2019 gab es zwei bedeutende Jahrestage der Kolonialgeschichte: Die 135. Wiederkehr des Beginns der Berliner Afrika- oder
"Kongo"-Konferenz am 15. November. Sie steht global für die Aufteilung Afrikas. Und
der 100. Jahrestag des formalen Endes des deutschen Kolonialreiches mit dem Frieden von Versailles am 11. November.
Beides sind Daten von erheblicher symbolischer Bedeutung. Im öffentlichen, insbesondere im politischen Diskurs, blieben sie letztes Jahr weitgehend unbeachtet.
Die Kultur diskutiert - die Politik schweigt
Dabei ist das Interesse am deutschen Kolonialismus derzeit größer als es dies seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges jemals war. Die koloniale Amnesie, die in Deutschland so lange herrschte, schwindet allmählich.
Amnesie ist das nicht, das ist Verdrängung!
Die Kontinuität kolonialer Positionen
Dabei wäre heute eine kritische Auseinandersetzung mit Deutschlands kolonialem Erbe, das ja weit über die 30 Jahre formaler deutscher Kolonialherrschaft hinausreicht, notwendiger denn je. Sie wäre besonders notwendig in einem Deutschland, in dem wieder offen rassistische Positionen artikuliert und als politische Gestaltungsvorschläge diskutiert werden, in dem latent koloniale Positionen allerorten markiert werden können.
Eigentlich hatte die Große Koalition die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit zum Regierungsziel erhoben, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik.
Allerdings scheint dabei sehr Widersprüchliches Hand in Hand zu gehen: In der politischen Rhetorik reklamiert man koloniale Aufarbeitung. In der Außen- und Sicherheitspolitik, in der Flüchtlings- und Klimapolitik bewegt man sich hingegen innerhalb kolonialer Vorstellungs- und Diskurskontinuitäten.
Auseinandersetzung wird an Gremien delegiert
Zwar gelang es in den letzten Jahren insbesondere zivilgesellschaftlichen Gruppen und der Wissenschaft eine Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe zu erzwingen. Allerdings, und das erweist sich nun als Hypothek, verschob die Politik die Frage kolonialer Aufarbeitung in den Bereich des Kulturellen und buchstäblich ins Ausland.
Über einzelne Objekte wird ausführlich diskutiert, mit der ganzen Welt Museumsgespräche werden geführt.
Bundestagsdebatten zum Thema dauern dagegen nur 30 Minuten und finden spät abends statt.
Die breite politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Folgen des Kolonialismus, die kulturellen, sozialen, ökonomischen und Wissens soziologischen ist nicht gewollt. Man entsorgt sie in Gremien, Kommissionen und Förderzentren.
Unser Wohlstand beruht auf Ausbeutung
Über die Gründe kann man spekulieren: Ist es die generelle Entpolitisierung des Politischen in der Ära Merkel?
Oder ist es die Angst vor einem Querschnittsthema, das viele Fragen in einen Zusammenhang bringt? Fragen der Identität, des Rassismus, der globalen sozialen Ungleichheit, der Klimapolitik - Fragen der Geflüchtetenpolitik im Mittelmeer und Fragen der Entwicklungs- und Sicherheitspolitik. In einen Zusammenhang, in dem die Privilegien der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft allerdings noch privilegierter erscheinen. Wo offen zutage träte, auf welchen rassistischen und ausbeuterischen Grundlagen der Wohlstand Deutschlands, ja Europas, beruht, und dies nicht nur historisch.
Da ist man dann doch lieber dazu bereit, einzelne Stücke kolonialer Beutekunst zurückzugeben, als die grundsätzlichen Fragen der Zukunft anzugehen. Eine wirkliche Dekolonisation muss die Menschen in den Vordergrund rücken, nicht (nur) Objekte.