Opfer mit Verfallsdatum?
Politische Häftlinge, die in der DDR hinter Gitter saßen, können noch bis Ende 2019 die gegen sie verhängten Urteile überprüfen und aufheben lassen. Doch dieses Recht auf Rehabilitierung soll Ende 2019 auslaufen. Ein Fehler im System, sagen Kritiker.
Zu Besuch im Rostocker Gebäude der "Maritimen Societät". Ein Schild "Beratung Stasi-Akten" weist die Besucher ins zweite Geschoss.
"Guten Tag! Bin ich hier richtig oder bei wem muss ich mich melden?"
"Genau, wenn Sie einen Antrag auf Akteneinsicht stellen wollen oder ansonsten eine Beratung zu dem Thema haben wollen, sind Sie genau richtig hier ..."
"Ich will Ihnen etwas zeigen."
Einmal monatlich in die Innenstadt
Einmal monatlich kommen zwei Mitarbeiter der Rostocker Stasi-Unterlagenbehörde in die Innenstadt, um für Ratsuchende leichter erreichbar zu sein als an ihrem Dienstsitz in Waldeck. Sie hören Geschichten, die in einem längst versunkenen Staat spielen und denen sich viele Menschen erst jetzt wieder nähern wollen. Nähern können.
"Ich werde das mal ein bisschen aufschreiben, dass Sie praktisch vermuten, dass in Ihrer Geburtsstadt Informationen über Ihre Person gesammelt wurden, die möglicherweise gegen Sie verwendet wurden, ja?"
"Ja, genau."
Im Nebenraum will derweil der Leiter der Rostocker Außenstelle, Volker Höffer, wissen, wie dieser Nachmittag bislang gelaufen ist.
Höffer: "Herr Schäfer, wie ist denn die Resonanz jetzt?"
Schäfer: "Also wir haben insgesamt 15 Anträge. Ich bin sehr zufrieden, hatte gute Gespräche."
Die Frist läuft Ende 2019 aus
Volker Höffer weiß, dass Opfer von SED-Unrecht bzw. deren engste Angehörige nach jetzigem Stand nur noch bis Ende kommenden Jahres einen gesetzlichen Anspruch auf Akteneinsicht, Rehabilitierung und Wiedergutmachung geltend machen können. Viele Betroffene hätten diese Möglichkeit längst genutzt. Aber:
"Also es ist mitnichten so, dass alle, die es hätten können, entsprechende Rehabilitierung beantragt haben, Wiedergutmachung beantragt haben. Da gibt es irgendwo so ´ne Melange zwischen Scham, verdrängen, um das zu bewältigen, und auch erst vielleicht jetzt mit diesem lang-, langjährigen Abstand, sich dessen wieder anzunehmen."
Allein im vergangenen Jahr gingen in Mecklenburg-Vorpommern etwas mehr als 1000 Anträge auf Akteneinsicht ein. Von Menschen, die aus politischen Gründen in Psychiatrie, Umerziehungsheim oder Jugendwerkhof zwangseingewiesen worden waren. Die in Stasi-Akten nach Belegen dafür suchen, dass auch sie als junge Leistungssportler zwangsgedopt wurden. Oder die erst jetzt ins Rentenalter kommen und mit dem Blick auf ihren Rentenbescheid spüren, welche finanziellen Langzeitfolgen ihre beruflichen Fehlzeiten und Karriereknicks haben, weil sie zu DDR-Zeiten politisch bedingt verurteilt, strafversetzt oder degradiert worden waren.
"Also ich erinnere mich an eine Dame. Ganz still, ganz zurückhaltende Dame. Die musste sich im Zuge ihrer Kontenklärung für die Rente mit dieser Zeit ihrer Haft in Hoheneck auseinandersetzen und hatte nichts beantragt, weil sie das einfach für sich verschlossen hatte, abgeschlossen hatte. Vergraben und verbuddelt. Und jetzt eben nachweisen musste, was in diesen zweieinhalb Jahren gewesen ist und warum und weshalb. Dann haben wir ein über einstündiges Beratungsgespräch angeschlossen, wo es tatsächlich darum ging, ihr erst mal zu zeigen, was es gibt: U-Haft-Entschädigung, Rentenantragstellung usw. Und das sind nicht nur Einzelfälle."
Kann man den Umgang mit solchen oft traumatisierenden Lebensbrüchen in Fristen packen? Im Moment lautet die Frist 31. Dezember 2019. Haben Opfer von Unrecht in der DDR ein Verfallsdatum?
"Für mich persönlich gibt es keine Opfer mit Verfallsdatum", sagt Katy Hoffmeister (CDU), 1973 geboren in Kühlungsborn und heute Justizministerin von Mecklenburg-Vorpommern.
"Also mein Ziel wäre tatsächlich eine Entfristung, weil ich glaube, dass man keinen zeitlichen Druck besonders ausüben kann. Wenn wir uns angucken, wie das in Mecklenburg-Vorpommern aussieht mit den Anträgen, dann stellen wir einfach fest, dass wir nach wie vor Anträge bekommen. Und zwar nicht unwesentlich abweichend von vor zehn Jahren oder von vor zwanzig Jahren. Das bedeutet, dass sich eben der Einzelne noch damit auseinandersetzt, aber vielleicht noch längere Zeit braucht, um am Ende den Schritt zu gehen und einen Antrag auf Rehabilitierung zu stellen."
