Alte Gewissheiten auf den Kopf stellen
Gleich drei Theaterstücke beschäftigen sich mit dem NSU und rechtem Terror in Deutschland. Alle drei nähern sich dem Thema auf ihre ganz eigene Weise, doch sie haben etwas gemeinsam: Das, was sie zu erzählen haben, ist fast zu ungeheuerlich, um es zu erzählen.
Münchener Marstall: "Urteile"
Von Michael Watzke
Von Michael Watzke
Im Münchner Marstall-Theater hängt ein Ahornbaum kopfüber von der Bühnendecke. Die grünen Blätter berühren fast den Boden, die Baumwurzel jedoch schwebt in der Luft. Entwurzelt. Vor dem Baum steht der Bruder des von der NSU getöteten Münchners Theodoris Boulgaridis.
"Ich bin hier fast geboren. Ich bin 1972 hierher gekommen, oder? Nein, 1973, da war ich drei Jahre alt. Meine Eltern sind als Gastarbeiter gekommen und haben mich und meinen Bruder dann nachgeholt. Wir hatten so eine Firmenwohnung. Da habe ich dann noch 37 Jahre lang drin gewohnt. Das war so ein Altbau. 100 Quadratmeter. Günstige Miete, sehr günstig. Und da bin aufgewachsen mit meinem Bruder, damals."
Der Bruder des letzten NSU-Opfers Theodoris Boulgaridis spielt sich natürlich nicht selbst. Er wird dargestellt von Schauspieler Gunther Eckes. Aber Regisseurin Christine Umpfenbach legt Wert darauf, dass ihre Schauspieler quasi dokumentarisch agieren.
"Ich arbeite sehr selten mit Schauspielern. Diesmal sind's Schauspieler, weil das Thema zu schwierig ist und zu heikel und man die Leute auch schützen muss. Aber mir war wichtig, dass die Schauspieler wirklich Stellvertreter sind. Dass sie wirklich im Sinne der Interviewten sprechen. Und nicht was anderes daraus machen. Sondern dass sie sich wirklich gut die O-Töne anhören."
Diese Original-Töne sind der Stoff, aus dem das dokumentarische Theaterstück "Urteile" gewoben ist. Regisseurin Christine Umpfenbach hat das Zitat-Material in dutzenden Gesprächen, Interviews und Archiv-Recherchen gesammelt. Sie hat mit Verwandten und Freunden von Theodoris Boulgaridis und Habil Kilic gesprochen, den beiden Münchner NSU-Opfern. In diesen Gesprächen wurde Umpfenbach klar, dass die Verwandten nach den Mordtaten ein zehn Jahre währendes Martyrium erlebten.
Ein zweites Trauma, das zehn Jahre dauerte
Dieses zweite Trauma, sagt Regisseurin Umpfenbach, sei für die Angehörigen der Opfer erst im November 2011 zu Ende gegangen, als der Nationalsozialistische Untergrund aufgedeckt wurde. Umpfenbach sprach bei ihren Recherchen etwa mit Ender Beyhan, einer Freundin der Familie Kilic. Habil Kilic, ein Gemüsehändler aus München-Ramersdorf, wurde am 29.August 2001 hinter der Theke seines Ladens vom NSU ermordet. Ender Beyhan sagt, die Entdeckung der Mörder habe ein zwiespältiges Gefühl ausgelöst."Ich glaube, für die Angehörigen war am schlimmsten, dass sie – nachdem sie schon einen geliebten Menschen verloren hatten – nicht wirklich trauern konnten. Dass sie eigentlich immer als Täter behandelt wurden. Dass sie zehn Jahre so leben mussten und dadurch eigentlich so eine Art zweites Trauma erlebt haben."
"Auf der einen Seite war es erlösend, weil wir gesagt haben: Okay, der Habil war doch unser guter Habil, wie wir ihn kannten. Das war innerlich ein Supergefühl. Auf der anderen Seite: Was dann im Nachhinein alles rauskam – da war man schon erschüttert, dass man in dem ach-so-sicheren Deutschland, wo wir uns eigentlich sehr sicher fühlen, doch nicht so sicher ist."
