Aufarbeitung in Frankreich und Deutschland

"Erinnerungspolitik ist eine wichtige Waffe gegen Rechtspopulisten"

Die Lichtwochen in Essen erinnerten 2013 an den Elysée-Vertrag von 1963, geschlossen von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer.
Die Lichtwochen in Essen erinnerten 2013 an den Elysée-Vertrag von 1963, geschlossen von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer. © dpa / picture alliance / Movementway
Géraldine Schwarz im Gespräch mit Frank Meyer · 28.08.2018
Der deutsche Großvater ein Profiteur der Arisierung, der französische Großvater ein Handlanger des Vichy-Regimes: Anhand ihrer eigenen Familiengeschichte untersucht Géraldine Schwarz die Aufarbeitung in beiden Ländern. Und betont, warum Erinnerungspolitik so wichtig ist.
Frank Meyer: "Die Gedächtnislosen", so heißt ein Buch der französischen Autorin Géraldine Schwarz, und da erzählt sie von ihren beiden Familien – von einer gewöhnlichen deutschen und einer gewöhnlichen französischen Familie, ein Mitläufer der Nazis hier, ein Gendarm im Dienste von Vichy dort, so schreibt sie das selbst. Géraldine Schwarz ist Jahrgang 1974, sie hat eine französische Mutter, einen deutschen Vater, ist in Frankreich aufgewachsen, und jetzt ist sie hier bei uns im Studio. Seien Sie willkommen, Frau Schwarz!
Géraldine Schwarz: Guten Tag, Frank Meyer!
Meyer: Wie stellt man sich der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, und zwar in Deutschland und in Frankreich, das ist ja so das Generalthema Ihres Buches, ein großes Thema natürlich, gerade wenn man sich das für diese beiden Ländern anschaut, und Sie gehen sogar noch darüber hinaus. Warum haben Sie denn dieses große Thema schultern wollen?
Schwarz: Der Anstoß für das Buch war ein Gefühl der Dringlichkeit, die Dringlichkeit angesichts der wachsenden Skepsis gegenüber der Demokratie, gegenüber Europa auch und auch dieser wachsende Erfolg des Rechtspopulismus und des Modells einer autoritären Staatsführung. Und diese Entwicklungen machen mir natürlich Angst, weil sie gefährden eine Welt, in der ich aufgewachsen bin, die zwar ihre Schwächen hat, aber natürlich identifiziere ich mich sehr mit dieser Welt.
Ich bin ja Deutsch-Französin, ich bin sozusagen ein Kind der deutsch-französischen Versöhnung, und mir war schon sehr früh bewusst, dass diese Welt, in der wir leben, sehr davon abhängt, ob man sich erinnern kann. Ich hab das Gefühl, dass dieses Erinnern zurzeit gefährdet ist, und deshalb hab ich das Buch "Die Gedächtnislosen" geschrieben.

Selbstmitleid und Mangel an Empathie

Meyer: Sie schauen sich das wie gesagt anhand Ihrer beiden Familiengeschichten an. Wenn wir erst mal auf die deutsche Seite schauen: Ihr Großvater und die Familie Ihres Großvaters hat offenbar profitiert von der "Arisierung" eines jüdischen Unternehmens in der Nazizeit, er hat einem jüdischen Eigentümer eine Firma abgekauft, 1938. Wie ist Ihr Großvater und Ihre Familie, wie sind die denn umgegangen mit dieser eigenen Geschichte?
Schwarz: Es gibt ja zwei Etappen. Die erste Etappe ist dieser Kauf eines jüdischen Unternehmens 1938, und das Zweite, was ich gefunden habe im Keller des Familienhauses in Mannheim ist ein Briefwechsel, ein Briefwechsel aus der Nachkriegszeit, wo ein Überlebender dieser Eigentümerfamilie, Julius Löbmann, aus Chicago Reparationszahlungen fordert von meinem Großvater.
Und mein Großvater hat glücklicherweise diese Briefe behalten und auch seine eigenen Briefe, die sehr geprägt sind von einem Mangel an Empathie, Selbstmitleid, und natürlich weigert er sich, diese Summe zu zahlen, und sein Ton ändert sich auch. Am Anfang ist er eigentlich anständig, und dann dreht er die Rollen um und wird eigentlich zum Opfer des jüdischen Gauners.
Meine Großeltern haben nach dem Krieg eigentlich natürlich überhaupt keine Verantwortung anerkannt, was ihre Rolle unter dem Dritten Reich betrifft, und ich hab mir die Frage gestellt, ob das symptomatisch war für die deutsche Gesellschaft damals in den 50ern. Und das war symptomatisch für die deutsche Gesellschaft in den 50ern. Diese Haltung war auch untermauert von einer Politik unter Adenauer, der die Deutschen als unschuldig darstellen wollte, und deshalb gab es auch diesen Mythos der Unschuld der Deutschen in den 50ern.

