Aufgearbeitete Spitzelgeschichte
"Der Schuss": So ist der erste von drei Teilen dieses Buches betitelt. Kellerhoff lässt den 2. Juni 1967 Revue passieren, den Tag des Schah-Besuchs, an dessen Ende der West-Berliner Polizeibeamte Karl-Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg erschoss und damit die Radikalisierung der Studentenbewegung auslöste.
Das ist vielhundertmal dargestellt worden, trotzdem nicht ganz uninteressant, denn Kellerhoff beschreibt den Tag vorwiegend aus der Perspektive der Sicherheitsorgane, der Politik und der (Springer-)Presse. Insofern ist diese Darstellung ein aufschlussreiches Pendant zu Uwe Soukups – von ihm zu Unrecht geringgeschätzte - Rekonstruktion des 2. Juni aus APO-Perspektive.
"Der Spion": Das ist der Titel des zweiten und entscheidenden Teils dieses Buches. Denn die Geschichte des 2. Juni 1967 noch einmal nachzuerzählen lohnt sich nur, wenn man die unglaubliche Geschichte des Todesschützen aufrollt. Kellerhoff hat, als im Mai vorigen Jahres die Sensationsmeldung über Kurras' Stasi-Geschichte verbreitet wurde, sehr schnell die Akten studiert und die zwölfjährige Spitzelgeschichte aufgearbeitet.
Auf 114 Seiten verfolgt er den Weg des preußischen Beamtensohns, der 1955 als scheinbar ganz normaler Westberliner Polizeibeamter Kontakt zur Ostberliner Staatssicherheit aufnimmt. Warum – das kann Kellerhoff letztlich nicht erklären, weil die Akten nur Vermutungen zulassen. Wohlmöglich wurde Kurras durch eine unfeine Scheidungsgeschichte zu diesem Schritt provoziert. Da er schweigt, müssen die Akten reden – und das ist nicht nur an diesem Punkt ein Problem. Kellerhoff muss immer wieder Schlüsse aus vagen Vermerken ziehen, um aus dem Aktenmaterial eine Geschichte zu destillieren. Ein Wissenschaftler hätte damit Probleme, ein Journalist darf das – denn die Kurras-Geschichte hat es in sich.
Die Chuzpe, mit der dieser Westberliner Polizeibeamte der Stasi zuarbeitet, sucht ihresgleichen. Nicht nur wegen der Qualität und der Menge der Materiallieferungen, sondern auch wegen der Furchtlosigkeit dieses Spitzels. Immer wieder werden Stasi-Mitarbeiter in Westberliner Behörden enttarnt. Davon unbeeindruckt erfüllt Kurras die heikelsten Aufträge. Dass er am 2. Juni 1967 seine Waffe zum Todesschuss auf Benno Ohnesorg ansetzt, kann nicht im Sinne der Stasi gewesen sein: Erich Mielkes Geheimdienst verlor einen seiner besten Informanten.
Bis hierher ist das Buch packend zu lesen. Eigentlich könnte es an dieser Stelle enden. Doch es folgt noch Teil 3: "Die Genossen". Denn Kellerhoff will die Kurras-Geschichte als Teil eines Stasi-West-Spitzel-Komplexes unerkannten Ausmaßes darstellen.
Die Geschichte der 68er Bewegung müsse neu geschrieben werden, wenn man die Stasi-Einflüsse richtig erfasst habe: Das ist seine These, um nicht zu sagen: seine geschichtspolitische Mission. Aber die Fälle, die er aus dem linksliberalen und 68er Milieu aufgreift, belegen seine These nicht. Zum Teil sind sie längst bekannt, vor allem aber ignoriert Kellerhoff die vielen Merkwürdigkeiten und Widersprüchlichkeiten dieser Stasi-West-Geschichten. Zwar hat die Stasi mit einigen Kampagnen und Parolen bemerkenswerte Teilerfolge in der westdeutschen Oppositionsszene gelandet, aber die Westrebellen ließen sich nur punktuell gewinnen.
Kellerhoff will in seinen Fallbeschreibungen erkennbar andere Botschaften vermitteln (allzu deutlich spürt man diese Intention), dennoch scheint immer wieder durch, wie verschieden die Interessen und Mentalitäten zwischen Stasi und APO waren. Das ist kein Thema für Kellerhoff, wäre aber ein Thema für ernsthafte Untersuchungen des Stasi-West-Komplexes.
