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Die Welt der Blinden vor und nach 1989
In ganz Deutschland lebten Anfang der 90er Jahre etwa 150.00 blinde Menschen. Ein nicht genau bezifferter Teil kam aus der DDR. Wie haben sie die Wende erlebt?
"Na, die DDR hat ja immer für sich in Anspruch genommen, eine sehr egalitäre Gesellschaft zu sein und man ja eigentlich, wenn man überlegt, also es war so ein zweischneidiges Schwert. Also, man hat in der DDR ein vorgezeichnetes Leben als Blinder gehabt, ein sehr sicheres Leben, also meine Zukunft, das sagen meine Eltern auch immer, und ich kann mich auch noch an Gespräche erinnern mit zehn, elf Jahren. Wie es dann gekommen wär, wer weiß das schon, aber ich wäre wahrscheinlich nach zehn Klassen abgegangen von der Schule und hätte dann wahrscheinlich eine Ausbildung zum Physiotherapeuten gemacht. Und wahrscheinlich wäre ich dann bei der KKW Greifswald Fußballmannschaft Kernkraftwerk Greifswald irgendwie als Masseur untergekommen oder so ähnlich. Das Leben wäre in der DDR in dem Sinne vorgezeichnet gewesen."
Jörg Tretow war 1989 zwölf Jahre alt. Er lebte in Ostberlin – oder, wie es damals offiziell hieß, in "Berlin, Hauptstadt der DDR". Er kam als Frühchen in Greifswald an der Ostseeküste zur Welt und verlor infolge zu hoher Sauerstoffzufuhr sein Augenlicht. In Königs Wusterhausen bei Berlin ging er auf eine Schule für Blinde und Sehbehinderte, er studierte von 2002 bis 2003 in London Politik mit Bachelor-Abschluss, von 2005 bis 2011 absolvierte er in Heidelberg ein Studium als akademisch geprüfter Übersetzer, 2012 machte er in Sheffield den Master-Abschluss als Übersetzer.
Sein Wunsch ist, als politischer Journalist mit Schwerpunkt Außen- und Sicherheitspolitik zu arbeiten. Aber da hat er bis heute noch keinen Job gefunden. Stattdessen jobbt er als Kellner im Berliner Dunkelrestaurant "Nocti Vagus" am Prenzlauer Berg. Jörg Tretow lebt in einer Wohngemeinschaft in Potsdam. Er hat die Ambivalenz des Versorgungsstaates DDR kennengelernt: die Garantie einer Existenzsicherung wie auch die menschenverachtende Seite.
"Die DDR hatte nichts dagegen, uns loszuwerden"
"Man konnte als Behinderter ab 18 in den Westen reisen. Ich weiß nicht, ob man eine Begleitperson gebraucht hat, aber auf jeden Fall konnte man das und das zeigt ja eigentlich: Die DDR hatte nichts dagegen, uns loszuwerden, weil wir ja quasi, nun ja, dem Sozialstaat auf der Tasche lagen. Und die DDR wollte schon jeden loswerden, den sie, in Anführungsstrichen, nicht unbedingt gebrauchen konnte. Die wirtschaftliche Lage war schon sehr angeschlagen. Ich glaube, das sagt schon viel über das Menschenbild der DDR aus. Wir hatten auch in meiner Familie meine Halbschwester, die ist 20 Jahre älter wie ich fast -war verheiratet mit einem Herrn, der damals - sind sie heute nicht mehr - haben sich schon vor der Wende scheiden lassen, aber der damals ein recht hohes Tier bei der Stasi war, und da hatten meine Eltern eine Diskussion mit ihm und er meinte damals - ich war noch sehr klein, ich habe das nicht mitbekommen, aber meine Eltern haben gesagt, dass er dann sagte, in Bezug auf Ihren Sohn, gewöhnen Sie sich daran, er ist halt nur ein Sekundärsubjekt. Und wenn man das von Leuten hört, die in solchen Positionen gearbeitet haben, glaube ich, sagt das einfach schon viel aus über das Selbstverständnis der DDR. Das hat sich nach der Wende natürlich schon grundlegend geändert."
