Nacht des Vergessens."
Für Olivier Guez ist Amery der Schlüsselautor schlechthin. Anders als etwa Hannah Arendt und Theodor W. Adorno schrieb hier jemand aus eigenem Erleben. Es ist in der Tat unerklärlich, warum Jean Amery nicht dieselbe nationale und internationale Bekanntheit erfahren hat wie etwa Primo Levi, Elie Wiesel und Robert Antelme.
Der Sechstagekrieg 1967 führte der Mehrzahl der Deutschen das erste Mal die Möglichkeit eines erneuten Holocaust am jüdischen Volk vor Augen – aber auch, und das war neu, den Heroismus seiner erfolgreichen Selbstverteidigung. Erst 1979 aber sollte die amerikanische Fernsehserie "Holocaust" eine tiefer gehende psychologische Katharsis bewirken. Empathie trat an die Stelle eines politischen Philosemitismus' aus schlechtem Gewissen.
"Die unzähligen Debatten und Diskussionen, die durch die dramatischen Prüfungen der Familie Weiss ausgelöst wurden, verankerten die Schoah im Zentrum der zeitgenössischen westdeutschen Identität. Das Tabu verwandelte sich in Besessenheit. Seitdem schwebt der riesige und erschreckende Schatten des Holocaust über Deutschland; er bleibt der zwingende und konstituierende Bezugspunkt der deutschen Identität, ein Thema unzähliger offizieller Gedenkveranstaltungen und Gedenkstätten, deren Symbol das ins Zentrum Berlins gesetzte Denkmal für die ermordeten Juden Europas ist."
Nicht zuletzt unter dem Eindruck dieses Mentalitätswandels beschl0ss der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der SPD/FDP-Koalition, die Verjährung für NS-Verbrechen aufzuheben. In dieser Logik handelte selbst noch der erste und letzte frei gewählte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, als er die Grenzen seines Landes für alle Juden der UdSSR öffnete und dadurch eine verschwindend kleine jüdische Gemeinde zur drittgrößten Europas anwachsen ließ.
Die "Heimkehr der Unerwünschten", der Buchtitel der deutschen Ausgabe, ist, so können wir begründet hoffen, bereits Geschichte. Der französische Originaltitel formuliert es insofern treffender: "L’impossible Retour" – Die unmögliche Rückkehr. Sie stellt nämlich mehr als nur eine historische Ironie dar: zurückkehren reichte nicht. Neuanfangen mussten die Juden und die deutsche Gesellschaft, ihre Einstellung ändern. Und das war und ist ein Prozess, der mehrere Generationen lang dauert.
Olivier Guez: Heimkehr der Unerwünschten. Eine Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945.
Piper Verlag, München/Zürich 2011
"In ihren kleinen autarken Kommunen knüpften die Displaced Persons, sobald ihnen das möglich war, an ihre intellektuellen und spirituellen Traditionen an - Zeitungen, Theater, Konzerte, Dichtung und alle anderen Ausdrucksformen jiddischer Kultur, jener Kultur, die beinahe auf immer zwischen Krematorien und Stacheldraht verschwunden wäre. In ihren Schtetlech aus Fertigbauten am Fuße der bayrischen Berge, zwischen Neckar und Donau, im Land der Mörder, deren große urbane Zentren wie durch göttliche Bestrafung in Staub verwandelt worden waren – überall brachten die Displaced Persons mit letzter Energie jiddische Kultur und Sprache zum Glänzen."
Es ist dieser Ton, der das Buch von Olivier Guez so sympathisch macht. Weder historisch-distanziert noch journalistisch-forciert, erzählt Guez auf einfühlsame, dabei gänzlich unaufgeregte Weise die Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945, die Heimkehr der Unerwünschten.
"Nicht selten gab es antisemitische Akte: Jüdische Einrichtungen und Kultstätten wurden mit Hakenkreuzen und Naziparolen beschmiert, Friedhöfe geschändet; oft kam es vor, dass Displaced Persons, diese 'Ostjuden', gegen die Hitlers Propaganda so gehetzt hatte, angegriffen wurden, wenn sie sich in die Städte wagten. Man warf ihnen vor, Schwarzhandel zu betreiben und die deutschen Städte zu beschmutzen. Man beschuldigte sie, dem Wiederaufbau zu schaden."
Sie waren unerwünscht, weil sie die Vergangenheit mit sich herumschleppten, weil sie das Verdrängen störten, das schlechte Gewissen der deutschen, der christlichen Gesellschaft personifizierten, kurz: weil von Traumatisierten ein Erschrecken ausgeht.
Guez verarbeitet in seinem zuerst in Frankreich erschienenen Buch Literatur und historische Forschungen genauso wie Aussagen von Zeitzeugen, die er außerhalb und innerhalb Deutschlands getroffen hat. Geschmeidig wechselt er, wie ein Reiseführer, von der Gegenwart in die Geschichte und wieder in die Gegenwart.
Nach der Schließung der Lager für die Displaced Persons Anfang der 50er-Jahre blieben um die 10.000 Heimatlose in Deutschland zurück. Sie ließen sich vornehmlich in den Städten nieder. Kurz zuvor hatte Konrad Adenauer Reparationen gegenüber Israel und den in der Diaspora lebenden Juden angekündigt. An das 1952 unterzeichnete Wiedergutmachungsabkommen war nicht zuletzt die Aufnahme der Bundesrepublik in die UNO verknüpft. Juden, die in Deutschland lebten, wurden nicht nur finanziell entschädigt, sondern erhielten ihr Eigentum - Wohnungen, Möbel, Schmuck - zurück, all dies unter den wenig wohlwollenden Blicken der außerhalb Deutschlands lebenden Juden.