68er besessen von der Nazi-Zeit

Meyer: Das hat sich ja dann geändert, auch darüber schreiben Sie, mit der 68er-Bewegung spätestens, und Sie schreiben darüber unter einer Kapitelüberschrift, die ist interessant, die heißt nämlich "Von der Verdrängung …", natürlich 50er-Jahre, Verdrängung, "…zur Besessenheit". Was meinen Sie denn damit, Besessenheit?
Schwarz: Also ein zentraler Punkt der Studentenbewegung war natürlich die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, und man hat sich die Frage gestellt: Was haben meine Eltern in dieser Zeit gemacht? Man hat auch einen Staat infrage gestellt, der die Henker protegiert hatte. Und ein Teil dieser Bewegung hat sich dann radikalisiert, und man hat die BRD zunehmend mit dem Dritten Reich verglichen.
Und mit dieser Logik gab es nur eine Lösung für diese Radikalen, das war der Umsturz des politischen Regimes. Und so entstanden terroristische Gruppen wie die RAF, und die RAF hat sich eigentlich so ein bisschen so als Widerstand verstanden, ein Widerstand, der unter dem Dritten Reich gefehlt hat, und war auch von einem Teil der Bevölkerung unterstützt, die von dieser Amnestie der Nachkriegszeit zu einer regelrechten Jagd gegen Faschisten übergegangen war.
Das heißt, man sah Faschisten hinter Banken, Konsumtempeln, Armee, den Medien und sogar der parlamentarischen Demokratie, und deshalb diese Besessenheit. Aber trotzdem war am Ende der 70er-Jahre die Bilanz ziemlich positiv für Deutschland, weil die BRD hatte bewiesen, dass trotz dieser Herausforderung sie ihre Demokratie bewahren konnte.