Über den Autor:
Sven Felix Kellerhoff, geboren 1971, ist leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der "Welt", "Welt am Sonntag" und "Berliner Morgenpost". Studierte Geschichte und Medienrecht und hat mehrere Bücher zu unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Themen publiziert (unter anderem über den Reichstagsbrand 1933 und die Berliner Fluchttunnel).
Besprochen von Winfried Sträter
Sven Felix Kellerhoff: Die Stasi und der Westen. Der Kurras-Komplex
Hoffmann und Campe, Hamburg 2010
352 Seiten, 23,00 Euro
"Der Spion": Das ist der Titel des zweiten und entscheidenden Teils dieses Buches. Denn die Geschichte des 2. Juni 1967 noch einmal nachzuerzählen lohnt sich nur, wenn man die unglaubliche Geschichte des Todesschützen aufrollt. Kellerhoff hat, als im Mai vorigen Jahres die Sensationsmeldung über Kurras' Stasi-Geschichte verbreitet wurde, sehr schnell die Akten studiert und die zwölfjährige Spitzelgeschichte aufgearbeitet.
Auf 114 Seiten verfolgt er den Weg des preußischen Beamtensohns, der 1955 als scheinbar ganz normaler Westberliner Polizeibeamter Kontakt zur Ostberliner Staatssicherheit aufnimmt. Warum – das kann Kellerhoff letztlich nicht erklären, weil die Akten nur Vermutungen zulassen. Wohlmöglich wurde Kurras durch eine unfeine Scheidungsgeschichte zu diesem Schritt provoziert. Da er schweigt, müssen die Akten reden – und das ist nicht nur an diesem Punkt ein Problem. Kellerhoff muss immer wieder Schlüsse aus vagen Vermerken ziehen, um aus dem Aktenmaterial eine Geschichte zu destillieren. Ein Wissenschaftler hätte damit Probleme, ein Journalist darf das – denn die Kurras-Geschichte hat es in sich.
Die Chuzpe, mit der dieser Westberliner Polizeibeamte der Stasi zuarbeitet, sucht ihresgleichen. Nicht nur wegen der Qualität und der Menge der Materiallieferungen, sondern auch wegen der Furchtlosigkeit dieses Spitzels. Immer wieder werden Stasi-Mitarbeiter in Westberliner Behörden enttarnt. Davon unbeeindruckt erfüllt Kurras die heikelsten Aufträge. Dass er am 2. Juni 1967 seine Waffe zum Todesschuss auf Benno Ohnesorg ansetzt, kann nicht im Sinne der Stasi gewesen sein: Erich Mielkes Geheimdienst verlor einen seiner besten Informanten.
Bis hierher ist das Buch packend zu lesen. Eigentlich könnte es an dieser Stelle enden. Doch es folgt noch Teil 3: "Die Genossen". Denn Kellerhoff will die Kurras-Geschichte als Teil eines Stasi-West-Spitzel-Komplexes unerkannten Ausmaßes darstellen.
Die Geschichte der 68er Bewegung müsse neu geschrieben werden, wenn man die Stasi-Einflüsse richtig erfasst habe: Das ist seine These, um nicht zu sagen: seine geschichtspolitische Mission. Aber die Fälle, die er aus dem linksliberalen und 68er Milieu aufgreift, belegen seine These nicht. Zum Teil sind sie längst bekannt, vor allem aber ignoriert Kellerhoff die vielen Merkwürdigkeiten und Widersprüchlichkeiten dieser Stasi-West-Geschichten. Zwar hat die Stasi mit einigen Kampagnen und Parolen bemerkenswerte Teilerfolge in der westdeutschen Oppositionsszene gelandet, aber die Westrebellen ließen sich nur punktuell gewinnen.
Kellerhoff will in seinen Fallbeschreibungen erkennbar andere Botschaften vermitteln (allzu deutlich spürt man diese Intention), dennoch scheint immer wieder durch, wie verschieden die Interessen und Mentalitäten zwischen Stasi und APO waren. Das ist kein Thema für Kellerhoff, wäre aber ein Thema für ernsthafte Untersuchungen des Stasi-West-Komplexes.
Über den Autor:
Sven Felix Kellerhoff, geboren 1971, ist leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der "Welt", "Welt am Sonntag" und "Berliner Morgenpost". Studierte Geschichte und Medienrecht und hat mehrere Bücher zu unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Themen publiziert (unter anderem über den Reichstagsbrand 1933 und die Berliner Fluchttunnel).
Besprochen von Winfried Sträter
Sven Felix Kellerhoff: Die Stasi und der Westen. Der Kurras-Komplex
Hoffmann und Campe, Hamburg 2010
352 Seiten, 23,00 Euro