Jörg Tretow war 1989 einer von ca. 300000 bis 400.000 Menschen, die als Blinde oder schwer Sehbehinderte die Welt der DDR erlebt, aber nicht gesehen haben.
Am 9. November 1989, als sich Günter Schabowski verhaspelte und versehentlich die Maueröffnung provozierte. An diesem 9. November 1989 begann auch für die Menschen, die der Stasi-Mann als "Sekundärsubjekte" beschrieb, der Übergang in die neue Welt des Westens, der nun auch in den Osten einzog. Für den zwölfjährigen Jörg war die Zeit genauso aufregend wie für alle anderen.
"An der Friedrichstraße waren wir mit der S-Bahn unterwegs und hier war ja nun früher zu Ende, und dann ging es weiter und dann habe ich in der S-Bahn gesessen und habe gesagt, Papa, Papa, wo ist die Grenze? Wo ist die Grenze? Mein Vater: hier, hier, genau jetzt fahren wir über die Grenze - wie man als Kind halt so ist, das war ja nun mal eine total aufregende Zeit ..."
Was würde sich ändern für ihn, den Heranwachsenden, und für die Menschen im Land?
"Mein Vater hat halt dann probiert, mir als Zwölfjährigen zu erklären, dass es eine Verfassung gibt und ja und, wie gesagt, ich habe dann eben auch gedacht wenn `ne linke Regierung gewählt wird - ich hab das auch noch 1990 gedacht, als dann die ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen stattfanden, dachte ich allen Ernstes also wenn Lafontaine jetzt die Wahlen gewinnt, dann gibt's vielleicht bald keine Bananen mehr zu kaufen."
Nach der Volkskammerwahl im März 1990 war klar, dass der Staat DDR bald untergehen würde. Im August stellte Gregor Gysi nach dem Beschluss des Ost-Berliner Parlaments, der Bundesrepublik beizutreten, lakonisch fest:
"Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 ..."
Inzwischen galt bereits die D-Mark als Zahlungsmittel in der DDR, die Umwälzung aller Lebensverhältnisse hatte begonnen. Wer diese Veränderungen erlebte, ohne sie mit eigenen Augen wahrnehmen zu können, hatte umso größere Orientierungsschwierigkeiten.
"Da ging es darum, wird die DDR der Bundesrepublik beitreten oder wird es ein ganz neues Grundgesetz geben oder wie wird das alles werden, da haben sich die Leute aufgeregt und wir haben gesagt, eigentlich ist es für uns keine Frage, für uns ist die Frage, wie werden wir weiterleben können."
Joachim Haar ist 1945 in Görlitz geboren worden. Er ist Gründungsmitglied und heute Geschäftsführer des 1990 gegründeten Blinden- und Sehbehindertenverbandes in Brandenburg. Durch einen angeborenen grauen Star ist er seit seiner Geburt auf dem rechten Auge blind, das linke hat eine Sehkraft von etwa einem Prozent. Seit 1972 kümmert sich Joachim Haar von Cottbus aus um die Belange der blinden und sehbehinderten Menschen. Damals beim BSV, dem Blinden- und Sehschwachen-Verband der DDR, heute beim BSVB, dem Blinden- und Sehbehinderten Verband Brandenburg e.V. Er hält Vorträge, berät und hilft.
Zum Beispiel bei der Elementarrehabilitation, einer Neuorientierung und Anpassung an die veränderten Lebensbedingungen bei Neuerblindung. Joachim Haar hat viel erlebt. Im Gegensatz zu vielen anderen Behinderungen ist eine Sehbehinderung auf den ersten Blick für Außenstehende oft nicht sofort erkennbar. Die wenigsten der Betroffenen tragen eine markante Brille, eine gelbe Armbinde mit drei schwarzen Punkten oder sind mit einem weißen Langstock unterwegs. Sehbehinderte Menschen können noch etwas sehen, das verbliebene Sehvermögen ist aber nur ein Bruchteil, nicht vergleichbar mit dem, was sehschwache Menschen mit einer Brille oder mit Kontaktlinsen sehen. Elke Runte ist sehbehindert und Leiterin des Bereiches Kommunikation vom Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund in München.
"Also es gibt eine gesetzliche Definition für Blindheit und Sehbehinderung und blind ist man im Sinne des Gesetzes, wenn man auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50tel, so ist es formuliert, also zwei Prozent sieht und dann gibt es den Bereich der Sehbehinderung, der wird noch mal unterteilt in wesentlich und hochgradig sehbehindert. Und hochgradig sehbehindert ist man mit einem Sehvermögen größer als zwei Prozent - eben diese 1/50tel, die ich erwähnte, bis fünf Prozent und dann wesentlich sehbehindert größer als fünf Prozent bis 30 Prozent Sehvermögen."
Jeder Pfosten dient als Orientierungshilfe
Wenn das Sehvermögen schlechter wird oder gar verloren geht, können die kleinsten Verrichtungen zum Problem werden. Der Gang über die Straße, der Weg zur Arbeit ist für Blinde oft verbunden mit dem Zählen von Abständen und Dingen. Jeder Randstein, jede Rille, jeder Pfosten dient als Orientierungshilfe. Walter Hoffmann ist 75 Jahre alt und wohnt im Ostteil Berlins, in Marzahn. Er beschreibt, wie er den Weg zu seiner Haustür findet.
"Ich habe noch ein Prozent auf einem Auge, das andere ist tot, aber das eine Prozent hilft mir natürlich gewaltig, gegenüber dem, der gar nichts sieht, ist das natürlich ein Riesenvorteil. Ja, hier bleibt nichts anderes als Eingänge zählen, das hat man ja irgendwo, man merkt ja hier die Container (schlägt mit seinem Langstock gegen einen Container) die merkt man ja. Weil man merkt, da ist was, natürlich wenn ich hier wohne, weiß ich, was da ist und dann merkt man eben auch die Lücke, wann der nächste Eingang kommt. Was dann eben häufig ist, das ist ja völlig verplant hier, dass da Autos drinstehen und den Fußgängerweg einfach zuparken. Das war ja in keiner Weise auf dieses Auto-Einkommen zugeschnitten. Das war für DDR-Verhältnisse vielleicht gerade mal so ausreichend, aber jetzt schon gleich gar nicht mehr.
So, jetzt sind wir an der 14, wenn ich richtig gezählt habe, und dann habe ich hier noch ein Merkmal, dass ich weiß, wenn ich mich wirklich vertan habe, bei mir müssen wir zwei Stufen hoch und ja da sind wir auch - sobald es drei sind, bin ich zu weit vorn und wenn ich einen Eingang weitergehen würde aus Versehen, ist es nur eine Stufe. So, und hier muss ich noch mal die Klingeln abzählen von unten 1, 2, 3, 4, so."
Blinde Menschen brauchen Orientierung
Blinde Menschen brauchen Orientierung. Ein blinder Mensch findet sich auf Plätzen oft schwer zurecht. Barrierefrei heißt für Blinde und Sehbehinderte Menschen etwas ganz anderes als für Rollstuhlfahrer. Darüber hinaus nutzen sehbehinderte Menschen zum Ausgleich der eingeschränkten Sehfähigkeit vermehrt ihr Gehör, ihren Geruchs- und Geschmackssinn im Zusammenspiel mit ihrem Gedächtnis und ihrem Vorstellungsvermögen.
Die Wiedervereinigung Deutschlands bedeutete für viele blinde Menschen aus den neuen Bundesländern komplette Neuorientierung. Vieles fühlte sich anders an, es gab neue Geräusche, neue Gerüche. Und es gab neue Gesetze und neue Verordnungen. Viele hatten noch nie etwas noch nie etwas von einem Bundessozialhilfegesetz gehört oder von den Zivildienstleistenden, die es im Westen gab.
Das war die Frage, die sich Menschen wie Joachim Haar stellten. Da war auf der einen Seite die Existenzunsicherheit – auf der anderen Seite wurden immer neue Hilfsmittel bereitgestellt, die Sehbehinderten helfen, sich zurechtzufinden. Ansagen auf Bahnhöfen und in Zügen, geriffelte Leitlinien auf den Bahnsteigen. Wichtige Erleichterungen, um sich auch ohne Augenlicht im Alltag allein zurechtfinden zu können – und doch überwog für Joachim Haar das Verlustgefühl, als die DDR untergegangen war.