Der falsche Gründungsmythos der Franzosen

Meyer: Jetzt ist gerade für die deutsche Perspektive ja interessant an Ihrem Buch, dass Sie das vergleichen, wie wird in Deutschland und in Frankreich unterschiedlich umgegangen mit der Vergangenheit. Und wenn ich's mal ganz grob fassen sollte, sagen Sie: Also es gibt in Deutschland einen sehr viel intensiveren und schon länger anhaltenden Umgang mit den schwierigen, problematischen Seiten, verbrecherischen Seiten der eigenen Geschichte als in Frankreich, aber es gibt auch andere Akteure, es funktioniert anders, wie die Erinnerung getragen wird, wer eigentlich erinnert. Können Sie uns diese Unterschiede erläutern, was da in Frankreich anders ist?
Schwarz: Ja, vielleicht kann ich kurz auch diese Erinnerungsgeschichte skizzieren. Ich weiß nicht, ob die Deutschen das kennen, aber nach dem Krieg gab es einen Gründungsmythos in Frankreich. Dieser Gründungsmythos war, dass der Großteil der Franzosen Widerstand geleistet hat. Charles de Gaulle, General de Gaulle hat da einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet. Er hat erklärt, dass Vichy nie Frankreich repräsentiert hätte.
Meyer: Vichy, um das ganz kurz in Erinnerung zu rufen, war der nicht besetzte Teil Frankreichs, der gleichwohl ja abhängig war von den Deutschen.
Schwarz: Genau, das Vichy-Regime, das mit Deutschland kollaboriert hat, und dass dieses Regime eigentlich nur von einer kleinen Gruppe von Kriminellen geführt wurde und dass es nicht von der französischen Bevölkerung unterstützt war und dass die Republik eigentlich nie aufgehört hat zu existieren durch den Widerstand. Und dieser Mythos brach dann zusammen in den 70er-Jahren, als ein amerikanischer Historiker, Robert Paxton, ein Buch veröffentlichte, wo er erklärte, dass eigentlich nie mehr als zwei Prozent der aktiven erwachsenen Bevölkerung dem Widerstand angehört hatte.
Und dass auch die Kollaboration von Vichy ausging und nicht von Deutschland, und dass damit eigentlich Frankreich dann direkt zum Komplizen der Verbrechen, der deutschen Verbrechen geworden ist.
Das war natürlich ein Schock für Frankreich, aber das hat trotzdem noch 15 Jahre gedauert, bis der Präsident Jacques Chirac 1995 zum ersten Mal als Staatsführer anerkannt hat, dass Vichy doch Frankreich war, also dass dieses Verbrechen ein Teil der französischen Geschichte ist. Und deshalb, die Erinnerungsarbeit in Frankreich ist intensiv, es gibt sie, aber der Unterschied ist, dass man von Erinnerungspflicht spricht – devoir de mémoire. Das drückt auch schon die Rolle des Staates aus. Der Staat greift ein, ziemlich stark, die Historiker haben auch eine Rolle.
In Deutschland wurde diese Vergangenheitsbewältigung von zahlreichen Akteuren getragen, die aus verschiedenen Feldern stammen. Und der andere Unterschied ist auch, in Deutschland hat man sich auch sehr dafür interessiert, wie man zum Täter wird, zum Mitläufer wird, wobei man damit schon ein kritisches Denken fördert, also dass man sich auch mit dem Mitläufer identifizieren sollte und nicht nur mit den Opfern. Und das ist in Frankreich, die Bevölkerung in Frankreich, die Haltung der Bevölkerung – dieses Thema wurde vermieden.

"Die DDR hat nie Verantwortung übernommen"

Meyer: Wenn Sie jetzt sagen – und das tun Sie öfter in Ihrem Buch –, dass der deutsche Umgang mit der Vergangenheit, mit der Nazigeschichte etwas Vorbildliches hat in gewisser Weise, wie erklären Sie sich dann aber den Aufstieg auch des Rechtspopulismus, eben auch in Deutschland seit einiger Zeit?
Schwarz: Ja, also es gibt mehrere Gründe. Erst mal ist Deutschland ja umgeben, schon seit Jahren umgeben von Ländern, wo rechte Bewegungen normalisiert werden. Dann gab es natürlich die Flüchtlingskrise und der islamische Terror, der Rechtsbewegungen gedient hat.
Aber trotzdem merkt man, dass die Erinnerungsarbeit eigentlich doch eine Rolle spielt, weil ich glaube, ohne diese Erinnerungsarbeit wären die Ergebnisse einer Partei wie der AfD noch besser oder noch schlimmer, und es gibt zwei Hinweise dafür, denke ich. Das Erste ist, dass in den ehemaligen Bundesländern die Ergebnisse der AfD in den letzten Wahlen zweimal besser waren …
Meyer: Sie meinen in den neuen Bundesländern.
Schwarz: In den neuen Bundesländern, und es gibt viele Gründe dafür, aber Tatsache ist, dass in der DDR eine irreführende Erinnerungspolitik geführt worden ist und in keiner Weise Verantwortung übernommen worden ist für die Verbrechen des Dritten Reiches.
Und ein anderer Hinweis dafür ist – dafür, dass die Erinnerungspolitik mit ihrer Erinnerungsarbeit eine wichtige Waffe ist gegen Rechtspopulisten –, dass die Rechtspopulisten sich sehr mobilisieren gegen diese Erinnerungsarbeit. Björn Höcke forderte "eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad". Und wenn man einen Schlussstrich, wie sie das verlangen, zieht unter die Vergangenheit, dann gefährdet man dieses demokratische Erbe, das aufgearbeitet worden ist, für die nächsten Generationen.
Meyer: Darüber schreibt Géraldine Schwarz in ihrem Buch "Die Gedächtnislosen". Das wurde aus dem Französischen übersetzt von Christian Ruzicska, im Secession-Verlag ist das Buch erschienen mit 380 Seiten, 25 Euro ist der Preis. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema