Aufgehobene Zeit
Passagen sind Übergänge. Von einem Raum in einen anderen, von einem Zustand in einen anderen. Der Passagier ist in Bewegung und lässt hinter sich, was neu vor ihm auftaucht: ein Land, eine Erfahrungswelt, eine Sprache.
Auch die Lektüre eines Buches ist eine Passage. Die Augen wandern, bestenfalls wird die Passage zum Erlebnis – so wie im neuen Buch von Ilma Rakusa. "Mehr Meer" heißt es, "Erinnerungspassagen" lautet sein Untertitel.
Die 1946 in Slowenien geborene Schweizer Autorin und Übersetzerin berichtet darin von ihrem Leben. Vom ständigen Unterwegssein, der wiederholten Begegnung mit der Fremde. Sie spürt losen Enden, aber auch Konstanten und Mustern nach, die sich abgebildet haben. Als erläse sie selbst sich ihr Leben, fügt die Autorin 69 Kapitel aneinander - eigenständige Miniaturen, nicht immer chronologisch, auch stilistisch nicht gleichförmig, und doch zusammenhängend.
Rakusa schreibt so, wie Erinnerung funktioniert: fragmentarisch und selektiv. Die Autorin sammelt Momente: Eindrücke, Erlebnisse, Erkenntnisse, Erstaunen; Begegnungen, die ihr bedeutsam erscheinen; Worte und Geschichten von Dichtern, die ihr wichtig sind. Von Jan Skácel, dem Romantiker Evgenij Baratynskij, Iossif Brodskij, Puschkin, Zwetajewa.
Überhaupt die Russen ... "Der Osten war unsere Bagage", notiert sie gleich zu Beginn bei der Beschreibung des Elternhauses. Die Mutter stammt aus Ungarn, der Vater aus Slowenien, weitere Verwandtschaftszweige ragen tiefer noch hinein in jenen Teil Europas, der bis vor zwei Jahrzehnten hinter dem Eisernen Vorhang als unzugänglich betrachtet wurde.
Ilma Rakusa hat sich "den Osten" zuerst literarisch erschlossen. Als Jugendliche liest sie Dostojewskij, später dann studiert sie in Leningrad. Sie berichtet von ihren Reisen ins Baltikum, nach Georgien und Prag, in den Iran. Von den Orten der Kindheit: Budapest, Ljubljana, Triest. Von Zürich, wo sie das Meer vermisst und nach Serbokroatisch und Italienisch noch zwei weitere Sprachen lernt – Schwyzerdütsch und Deutsch. Ob in Paris oder Berlin, auf den Straßen, beim Orgelspiel oder in der Natur – Rakusa verdichtet ihre Eindrücke so stark, dass sie wie Essenzen wirken. "Allmählich formen die gesammelten Gegenstände eine Gemeinschaft, in der ich die Spuren meines Lebens, seine Zufälle und Gesetzmäßigkeiten erkannte."
"Mehr Meer" ist ein persönliches Buch, doch in vielfältiger Weise lesbar. Es beschreibt, wie jemand zum Schriftsteller wird, zum Sprachsüchtigen. Es beschreibt Zeit- und Lebensläufe. Die Bildung eines weiblichen, intellektuellen Bewusstseins, die Macht der Literatur, die Poesie des Lebens. Es ist ein Buch über Heimatlosigkeit und Freundschaft. Sinnlich, melancholisch, musikalisch. Es hebt Zeit auf, macht sie sichtbar, hörbar. Diese Erinnerungspassagen sind ein Multimediaerlebnis – vermittelt durch Sprache.
Besprochen von Carsten Hueck
Ilma Rakusa: "Mehr Meer. Erinnerungspassagen".
Droschl, Graz 2009. 321 S., 23,00 Euro
Die 1946 in Slowenien geborene Schweizer Autorin und Übersetzerin berichtet darin von ihrem Leben. Vom ständigen Unterwegssein, der wiederholten Begegnung mit der Fremde. Sie spürt losen Enden, aber auch Konstanten und Mustern nach, die sich abgebildet haben. Als erläse sie selbst sich ihr Leben, fügt die Autorin 69 Kapitel aneinander - eigenständige Miniaturen, nicht immer chronologisch, auch stilistisch nicht gleichförmig, und doch zusammenhängend.
Rakusa schreibt so, wie Erinnerung funktioniert: fragmentarisch und selektiv. Die Autorin sammelt Momente: Eindrücke, Erlebnisse, Erkenntnisse, Erstaunen; Begegnungen, die ihr bedeutsam erscheinen; Worte und Geschichten von Dichtern, die ihr wichtig sind. Von Jan Skácel, dem Romantiker Evgenij Baratynskij, Iossif Brodskij, Puschkin, Zwetajewa.
Überhaupt die Russen ... "Der Osten war unsere Bagage", notiert sie gleich zu Beginn bei der Beschreibung des Elternhauses. Die Mutter stammt aus Ungarn, der Vater aus Slowenien, weitere Verwandtschaftszweige ragen tiefer noch hinein in jenen Teil Europas, der bis vor zwei Jahrzehnten hinter dem Eisernen Vorhang als unzugänglich betrachtet wurde.
Ilma Rakusa hat sich "den Osten" zuerst literarisch erschlossen. Als Jugendliche liest sie Dostojewskij, später dann studiert sie in Leningrad. Sie berichtet von ihren Reisen ins Baltikum, nach Georgien und Prag, in den Iran. Von den Orten der Kindheit: Budapest, Ljubljana, Triest. Von Zürich, wo sie das Meer vermisst und nach Serbokroatisch und Italienisch noch zwei weitere Sprachen lernt – Schwyzerdütsch und Deutsch. Ob in Paris oder Berlin, auf den Straßen, beim Orgelspiel oder in der Natur – Rakusa verdichtet ihre Eindrücke so stark, dass sie wie Essenzen wirken. "Allmählich formen die gesammelten Gegenstände eine Gemeinschaft, in der ich die Spuren meines Lebens, seine Zufälle und Gesetzmäßigkeiten erkannte."
"Mehr Meer" ist ein persönliches Buch, doch in vielfältiger Weise lesbar. Es beschreibt, wie jemand zum Schriftsteller wird, zum Sprachsüchtigen. Es beschreibt Zeit- und Lebensläufe. Die Bildung eines weiblichen, intellektuellen Bewusstseins, die Macht der Literatur, die Poesie des Lebens. Es ist ein Buch über Heimatlosigkeit und Freundschaft. Sinnlich, melancholisch, musikalisch. Es hebt Zeit auf, macht sie sichtbar, hörbar. Diese Erinnerungspassagen sind ein Multimediaerlebnis – vermittelt durch Sprache.
Besprochen von Carsten Hueck
Ilma Rakusa: "Mehr Meer. Erinnerungspassagen".
Droschl, Graz 2009. 321 S., 23,00 Euro