Aufgeheizte Protestkultur
Ruf nach Freiheit: In heutigen Protestformen geht Autonomiestreben mit autoritärem Gebaren einher. © IMAGO / Roland Hartig
Autoritär im Namen der Freiheit
30:50 Minuten
Protest äußert sich zunehmend aggressiv und beruft sich dabei auf individuelle Freiheit, so beobachten die Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey. Dahinter stecke ein Paradox: Nie waren wir so frei und zugleich nie so abhängig wie heute.
Woher kommt diese Wut? Bei Demonstrationen, in Debatten und auf diversen Social-Media-Kanälen ist der Ton rauer geworden. Wer dort lautstark und unversöhnlich seine Positionen vertritt, beruft sich dabei nicht selten auf einen Kernwert aufgeklärter Demokratien: auf die individuelle Freiheit, sich des eigenen Verstandes zu bedienen - unbeeindruckt von jeglicher Autorität.
Aufbegehren gegen "die Eliten"
Doch dieses Aufbegehren, zum Beispiel gegen den Staat oder vermeintliche "Eliten", kann seinerseits autoritäre Züge annehmen. Carolin Amlinger, Literatursoziologin an der Uni Basel, und Oliver Nachtwey, Professor für Soziologie in Basel, zeigen in ihrem Buch "Gekränkte Freiheit", wie das emanzipatorische Ideal der Autonomie ins Destruktive umschlagen kann.
Amlinger und Nachtwey sprechen von einer Rückkehr des "autoritären Charakters". Anders als die Denker der Kritischen Theorie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ihn mit Blick auf die Massengesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts beschrieben, zeige dieser Persönlichkeitstyp sich heute nicht von der unterwürfigen Seite.
Emanzipiert und abhängig zugleich
Vielmehr sei ein aggressives und kompromissloses Auftrumpfen zu beobachten, mit dem Menschen auf ihren Ansichten beharren. Im Namen von Autonomie und kritischem Denken verweigern sie sich letztlich jeder Argumentation und werden anfällig für Verschwörungsmythen.
Einen Grund dafür sehen die Autoren darin, dass Freiheit in modernen Industriegesellschaften mit paradoxen Erfahrungen verbunden sei: Einerseits sind wir heute so frei, emanzipiert und gebildet wie nie zuvor.
Gleichzeitig erfahren wir Ohmacht und Abhängikeit, weil wir für unsere Entscheidungen auf Expertenwissen und für eine gesicherte Existenz so sehr auf Institutionen angewiesen sind, wie noch nie. Diesem Zusammenprall aus Frust und Freiheitsstreben entspringt laut Amlinger und Nachtwey ein "libertärer Autoritarismus“.
Autoritäre Drift und auf Dauer gestellter Protest
Außerdem in diesem Gespräch: wie und warum gesellschaftliche Krisen heute oft als individuelles Versagen verstanden werden, weshalb auch Intellektuelle dieser Tage gerne in eine "autoritäre Drift" geraten - und warum eine Haltung des permanenten Protestes sich verstetigen kann.
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey: "Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus"
Suhrkamp, 2022
480 Seiten, 28 Euro