"Viele Menschen gehen heute nicht mehr alleine. Das ist auch ein großer Unterschied zu früher. Wir sind früher alleine zur Arbeit gefahren, das machen sie heute nicht mehr, weil man kann sich auf bestimmte Dinge nicht mehr verlassen. Und dann muss man auch noch sagen: die Hilfsbereitschaft der Menschen hat also tüchtig nachgelassen Ja, gut, in meinem Alter, wenn jemand aufsteht und sagt 'Opa setz dich.' Da freue ich mich schon drüber und denke mir 'Oh was ist denn jetzt passiert?' Aber im Prinzip kann ich mit dem weißen Stock in die Straßenbahn, in den Bus einsteigen, da steht kein Mensch mehr auf."
Das größte Hilfsmittel für die Blinden ist heute der Computer. Er eröffnet eine Welt neuer Möglichkeiten. Joachim Haar kommuniziert über eine spezielle Computertastatur in Blindenschrift, eine sogenannte Braillezeile.
"Wenn man das vergleicht mit den Sprachanfängen noch vor Jahren, als noch alles mehr oder weniger gequetscht und gequakt hat, muss man sagen, ist das hier brillant. Das ist die Steffi, die hier was vorliest, und man kann das gut verstehen, man kann die Geschwindigkeit verstellen. Wir können auch aus einer Word-Datei eine Audiodatei machen, das heißt, ich kann den normalen Text so umgestalten, dass ich ihn auf eine CD spielen kann und die Steffi liest es dann vor und besonders für die Menschen, die also die Blindenschrift nicht können, die auch keine Normalschrift mehr lesen können, ist das eine tolle Technik. Richtig gute Errungenschaft, die uns heute zur Verfügung steht."
"Es ist jetzt so, dass wir natürlich jetzt dadurch, dass die Grenze weg ist, vielmehr an Hilfsmitteln bekommen - also Blindenhilfsmittel -wir hatten zwar auch welche im Osten von der Landeshilfsmittelzentrale Dresden, aber der Bestand war gering damals, und wenn ich jetzt sehe, wenn man dort bestellt oder so, was die jetzt alles haben und auch so - die Hilfsmittel, das ist schon bedeutend besser geworden."
Weiß Sabine Kindler, geboren in Chemnitz, heute wohnhaft im Berliner Stadtteil Moabit. Blindenhilfsmittel für den Alltag: das können Sehhilfen, Daisy-Player, Mobilitätshilfen, Langstock, Navigationsgeräte, Vorlesegeräte oder Alltagshilfen sein - sprechende Haushaltsgeräte oder Einkaufshilfen. Oder ein Pocketshopper, mit dem Walter Hoffmann in Berlin einkaufen geht.
"Ja, also der Pocketshopper besteht aus einem kleinen Scanner so groß wie ein Feuerzeug und einer Datenbank, die im Handy enthalten ist, die aufs Handy gespielt wird. Und man sucht nun als sehgeschädigter oder blinder den Strichcode auf dem Produkt."
Technische Hilfsmittel sind teuer
Inklusion ist heute der Leitgedanke. Menschen sollen am normalen Leben teilhaben können, auch wenn sie ein Handikap haben. Immer mehr Ampeln sind mit einer akustischen Vorrichtung für Blinde ausgestattet. Blinde, die sich heute an den PC setzen, können den Service der Barrierefreiheit nutzen – wenn denn die Absender darauf achten, dass ihre Informationen im Anhang barrierefrei nutzbar sind. Herkömmliche PDF-Dateien sind es nicht.
Technische Hilfsmittel bieten enorme Erleichterungen, aber sie sind teuer. Die Kosten für Hilfsmittel werden oft von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen, aber die prüft erst einmal die Wirtschaftlichkeit der Hilfsmittel. Wie oft und wofür werden sie gebraucht? Gleichen sie behinderungsbedingte Nachteile aus? Die Nutzungshäufigkeit muss in einem Verhältnis zum Preis stehen. Finanziert werden kann beinahe alles, was der medizinischen, beruflichen oder gesellschaftlichen Rehabilitation Blinder und Sehbehinderter dient. Aber die Leistung muss notwendig und angemessen sein. Der in Görlitz geborene Joachim Haar hadert mit dieser Art wirtschaftlichen Kalküls.