Dieses Gefühl der Unsicherheit will auch das Theaterstück "Urteile" erzeugen – beim Zuschauer. Alte Gewissheiten werden auf den Kopf gestellt wie der Ahornbaum über der Bühne. "Urteile" – der Titel des Stücks spielt auch auf den NSU-Prozess an, der nur ein paar Kilometer entfernt vor dem Landgericht München verhandelt wird. Dort werden die Richter am Ende Urteile über die mutmaßlichen Unterstützer der Terrorzelle NSU sprechen. Regisseurin Umpfenbach hat für ihr Theaterstück auch mit Prozess-Beteiligten gesprochen – etwa der Opfer-Anwältin Angelika Lex.
"Für die Angehörigen, die wir ja hier vertreten, als Nebenklage-Vertretung, ist es natürlich sehr relevant zu erfahren, warum gerade ihre Angehörigen Opfer geworden sind. Dass hier eine Aufklärung der Hintergründe erfolgt, und dass auch eine Aufklärung der Strukturen erfolgt. Die hier auch örtlich vorhanden sein müssen. Die aber bisher überhaupt nicht aufgeklärt worden sind."
Auch die Journalisten hinterfragten es nicht
Im Theaterstück "Urteile" werden diese Strukturen zumindest angedeutet – anders als im NSU-Prozess. Und auch die Rolle der Medien wird auf der Bühne kritisch hinterfragt. Denn nicht nur die Boulevard-Zeitungen, sondern auch seriöse Journalisten folgten bereitwillig dem Verdacht der Ermittlungsbehörden, es handle sich bei der Mordserie um ein Verbrechen der Türken-Mafia. Im Theaterstück stellt Schauspielerin Demet Gül eine Journalistin dar, die die Taten zu einer furchtbaren Schlagzeile verdichtet:
"Die 'Dönermorde'! Das war griffig – und das ist dann hängengeblieben!"
Hängenbleiben wird diese furchtbare Schlagzeile auch an den Journalisten, die sie prägten und verwendeten. Manche dieser Medien-Vertreter allerdings, mit denen Regisseurin Umpfenbach sprach, wollen auch heute noch keine Verantwortung erkennen.
"Mei, des ist jetzt für mich kein Gesichts-Verlust. Es sind ja nicht die Fehler, die ich gemacht habe, sondern das sind ja im Prinzip die Pannen und Fehler der Ermittlungsbehörden."
"Die Ermittler waren ja völlig ahnungslos. Die haben ja aufgrund der Indizienlage gedacht, dass es sich um eine türken-interne Angelegenheit handelt!"
Das ging so weit, dass ein Kriminal- Beamter der "Soko Bosporus" in die Ermittlungs-Akte einen denkwürdigen Vermerk schrieb. Im Theaterstück wird dieser Vermerk zitiert. Es ist einer der beklemmendsten Momente:
"Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltens-Systems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist."
Mit anderen Worten: so schießt ein Deutscher nicht. Eine groteske Einschätzung, von der Wirklichkeit ad absurdum geführt und im Theaterstück in ihrer Unglaublichkeit bloßgestellt. Für die Schauspieler Demet Gül, Paul Wolff-Plottegg und Gunther Eckes eine Grenzerfahrung.
"Da stehen einem schon die Haare zu Berge!"
"Ich find's unglaublich!"
"Die waren halt so brutal, das können nur Ausländer gewesen sein. Wirklich erschreckend. Ich find's beschämend, respektlos und peinlich."
Opfer und Angehörige im Mittelpunkt
Das Theaterstück "Urteile" im Münchner Marstall-Theater ist eine 100 Minuten lange emotionale Tortur. Etwa, wenn Zitate aus den Ermittlungsakten und Aussagen aus Zeugenvernehmungen auf deutsch und türkisch zu einer grausamen Collage verschmelzen:
"Unten war ein Blutbad. Spritzer bis an die Decke. Die Küche – alles voller Blut! Die Toilette, der ganze Laden - eine einzige Blutlache."
"Wussten Sie, dass er eine Geliebte hatte? Hatten Sie Eheprobleme? Mögen Sie Ihren Schwiegersohn?"