Verlängerung oder Entfristung?
Auch die Bundespolitik hat das Problem mittlerweile erkannt. Der Koalitionsvertrag von Union und SPD stellt eine Fristverlängerung bis 2030 in Aussicht. Doch die Schweriner Justizministerin will eine komplette Entfristung und hat darum mit ihren ostdeutschen Amtskollegen eine entsprechende Bundesratsinitiative in Gang gebracht.
"Natürlich kann man dem immer entgegenhalten: Es ist Infrastruktur vorzuhalten, es ist Personal vorzuhalten, um die Anträge zu bearbeiten. Aber das ist genau die Kernfrage: So lange es Opfer gibt, die Ansprüche geltend machen können, möchte ich dafür sorgen, dass diese Oper diese Ansprüche auch geltend machen können und eine sachgerechte Bearbeitung ermöglicht wird. Bitte keine Opfer mit Verfallsdatum produzieren!"
Was auch der Fall wäre, wenn die nächsten Angehörigen nicht mehr für eine posthume Schicksalsklärung bzw. Rehabilitierung bereits verstorbener Unrechtsopfer sorgen könnten.
Zu Besuch im mecklenburgischen Plau am See bei Helga Gebert, geborene Janssen.
Gebert: "So, hier. Hier muss ich drunter graben. Ich habe das ja gerade in der Hand gehabt neulich. Ah, hier isses ja schon."
"So, Sie haben hier so einen grünen Aktendulli vor sich. Da steht drauf?"
Gebert: "`Urkunden Familie Janssen`, `Vatis Briefe aus Brandenburg`, `Urnenbeisetzung` und `BSU seit November 2014`."
BSU steht für Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen der DDR. An die wandte sich Helga Gebert erstmals vor vier Jahren, nachdem sie in der "Schweriner Volkszeitung" über ein Beratungsangebot in der Nachbarstadt gelesen hatte.
"Und da sagte mein Mann: Da fahren wir jetzt mal hin. Und dann waren da Himmel und Menschen. Der ganze Flur stand voll und ich kam dann zu Frau Ortmann rein. Und dann habe ich ihr auch so erzählt in diesen Bruchteilen, wie ich das erlebt habe, wann das war. Und dann hat die sich da unheimlich bemüht."
Zu Unrecht verhaftet und verurteilt
Was die Schweriner Mitarbeiterin der Stasi-Unterlagenbehörde hörte, war die Geschichte der Familie Janssen. Im Juni 1953 lebt sie in Halle/Saale. Die Mutter ist zu Hause, der Vater arbeitet als sogenannter Aufbauleiter im heutigen Eisenhüttenstadt - damals noch Stalinstadt. Doch dann:
"Als ich von der Lehre nach Hause kam am Wochenende - ich lernte außerhalb von Halle an der Saale und war 15 Jahre alt -, da hieß es: `Vati kommt nicht mehr. Vati ist nicht da.` Meine Mutti erfuhr dann auf großen Umwegen, dass der Vati verhaftet worden ist."
Das Bezirksgericht Frankfurt/Oder verurteilt Martin Janssen zu "lebenslänglich", später reduziert auf 15 Jahre Zuchthaus. Er kommt nach Brandenburg und stirbt 1963 in Haft. Es werden 62 Jahre vergehen, bis Helga Gebert einen der wertvollsten Briefe ihres Lebens erhält.
"So, das ist das Rehabilitierungsverfahren: `Landgericht Frankfurt/Oder. Beschluss`. Am 28.04.2015 ist beschlossen worden, dass die Rehabilitierung für meinen Vater gekommen ist."
Das Juristendeutsch: sperrig. Die Sätze: lang. Doch die Botschaft am Ende: unmissverständlich.
"Das Urteil des Bezirksgerichts Frankfurt/Oder vom 2.11.1953, durch das der Betroffene wegen Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Kriegshetze sowie Gefährdung des Friedens gemäß § so und so Verfassung der DDR in Verbindung mit der Kontrollratsdirektive 38 Abs. 2 Artikel 3 zu lebenslangem Zuchthaus sowie Vermögenseinziehung verurteilt worden ist, wird gemäß strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes für rechtsstaatswidrig erklärt und aufgehoben."
Die 70-jährige Plauerin findet es richtig, die Rehabilitierungsgesetze zu entfristen. Auch sie habe ja sehr lange gebraucht, um sich dem schrecklichen Schicksal des Vaters zu stellen, der Ungewissheit bei der Schicksalsklärung zu stellen, sagt Helga Gebert. Wer wisse schon, ob man aushalte, was einem die Akten offenbaren? Und doch:
"Wenn es jetzt noch Menschen gibt, die gern auch ihre eigene Geschichte aufgearbeitet haben möchten, dann könnte ich denen wirklich nur gut zuraten, das jetzt noch in Anspruch zu nehmen. Und wenn das so käme bei jemandem, da kann ich nur sagen: Der kommt zu einem Punkt, wo er zur Ruhe kommt und diese Sache irgendwann jetzt mal zum Abschluss bringen kann."