Der Inklusionsanspruch und die vielen Hilfsmittel erleichtern den Alltag – aber die harten Wirtschaftlichkeitsberechnungen sind die kühle Kehrseite dieser neuen Zeit. Für Menschen wie Joachim Haar ein Grund für wehmütige Erinnerungen. Andererseits – die Abstufung Behinderter durch die Stasi als Sekundärsubjekte, die besser in den Westen verschwinden sollten: das war ein Wirtschaftlichkeitsdenken ganz anderer Kälte.
Audio CD Abbas Shah Mohamedi
"Wege zum Menschen. Der Weg zum Blinden, ein Hör-Magazin für Blinde und Sehbehinderte und ihre Freunde, herausgegeben von Pfarrer Abbas Shah Mohamedi."
"Wege zum Menschen. Der Weg zum Blinden, ein Hör-Magazin für Blinde und Sehbehinderte und ihre Freunde, herausgegeben von Pfarrer Abbas Shah Mohamedi."
Abbas Shah Mohamedi ist ein pensionierter blinder evangelischer Pfarrer. Gebürtig aus dem Iran lebt er seit mehr als 50 Jahren in Deutschland. Er ist Telefonseelsorger und gibt viermal im Jahr eine Audio-CD heraus. Seit den 70er-Jahren war er in West Berlin als Pfarrer tätig. Auch er hat sehnsuchtsvolle Erinnerungen an die Wärme vergangener Zeiten.
"Die Menschen sind heute mehr materialistisch eingestellt als damals. Damals waren noch Werte wie Freundschaft, Bekanntschaft im Westen. Wenn wir in der DDR-Zeit drüben Gemeinden besucht haben, das bedeutete für sie sehr viel. Wir haben heute Besuch aus Westberlin. Offiziell durfte das ja nicht an die große Glocke gehängt werden. Aber wenn man dann in der Gemeinde war, dann war das etwas Besonderes. Heute ist alles weg."
Damals half man sich noch. Die Gesellschaft war aufeinander angewiesen. Der West-Pfarrer besorgte Geld und setzte sich für blinde Menschen im Osten ein. Er organisierte Reisen und besorgte Adressen, die dann den Menschen im Osten die Reisen ermöglichten.
Kristina Wichert aus Thüringen ist 48 Jahre alt, sehbehindert und heute wohnhaft in Neuperlach bei München. Auch ihre Erinnerungen an die früheren gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR sind von Wehmut geprägt.
"Ja, dieses ganz normale Zusammensein einfach. Heute, da kann jeder auch für sich alleine existieren und für sich alleine alles machen und im Internet bestellen und chatten und sonst was, der braucht gar keine anderen Leute. Das kann man ja so alles regeln und das war früher nicht, man hat die anderen Menschen noch gebraucht und man hat sie auch brauchen wollen."
Einkaufshilfe für Blinde
War das Angewiesensein auf die Hilfe anderer Menschen angenehmer als die technikgesteuerten Hilfen heute, die mehr Selbstbestimmung ermöglichen, zum Preis allerdings von größerer Einsamkeit? Einen besonderen – allerdings bundesweit ziemlich einzigartigen - Service für die Blinden bietet die Galeria Kaufhof GmbH an. Hier gibt es eine Einkaufshilfe für Blinde mit speziell geschulten Mitarbeitern. Anett Reichhardt ist verantwortlich für Personal und Organisation.
"Sie bekommen das jetzt nur zum Teil mit – das, was jetzt eben hier die mitgebrachte Begleitung der Kundin übernimmt, würden sonst unsere Mitarbeiterin übernehmen, die Richtung anzuweisen, Rolltreppe fahren - ja das Thema Toilette, wie komme ich da hin, an welcher Stelle muss ich welchen Griff machen, um den Kunden, der blind oder sehbehindert ist, tatsächlich eine Unterstützung darzustellen. Das, was im Normalfall als unhöflich gilt, vorzulaufen, ist in dem Fall eben sehr wichtig."
Annette Reichert hat selbst die Erfahrung machen wollen: Sie ließ sich als blinde im eigenen Laden führen.
