Kann Vergessen nicht auch heilsam sein?
In der alten Bundesrepublik wurde bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit vieles verschleppt. Umso eifriger stürzten sich viele Westdeutsche nach 1989 darauf, die SED-Herrschaft "aufzuarbeiten". Viele Ostdeutsche empfanden das als Bevormundung - zu Recht?
So gut wie jedem, der sich für die jüngere deutsche Geschichte interessiert, geht der Begriff 'Aufarbeitung' flüssig über die Lippen. Vielleicht etwas zu flüssig...
Geschichte aufarbeiten – kann man das überhaupt? Immerhin: 'aufarbeiten' klingt etwas bescheidener als 'bewältigen'. Der Begriff 'Vergangenheitsbewältigung', der in der alten Bundesrepublik lange gebräuchlich war, drückt einen allzu vermessenen Anspruch aus.
Aber auch der Begriff 'Aufarbeitung' mutet seltsam an. Die Vergangenheit aufarbeiten wie einen alten, renovierungsbedürftigen Sessel, das geht nicht.
Beschweigen – schamvoll und schamlos
Was geht – dafür gibt es keine passenden Bilder. Es gibt nur das Geschehen selbst, das man heute als 'Aufarbeitung' bezeichnet. Als nämlich das schamvolle und zuweilen schamlose Beschweigen der NS-Zeit und ihrer Verbrechen in den 60er-Jahren durchbrochen wurde...
Ein Prozess, der sich über Jahrzehnte hinzog, bis der bewusste, strapaziöse und selbstkritische Umgang mit dem NS-Staat und insbesondere mit dem Holocaust ein Teil der bundesdeutschen Staatsräson wurde. Das Berliner Holocaust-Mahnmal ist der berühmteste sichtbare Beleg für das mühsam erarbeitete Bekenntnis zu den Verbrechen in der eigenen nationalen Geschichte.
Bevormundung durch Aufarbeitung
In der DDR geschah nichts, was man als Aufarbeitung bezeichnen könnte. Mit der offiziellen Doktrin vom antifaschistischen Staat war die Vergangenheit bewältigt, um nicht zu sagen: entsorgt, und die finstere Erbschaft des Hitler-Reiches den Westdeutschen zugeschoben.
Nach 1990 jedoch wurde die DDR-Geschichte selbst zu einem Objekt der publizistischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die bald gigantische Ausmaße annahm.
Aber der Wille zur Auseinandersetzung alias 'Aufarbeitung' keimte nicht aus der Tiefe der Gesellschaft.
Es waren vielmehr die ehemaligen DDR-Bürgerrechts-Kreise und diverse öffentlich finanzierte Akteure aus dem Westen, die das SED-Regime und die DDR-Gesellschaft bis ins kleinste Detail unter die historische Lupe legten.
In den 90er- und frühen Nuller-Jahren schien es so, als wollten die Ausforscher der DDR unbedingt vermeiden und zugleich wiedergutmachen, was in Westdeutschland nach 1945 zunächst geschehen war: Verdrängung, Vertuschung, Vergessen.
Dass sich davon viele ehemalige DDR-Bürger schlicht bevormundet fühlten und in der notorischen Anprangerung des sozialistischen Unrechtsstaats ihre eigene Biografie herabgewürdigt sahen, muss man wohl als Kollateralschaden der eher fremdbestimmten Aufarbeitung ansehen.
Ist Erinnern immer produktiver als Vergessen?
Und so drängt sich der ketzerische Verdacht auf, dass Erinnerung und Auseinandersetzung nicht in jeder historischen Situation produktiver sind als Vergessen oder wenigstens Ruhenlassen.
Keine Frage, die frühe Geschichte der Bundesrepublik ist übel befleckt von der Tatsache, dass unzählige Menschen mit tiefbrauner Vergangenheit – Funktionseliten wie durchschnittliche Bürger – in der jungen Demokratie rasch wieder gute Plätze einnehmen konnten. Und dann erst einmal so taten, als wäre da nichts gewesen.
Andererseits wäre ohne sie, die nach Millionen zählen, der neue Staat ab 1949 kaum möglich gewesen. Und in der schwarz-braunen Adenauer-Ära bildete sich trotz allem eine recht passabel funktionierende Demokratie aus.
Hätte man also nach 1990 die Auseinandersetzung mit der DDR besser ruhen lassen?
So weit das kulturelle Gedächtnis Europas reicht, lag die Kunst des Erinnerns, ars memoriae, stets im Wettstreit mit der Kunst des Vergessens, ars oblivionis.
Erst im 20. Jahrhundert hat das Vergessen seine Unschuld verloren, und heute gilt es als politisch unkorrekt.
Aber ist das der Weisheit letzter Schluss?