Es ist bisweilen schwer zu ertragen, wie Christine Umpfenbach in "Urteile" die Zitate aus zehn Jahren polizeilicher Ermittlungsarbeit montiert – zu einem monströsen Gebilde des Staatsversagens. Ihre Idee, die NSU-Morde und den Prozess auf der Bühne quasi dokumentarisch aufzuarbeiten, erscheint aus theater-kritischer Sicht holprig. Doch das Stück berührt – in seinen lauten und noch mehr in den stillen Augenblicken.
"Warum haben sie mich nicht zu ihm gelassen? Zu ihm in den Laden? Zumindest, um seine Hand zu halten? Er ist ganz einsam und allein dort gestorben."
Es gibt für den Zuschauer im Theaterstück "Urteile" kein Entkommen. Immer wieder fragt man sich nach den eigenen Urteilen, nach der eigenen Verantwortung. Der umgedrehte Ahornbaum scheint über den Zuschauern zu schweben wie ein Damokles-Schwert. Man spürt die alles entscheidende Frage, die die Regisseurin mit aufwirft:
"Inwiefern hängt die Gesellschaft – man selber auch – da mit drin?"
Christine Umpfenbach stellt in ihrem Stück die Opfer und ihre Angehörigen in den Mittelpunkt. Gerade jetzt, während des NSU-Prozesses, in dem der Scheinwerfer der Öffentlichkeit meistens auf die Täter gerichtet ist.
"Ich muss sagen, als ich die ersten Fotos gesehen habe, von den Tätern, als der Prozess anfing, das hat mich schon erschreckt und auch schockiert. Weil eigentlich muss man die nicht ständig so fett in der Zeitung zeigen. Ich finde schon, dass die sich da inszenieren, irgendwie. Ich war jetzt paarmal in dem Prozess – und jedesmal denke ich mir: Wow, das ist nicht schön anzuschauen."
Schön anzuschauen ist auch das Theaterstück "Urteile" nicht. Aber es schärft und verändert den Blickwinkel.
Schauspiel Köln: "Die Lücke"
Von Barbara Schmidt-Mattern
Von Barbara Schmidt-Mattern
Schuhe ausziehen, Arme hochheben, die Daumen hinter die Ohren – Bühne frei für ein gemeinsames muslimisches Gebet:
"Wie oft sagt man das? Ungefähr tausend Mal! Könnt ihr mal bitte aufhören?!"
Kutlu Yurtseven, ein junger Muslim, wünscht sich ein bisschen mehr heiliges Fingerspitzengefühl, doch diese drei Deutschen albern herum und stellen doofe Fragen.
Drei Laien aus der Kölner Keupstraße und drei Ensemblemitglieder des Kölner Schauspiels proben "Die Lücke". Ein Stück voller Fragen, humorvoll, dann wieder bitterböse, über das Nicht-Zusammenleben von Türkischstämmigen und Alteingesessenen in Köln-Mülheim – und in Deutschland, zehn Jahre nach dem Terror-Anschlag in der Keupstraße.
Schauspieler auf Bühne: "Der Deutsche tötet nicht, das ist ein Tabu, das machen nur die Ausländer! So! Wenn das die Denke ist, dann müssen wir uns doch nicht wundern, wenn wir keinen Schritt vorangekommen sind bei den Ermittlungen!"
Sieben Jahre lang wurden die Keupstraßenbewohner selbst verdächtigt, seit 2011 steht nach Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft fest, dass der NSU die Nagelbombe gezündet hat. Die Lücke, die seitdem entstanden ist und die seinem Theaterstück den Titel gegeben hat, würde Regisseur David Nuran Calis, der armenisch-jüdischer Abstammung ist, gerne schließen:
"Ja, das wär schon mein großer Wunsch. Im Moment ist es natürlich so, dass wir durch die Taten, die da passiert sind, mit den Leuten, mit denen wir versuchen, diesen Abend zu gestalten, gemerkt haben, dass ein Riesenriss durch uns durchgeht."
Diesen Riss hat auch Kutlu Yurtseven, einer der drei Laiendarsteller aus der Keupstraße, während der wochenlangen Proben gespürt, aber: Er bleibt gelassen.