"Man steht dort als Blinder-Sehbehinderter, man hat keine Vorstellung über die Größe, über die Weite. Wie weit geht's dann noch auf dieser Etage, wie viel Meter nach hinten. Höre ich jetzt die Rolltreppe im Hintergrund. Merke ich einen Zug, spüre ich das mehr als der normale Nicht-Behinderte das tut?"
Um Farben erkennen zu können, gibt es heutzutage Farbscanner. Natürlich muss man vorher ein Gefühl für Farbkombinationen bekommen. Ein Problem auch Farbenblinde. Wie gehen Menschen durch die Welt, die zwar sehen, aber keine Farben unterscheiden können?
Sven Pavelski ist 52 Jahre alt, Lehrer in Berlin-Hohenschönhausen und farbenblind. Er war Mitglied im BSV, dem damaligen Blinden-und Sehbehindertenverband der DDR. Sein neuer öffentlicher Arbeitgeber, die Senatsverwaltung Schule, verwechselte diese DDR-Organisation mit einer paramilitärischen Organisation, was zu einem strengen Personalgespräch bei seinem Dienstvorgesetzten 1990 geführt hat. DDR-Vergangenheit erregte nach 1990 vielfach Argwohn. Immerhin war dem Dienstvorgesetzten nach der Erklärung, was der BSV gewesen ist, die Unkenntnis und der ungerechtfertigte Verdacht sichtlich peinlich.
Seinen Schülern sagt Sven Pavelski manchmal: "Jetzt wird es mir aber zu bunt."
"Also für Farbenblinde gibt es definitiv keine Signalfarben. Und so war das damals auch, währenddessen alle gerade zur Wendezeit geschwärmt haben, Mensch, das ist ja alles so bunt, das ist ja alles so ansprechend und so logisch, unser Kompensationssinn hat alles toll gerochen natürlich bei uns, ebenso der Geruch. Ebenso diese...Sie wissen ja, in der DDR gab es ja die Intershops - da ist man reingekommen. Und es hat schon ganz anders gerochen, als ob da vor Ladenöffnung die Verkäuferin mit einem Düftchen durch die Gegend gegangen ist... die Gerüche haben mich schon viel mehr interessiert, weil ich die Farben ja gar nicht so wahrgenommen habe."
Sehbehinderte kompensieren oft den fehlenden Sinn
Die schöne, bunte neue Welt im Westen aus der Sicht eines Farbenblinden aus dem Osten: Blinde und Sehbehinderte kompensieren oft den fehlenden Sinn durch die Ausprägung anderer Sinne. Neben dem ausgeprägtem Tastsinn schmecken und riechen sie oft besonders gut.
Silja Korn aus West-Berlin ist 49 Jahre alt, blind seit ihrem zwölften Lebensjahr. Hier im Kaufhaus.
"Man merkt auch, wenn man jetzt ein Stockwerk höher fährt, dass jedes Stockwerk anders riecht. In manchen riecht es mehr nach Textilien. Manchmal mehr nach Glas. Manchmal mehr nach Elektronik. Aber es ist ziemlich leer hier heute. Das war damals nicht so. Als die Mauer geöffnet wurde, das war so voll, man konnte gar nicht so richtig hier langlaufen."
Vor `89, nach `89: War früher vieles besser als heute - oder umgekehrt? Erinnerungen trügen. Das Hässliche wird eher verdrängt als das Angenehme. Unabhängig davon gibt es für blinde Menschen ein Problem, von dem zwar alle betroffen sind, sie aber in besonderer Weise: die Informationsflut, die Vielstimmigkeit. Joachim Haar erlebt sie jedes Mal, wenn er auf Reisen ist.
"Was uns ärgert, das sind diese Dinge auf den Bahnhöfen, in den Zügen, alles visuell Sprache versteht man manchmal schlecht, wenn sie in Berlin auf dem Hauptbahnhof stehen, dann kann es sein, dass drei Ansagen zur gleichen Zeit durchgegeben werden und sie verstehen gar nichts. Und die Schilder sehen können wir sowieso nicht, ... da muss ich fragen, ja gut, das geht ja immer noch - wenn jemand da ist, den man fragen kann."