Aufarbeitung

Gauck: Starke Impulse aus der jungen Generation

Bundespräsident Joachim Gauck (M) wird am 06.05.2014 im Karolinum der Karls-Universität in Prag empfangen.
Bundespräsident Joachim Gauck hält anlässlich seines Staatsbesuchs in Tschechien eine Rede in der Prager Karls-Universität. © dpa / Wolfgang Kumm
Moderation: Dirk-Oliver Heckmann |
Unter jungen Tschechen gebe es die Bereitschaft, sich mit der Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg zu beschäftigen, sagte Bundespräsident Joachim Gauck nach seinem Staatsbesuch in Tschechien. Allerdings könne noch nicht "jeder in gleicher Weise dieses Leid auch würdigen".
Dirk-Oliver Heckmann: Herr Bundespräsident, die Vergangenheit hat eine große Rolle gespielt bei diesem Besuch. Im Jahr 2012 waren Sie in Lidice, um der Opfer eines NS-Massenmordes zu gedenken. Diesmal waren Sie in Theresienstadt. Was sagen Sie Leuten, die fragen, ob solche Gesten heute noch nötig sind?
Joachim Gauck: Ja, die Vergangenheit, die soll ja immer möglichst schnell vergehen. Aber wir spüren, wie tief sich Verletzungen, Verbrechen, Traumata eingraben in das kollektive Gedächtnis von Nationen, und wir sehen auch unterschiedliche Formen der Verarbeitung. Es gibt Menschen oder Gruppen, die verharren im Dauergroll, und es gibt Menschen, die können auf eine wunderbare Weise wieder Brücken bauen zum Leben. Und es war wirklich wieder total bewegend, hier in Theresienstadt auf zwei alte Herren zu treffen, die als junge Burschen einmal Insassen des Lagers waren und gedemütigt, ausgebeutet wurden und mit Mühe überlebt haben. Auch in anderen Lagern waren sie. Und sie schauen einen an, reichen einem die Hand, umarmen einen und erzählen, wie sie anderen von ihren Lebenswegen erzählt haben. Und da ist das Gegenteil dieses Dauergrolls. Da ist ein Ja zum Leben gewachsen, trotz all dieser Katastrophen.
All das steckt in uns Menschen drin als Möglichkeit, uns selber in einer Dauergefangenschaft zu belassen, oder diese Ketten von schmerzvollen Erfahrungen zu brechen und dann das Leben dort aufzusuchen, wo es gegenwärtig passiert. Und das, angesichts dieser vielen Toten dann diese lebendigen alten Gesichter zu sehen mit ihrer Bereitschaft, Brücken der Freundschaft zu bauen, - es ist einfach so bewegend, dass man spürt: Nein, immer noch begegnen wir dieser unguten Vergangenheit.
Heckmann: Die Nazi-Vergangenheit ist das eine, die Nazi-Verbrechen. Damit unmittelbar verbunden aber natürlich auch das Thema Vertreibung. Sie haben das Thema mehrfach angesprochen hier in Tschechien, angetippt vielleicht, kann man auch sagen. Weshalb ist Ihnen das wichtig und sehen Sie die Gefahr, dass man auf diese Weise deutsche Schuld relativiert?
"Sich einen eigenen Zugang erschlossen"
Gauck: Nun, ich glaube nicht, dass irgendeiner die Art, mit der ich das Thema hier angesprochen habe, als Relativierung verstehen würde. Die Gefahr besteht auch nicht, weil durch den erwähnten Besuch in Lidice ich von vornherein gesagt habe, wo für mich die Schwerpunkte liegen. Nun bin ich dieses Mal hier gewesen in den Tagen, da die Tschechen und die Prager insbesondere ihrer Befreiung gedenken. Und das war für mich auch ein Grund, das unendliche Leid der vertriebenen Deutschen nicht zu einem Schwerpunktthema zu machen. Ich wollte es als Teil dieses Besuches sehen, habe aber davon abgesehen, dann an Orte des Schreckens zu gehen, und habe einen anderen Weg gewählt.