"Wir müssen mehr miteinander reden"
"Man reibt sich, es fällt ganz viel Ballast ab, und es bleibt was Rohes und was Reines da. Und dahin müssen wir kommen. Wir können uns streiten, das ist doch gut! Im Türkischen gibt es ein Sprichwort, eine gute Freundschaft beginnt mit einem Streit... weil wir dann für uns auch merken, was wir alles nicht verstehen. Und ich glaube, dass das der Weg ist, wir müssen viel mehr miteinander reden."
"Es war ein Riesenschock für uns, als wir erfahren haben, dass es eine Bombe war."
Schauspielerin Annika Schilling steht allein auf der Bühne und rezitiert mit starrem Blick Vernehmungsprotokolle von damals.
"In den Tagen danach war kaum jemand auf der Straße. Erst wurde ja auch alles abgesperrt, und die ganze Zeit diese Totenstille. Die Leute hatten Angst, ich auch."
Die Bühne besteht aus zwei Zimmer-großen, nackten weißgetünchten Kästen, an den Seiten Sitzbänke. Zwischen den Kästen: Eine Lücke. Sie wird bis zur letzten Szene da bleiben, aber die sechs Darsteller rücken im Laufe des Abends immer näher zusammen.
"Wir drei Schauspieler... verstehen uns als Stellvertreter der Deutschen, der Zuschauer..."
...erzählt Ensemblemitglied Thomas während der Pause. Der 35-Jährige steht vor einer alten Lagerhalle, nur wenige hundert Meter von der Keupstraße entfernt. Hier hat "Die Lücke" Anfang Juni Premiere gefeiert – ein Stück, das weit mehr ist als bloßes Rollenspiel:
"Da ist schon auch viel Persönliches drin, total. Also wir haben eine dicke Mappe mit Material gekriegt, was wir gelesen haben, und aufgrund dessen haben wir eigentlich angefangen zu diskutieren..."
Keine Alibi-Türken auf der Bühne
Es ist 22 Uhr abends. Drei anstrengende Stunden haben Thomas Müller und seine Kollegen schon auf der Bühne gestanden, jetzt hängen die Krawatten der Schauspieler lose über dem Hemdkragen. Kutlu Yurtseven verbringt die Pause erschöpft, aber zufrieden in der Halle und erklärt, dass man anfangs eigentlich nur die Geschichte der Keupstraße auf die Bühne bringen wollte, aber dann kamen all diese Fragen, Auseinandersetzungen, Unterschiede:
"Was mich zum Beispiel total nervt, was uns immer angehaftet wird, ist zum Beispiel dieses Frauenbild. Als ich habe es nicht gerne, zu sagen, das ist eine Frau mit Kopftuch, und das ist eine ohne Kopftuch. Das ist mir vollkommen egal. Auch in dem Stück sind zweimal Frauen drin mit Kopftuch, aber es sind de facto starke Frauen, und darauf kommt's doch an, und nicht, ob sie ein Kopftuch hat oder nicht."
Er selbst stehe übrigens nicht als Alibi-Türke auf der Bühne, betont der 42-Jährige. Das ist ihm wichtig, denn über manche Aussage von Politikern, damals direkt nach dem Anschlag in der Keupstraße, hat sich Kutlu Yurtseven ziemlich geärgert.
"Es waren ja damals auch politische Größen da, die gesagt haben, ihr repräsentiert die Türkei gut... Ich repräsentiere nicht die Türkei. Ich repräsentiere die Menschen auf der Keupstraße und ich repräsentiere eine Kränkung, und versuche mit diesem Stück diese Kränkung wieder zu kitten und irgendwie doch mal mit Optimismus in die Zukunft zu schauen."
"Dann machen wir ab dem Moment weiter, wo das Pink Panther Video einsetzt, ja?"
Regisseur David Nuran Calis arbeitet auf der Bühne immer wieder mit Filmsequenzen. Szenen aus dem Bekennervideo des NSU-Trios, stumme Aufnahmen von der zerstörten Keupstraße: Sanitäter, Beamte von der Spurensicherung, blutüberströmte Menschen. Dazu eine verzerrte Tonspur.
Keine Belege für die Thesen der Polizei
Wie festgefroren harren die Schauspieler während der Filmeinspielungen aus. Dann kehrt wieder Leben in sie: Sie rennen oder fahren Fahrrad, so wie die mutmaßlichen Attentäter Mundlos und Böhnhardt. Alles kommt jetzt auf die Bühne: Ermittlungsfehler, falsche Verdächtigungen, Wut.