"Seit dem Ende des Krieges und noch mehr nach der Gründung Israels wurden die Juden aus Deutschland dazu aufgerufen, sich dem hebräischen Staat anzuschließen. Diejenigen, die sich weigerten und, schlimmer noch, die versuchten, in Deutschland ein jüdisches Leben wiederaufzubauen, galten als amoralische und zynische Individuen."
Jahrzehntelang herrschte auf Seiten der Täter wie der Opfer eine merkwürdig einvernehmliche Stummheit. Guez zitiert Gila Lustiger, die 1963 geborene, in Paris lebende Tochter des Historikers Arno Lustiger:
"Mein Vater hat uns immer vor sich beschützen wollen, nicht vor den Deutschen, nur vor sich selbst. Natürlich nicht vor dem Mann, der er nach all den Jahren harter und disziplinierter Verdrängungsarbeit geworden war, sondern vor seinem ärgsten Feind, einem Feind, den er 50 Jahre bekämpft hatte und den er nun, als Geschäftsmann und gefragter Publizist, bezwungen zu haben glaubte: vor dem entkräfteten Jungen im KZ."
Aller Wiedergutmachung zum Trotz waren unter Adenauer die alten NS-Eliten wieder in Verwaltung, Polizei und Rechtswesen integriert. Man räumte ihnen ein "Recht auf politischen Irrtum" ein. Bekanntester Fall: Heinrich Globke, der als einstiger Kommentator der sogenannten Rassegesetze Staatssekretär im Kanzleramt wurde. Die Verhaftung Adolf Eichmanns 1960 war ein Wendepunkt. Sein Prozess in Jerusalem konfrontierte alle Welt mit der unfasslichen Logik der Schoah.
Zeitgleich wurde in Frankfurt gegen Angehörige der SS, die im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ihren verbrecherischen Dienst taten, ermittelt. Während des wenig später stattfindenden Auschwitz-Prozesses brach der in Belgien lebende österreichische Autor Jean Amery sein Schweigen. Im Süddeutschen Rundfunk veröffentlichte er Texte über sein eigenes Leiden in Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen, die später unter dem Buchtitel "Jenseits von Schuld und Sühne" erschienen.
"Das außergewöhnliche Wiedererstarken Deutschlands, im Nachhinein als unabdingbare Voraussetzung der europäischen Versöhnung zu sehen, war für ihn untragbar, da es sich auf Kosten der Gerechtigkeit vollzogen hatte - weil die Alliierten Deutschland ermöglicht hatten, einen Teil seiner Geschichte zu begraben, und alle lieber die Augen vor den Realitäten des 'neuen Deutschlands' schlossen. Jenseits von Schuld und Sühne war ein Schrei in der Nacht des Vergessens."
Für Olivier Guez ist Amery der Schlüsselautor schlechthin. Anders als etwa Hannah Arendt und Theodor W. Adorno schrieb hier jemand aus eigenem Erleben. Es ist in der Tat unerklärlich, warum Jean Amery nicht dieselbe nationale und internationale Bekanntheit erfahren hat wie etwa Primo Levi, Elie Wiesel und Robert Antelme.
Der Sechstagekrieg 1967 führte der Mehrzahl der Deutschen das erste Mal die Möglichkeit eines erneuten Holocaust am jüdischen Volk vor Augen – aber auch, und das war neu, den Heroismus seiner erfolgreichen Selbstverteidigung. Erst 1979 aber sollte die amerikanische Fernsehserie "Holocaust" eine tiefer gehende psychologische Katharsis bewirken. Empathie trat an die Stelle eines politischen Philosemitismus' aus schlechtem Gewissen.
"Die unzähligen Debatten und Diskussionen, die durch die dramatischen Prüfungen der Familie Weiss ausgelöst wurden, verankerten die Schoah im Zentrum der zeitgenössischen westdeutschen Identität. Das Tabu verwandelte sich in Besessenheit. Seitdem schwebt der riesige und erschreckende Schatten des Holocaust über Deutschland; er bleibt der zwingende und konstituierende Bezugspunkt der deutschen Identität, ein Thema unzähliger offizieller Gedenkveranstaltungen und Gedenkstätten, deren Symbol das ins Zentrum Berlins gesetzte Denkmal für die ermordeten Juden Europas ist."
Nicht zuletzt unter dem Eindruck dieses Mentalitätswandels beschl0ss der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der SPD/FDP-Koalition, die Verjährung für NS-Verbrechen aufzuheben. In dieser Logik handelte selbst noch der erste und letzte frei gewählte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, als er die Grenzen seines Landes für alle Juden der UdSSR öffnete und dadurch eine verschwindend kleine jüdische Gemeinde zur drittgrößten Europas anwachsen ließ.
Die "Heimkehr der Unerwünschten", der Buchtitel der deutschen Ausgabe, ist, so können wir begründet hoffen, bereits Geschichte. Der französische Originaltitel formuliert es insofern treffender: "L’impossible Retour" – Die unmögliche Rückkehr. Sie stellt nämlich mehr als nur eine historische Ironie dar: zurückkehren reichte nicht. Neuanfangen mussten die Juden und die deutsche Gesellschaft, ihre Einstellung ändern. Und das war und ist ein Prozess, der mehrere Generationen lang dauert.
Olivier Guez: Heimkehr der Unerwünschten. Eine Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945.
Piper Verlag, München/Zürich 2011