Ich habe mich im Rahmen dieses Besuches getroffen mit jungen Menschen hauptsächlich, die einen eigenen Zugang zu dieser schmerzvollen Geschichte der eigenen Nation sich erschlossen haben – manchmal nur aus Neugier, manchmal aus dem Bewusstsein, was in den Familientraditionen alles verborgen ist, und manche aus christlicher Barmherzigkeit, manche aus politischer Korrektheit und andere, weil sie einfach wissen wollen. Und da ist jetzt etwas passiert in den letzten Jahren in der tschechischen Gesellschaft, dass mehr und mehr dieses Ansprechen des Leides der vertriebenen Deutschen möglich ist, dass Gedenkorte geschaffen werden. Das alles ist noch nicht völlig so, dass jeder in gleicher Weise dieses Leid auch würdigen kann, aber aus der jungen Generation gehen da starke Impulse hervor.
Heckmann: Wie hat denn die offizielle tschechische Seite reagiert darauf, dass Sie dieses Thema häufiger angesprochen haben?
Gauck: Ich denke, Sie kennen mich ein wenig und wissen, wie sehr ich eine solche Thematik einfach nicht benutzen kann als Relativierung. Und ich habe versucht - das tue ich auch auf anderen Politikfeldern - zu sagen, das nationale Firmenschild, wie schneiden die Deutschen ab im Vergleich zu den Tschechen in dieser und in jener Phase, das interessiert mich weniger. Mich interessiert, wo gehen wir mit den Werten, die uns gemeinsam prägen, Mitmenschlichkeit, Rechtsstaat, Respekt vor der Würde eines Menschen. Das sind Werte, die wir hier miteinander teilen in Europa. Und wenn es so ist, sind das Werte, die uns stärker binden und prägen sollten, als nur unsere Nationalflagge oder unser Nationalbewusstsein. Das Bewusstsein, ich bin ein Mensch und mein Gegenüber ist ein Mensch und ihm eigen ganz originäre Rechte, sollte doch stärker sein als die nationale Einfärbung unseres Menschseins. Und meine Gesprächspartner, glaube ich, verstehen das und ich muss mich nicht fürchten, da irgendwie dazustehen als einer, der die deutsche Flagge schwenkt in der Absicht, andere Flaggen zu überdecken.
"Viele Entwicklungen in der Politik der Türkei demokratiegefährend"
Heckmann: Letzte Frage: Sie haben bei Ihrer letzten Reise in die Türkei einen relativ großen Wirbel ausgelöst mit Ihrer Kritik. Ich erwarte nicht, dass Sie das jetzt kommentieren noch einmal, was in der letzten Reise passiert ist. Aber grundsätzlich gefragt: Wie wichtig und wie richtig ist es, Missstände in anderen Ländern anzusprechen?
Gauck: Nun, wenn man selber herkommt und ist der Erfinder einer kritischen Debatte, das kann nicht funktionieren und das ist mir auch noch nie passiert. Sondern es ist so: Wenn ich die Debatten, die innerhalb der Gesellschaft, die ich besuche, wenn ich die kenne, wenn ich sie mir angeeignet habe, wenn ich mir von Fachleuten habe erklären lassen, wie ist die aktuelle Situation in dem Land, in dem ich besuche. Dann entschließe ich mich, nicht nur die Einschätzung der Regierenden zum Maßstab meiner Dialoge zu nehmen, sondern auch der Regierten. Und unter diesen Regierten sind sehr viele, die sich übrigens auch mit ihrer Verwandtschaft oder persönlich in Berlin und in Deutschland befinden, die ganz deutlich sagen, dass bestimmte Entwicklungen in der Politik der Türkei der letzten Jahre für ihren Geschmack demokratiegefährdend sind. Die sagen das viel deutlicher als ich. Und wenn ich der Auffassung bin, dass ich als Hauptbeweggrund in der Politik nicht nur nationale Interessen, sondern die Sicherung von Mindeststandards von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit halte, dann muss ich das im Inland wie im Ausland auch vertreten können. Und dann versucht man, Worte und Argumentationsketten zu entwickeln, in dem die Anerkennung und der Respekt vor dem anderen seinen Platz hat, aber auch der eigene Blick, gestützt von den Empfindungen und von den Analysen der dortigen kritischen Gesellschaft. Genau das habe ich getan und ich bin dankbar, dass die übergroße Mehrheit der deutschen Medien das auch so rezipiert hat.
Heckmann: Herr Bundespräsident, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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