"Ziel einer Fallanalyse ist es ja, ein Täterprofil zu erstellen. Ein solches wurde auch 2007 vom LKA Baden-Württemberg erstellt, 200 Seiten. Und da steht drin, jedes der Opfer war Mitglied Organisierter Kriminalität. Belege für diese These haben wir nicht. Das heißt also, ich kann sagen, das sind alles Mörder. Ich hab zwar keine Beweise, aber das beweist gerade, was für clevere Mörder sie sind."
"Also mit diesem Projekt machen wir uns nicht nur Freunde, das ist klar. Es wird türkisch gesprochen, die Leute verheddern sich in ihren Lebensgeschichten... Aber ich finde nicht, dass das Opfer sind, die da auf der Bühne stehen. Sondern das sind Leute, die sich wehren."
...sagt Regisseur Nuran David Calis. Und weil "Die Lücke" eben keine Opfer-Schau sei, komme das Stück auch in der Keupstraße selbst gut an, ergänzt Laienschauspieler Kutlu Yurtseven.
Staatstheater Karsruhe: "Rechtsmaterial"
Von Uschi Götz
Von Uschi Götz
Schauspieldramaturg Konstantin Küspert bittet die Gäste an einen großen Tisch. Seine mit Wasser gefüllte Kaffeetasse stellt er vor sich hin und kommt gleich zur Sache:
"Wir haben unseren Abend Rechtsmaterial genannt und beschäftigen uns mit der Thematik NSU."
Vor jeder Aufführung findet eine 30minütige Einführung statt. Heute sind es gerade mal sechs Interessierte, die gekommen sind.
Zwei jüngere Frauen, ein Ehepaar Mitte 50 und zwei Männer mittleren Alters hören Dramaturg Küspert aufmerksam zu. Küspert, 32 Jahre alt, hat zusammen mit Regisseur Jan-Christoph Gockel und sieben Schauspielern über Monate für das Stück Rechtsmaterial recherchiert.
"Ich war insgesamt viermal beim Prozess. Wir waren bei der Generalbundesanwaltschaft, wir haben uns mit Journalisten getroffen, ich war beim Bundestagsuntersuchungsausschuss."
Während der Recherche stellten sie fest: Die Mordserie des NSU ist die Weiterführung einer langen Geschichte aus Morden und Anschlägen von Rechts. Regisseur Jan-Christoph Gockel hatte deshalb die Idee, das nationalsozialistische, antifranzösische Propagandastück Schlageter als dramaturgische Vorlage zu benutzen. Geschrieben von dem Nazi Hanns Johst, uraufgeführt im April 1933 in Berlin.
Bei der Umsetzung griffen Gockel und sein Dramaturg auf das von Berthold Brecht geschaffene Prinzip der Historisierung zurück. Diese Methode schaffe eine Distanz, Vorgänge die relativ nah an den Menschen sind, als Ganzes besser zu betrachten, erklärt Küspert bei der Einführung.
Ein Theatergast hakt nach. Der Mann Mitte 50 meint, ein Stück mit diesem Anspruch dürfe nicht nur Fiktion sein, könne aber auch nicht Realität abbilden:
"Also ist es da schon einmal ein ganz spannender Korridor durch den man gehen muss, um die Glaubwürdigkeit bis zum Schluss..."
Küspert: "Ja, total!"
Gast: "Nicht, dass es dann in eine Farce abgleitet."
Küspert: "Das ist genau der Punkt, das ist auch die Gradwanderung, gerade deswegen haben wir uns ja für die Methode der Historisierung entschieden, weil ich glaube, wenn wir darüber spekulieren würden, was bei denen im Kopf vorgeht...."
"...wäre das Kasperletheater", ergänzt der Gast. Schnell wird in der Runde klar: Dieses Theaterpublikum ist interessiert und informiert. Kurz vor Beginn der Vorstellung erklärt der Besucher aus der Einführungsrunde sein Motiv für den Theaterbesuch:
"Man will natürlich wissen, wie Kunst damit umgeht, weil das ist ja durchaus auch umstritten, ob man so etwas jetzt schon, wo es noch gar kein Endergebnis gibt, aufarbeiten soll."
Nur bei der Premiere war das Interesse groß
Das Stück Rechtsmaterial wird an diesem Abend zum zehnten Mal im Studio des Karlsruher Landestheaters aufgeführt. 130 Plätze gibt es, nicht einmal ein Drittel der Stühle sind besetzt. Das Interesse bei der Premiere war noch groß, dann war die Luft bald draußen. Vielleicht liegt es am schönen Wetter, an der Fußball-WM oder daran, dass das Thema rechter Terror gerade durch andere aktuelle Themen verdrängt wurde:
"Trotzdem habe ich das Gefühl, es ist besser es gemacht zu haben und es klingt so blöd, aber es ist besser, wir erreichen ein paar Leute damit und kommen mit denen ins Gespräch, als dass wir es zu sehr an den Massengeschmack anpassen und eine Poptheatervorstellung daraus machen."
Schulklassen kamen bislang nicht. Ein paar wenige Lehrer, die das Stück gesehen haben, wollten es nicht mit ihren Schülern besuchen:
"Die haben dann gesagt, sie haben nicht das Gefühl, dass das für ihre Schüler interessant ist, weil ja dann diese Bezüge sind zum Schlageter, zum Dritten Reich- Stück und über das wüssten sie ja gar nichts. Dann haben sie nicht verstanden, warum da jetzt der rosarote Panther plötzlich darin vorkommt. Also, wo man das Gefühl hat, da gibt es so ein eklatantes Fehlen für die Geschichte des NSU. Ich habe dann auch gesagt, ich mache selbstverständlich eine Einführung. Ja, aber nein, das verstehen die alles nicht. Da gehen sie lieber in Kabale und Liebe."
Etwa 30 Theatergäste, Altersdurchschnitt zwischen 50 und 60, warten in Karlsruhe darauf, dass es los geht. Auch ein paar junge Leute sind im Publikum:
"Meine Erwartung ist noch ein Stückchen Aufklärung, vielleicht von der anderen Seite. Und so ein Zurückrufen von den Sachen, die man einmal gehört oder gelernt hat."
Gleich am Anfang des Stücks geht's zurück: Weimarer Republik.
Das Stück ist keine seichte Unterhaltung
Gespielt wird auf einem eingezeichneten Grundriss. Es ist exakt die Wohnung der Terrorerzelle in Zwickau. Verblüffende Parallelen von früher zu heute tun sich von Szene zu Szene auf, ohne dass Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt zunächst erkennbar sind. Erschreckenderweise steht auch in dem Propagandastück "Schlageter" ein Trio, zwei jungen Männern und eine Frau - im Mittelpunkt der Handlung: In einer Art Metamorphose, begleitet von Videoeinspielungen und einer punktuell eingesetzten Live-Kamera, wird aus dem historischen Trio fast unmerklich die Terrorzelle "Nationalistischer Untergrund".
Zwei Stunden und 15 Minuten sind vorüber. Ohne Pause. Das Stück dient nicht zur Unterhaltung: Dieser Theaterbesuch ist Arbeit. Erste Reaktionen:
Umfrage im Theater:
"Sehr beeindruckend!"
"So ein komplexes Thema und es hat mir wirklich sehr weitergeholfen so eine Einsicht zu kriegen."
"Was ich jetzt eben sehr gut finde, was er ja auch verdeutlichen wollte, wie sozusagen das nationale Gedankengut weitergelebt hat und wo die Wurzeln waren und wie man sich vorstellen kann, wie es weitergetragen wurde auf den jetzigen Fall."
Fast alle Gäste bleiben zum anschließenden Publikumsgespräch. Ein waches Gespräch mit Dramaturg, Regisseur und Schauspielern folgt. Es wird deutlich: Die Schauspieler sind nicht kopflos in irgendwelche Rollen geschlüpft, vielmehr ist die Inszenierung das Ergebnis einer intensiven Recherche der Künstler die bis in die Weimarer Republik zurückführt. Die Diskussion wird um die Frage erweitert: wo der rechte Terror seine eigentlichen Wurzeln hat. Das Karlsruher Staatstheater hat für diese Diskussion eine kantige Vorlage geschaffen. Und das ist die Aufgabe von politischem Theater.