Überlebender trifft rechtsextreme Jugendliche
Nur mit Glück entging Reinhard Schramm der Deportation durch die Nazis. Heute erzählt er seine Familiengeschichte jungen rechtsextremen Gefangenen. Warum tut er das?
In einem heißen Seminarraum steht ein älterer Herr mit durchdringenden hellblauen Augen und erzählt über die Verfolgung seiner Familie in der Nazizeit. Sein deutscher Vater rettete seine jüdische Frau und seinen Sohn Reinhard Schramm:
"Im Februar 1945 - es müsste der 10. Februar gewesen sein, ist ein Kriminalbeamte zu uns gekommen und hat meinem Vater gesagt: 'Am nächsten Tag wird Ihre Frau mit Kind deportiert.' Jedenfalls - es gab nur noch zwei jüdische Familien, und das waren solche Mischehen wie mein Vater mit meiner Mutter. Mein Vater ist in der Nacht zu den Sperbers gegangen. Es ist schon ein hochanständiges Ehepaar, Fritz und Else Sperber, die uns im Februar 1945 in einem Wochenendgrundstück in Leißling versteckt und dort verpflegt haben."
Reinhard Schramm spricht heute im Jugendgefängnis Arnstadt bei Erfurt vor neun jungen Männern und einer jungen Frau, die aufmerksam zuhören. Sechs Männer wurden wegen rechtsextremistischer Delikte oder Gewalttaten verurteilt und müssen an diesem Bildungsprogramm zum Ausstieg aus Rechtsextremismus und Gewalt teilnehmen. Die anderen Häftlinge sind hier freiwillig. Reinhard Schramm besucht regelmäßig Jugendliche im Gefängnis – fast jeden Monat - freiwillig und ehrenamtlich. Warum eigentlich?
Zum einen, weil es für Schramm wichtig ist, die Geschichte seiner Familie und die der Juden in der Kleinstadt bei Leipzig immer wieder zu erzählen. Er spricht über seine Großmutter und seinen Onkel, die im KZ ermordet wurden. Er erzählt über die Verfolgung seiner Mutter. Wie bei vielen Überlebenden, war es der Eichmann-Prozess 1961, der Schramms Mutter Rosel dazu brachte, zum ersten Mal ihrem Sohn über die Schoa zu erzählen:
"Ich hatte als 17-Jähriger, als meine Mutter ihren Schulfreund Benjamin Halevi, Ernst Levi, als Richter im Eichmannprozess wieder erkannt hat - da hat sich meine Mutter geöffnet und hat mit mir über die Familientragödie ein bisschen angefangen sich zu unterhalten."
"Da ich aber als 17-Jähriger im Eichmann-Prozess dann plötzlich so aufgewühlt war, habe ich Kontakt aufgenommen mit Benjamin Halevi, mit dem ehemaligen Kantor von Weißenfels in den USA. Und dieser Kantor hat mir dann auch Briefe zurückgeschrieben, ich habe aus Israel Briefe zurückbekommen und dann habe ich die Briefe gesammelt. Aber da war ich der Meinung, dass es so intim, für meine Mutter und damit auch für mich, das kann man mir niemand verbieten und es hat auch niemand verboten. Ich war in der FDJ, als junger Sozialist, und habe da eine Wandzeitung in der Schule gemacht – über die Verfolgung der Juden." Der kommunistische Schuldirektor hat es geduldet.
Aufarbeitung während der Haft des Sohns
Erst nachdem 1986 Reinhard Schramms Sohn Marek in der DDR wegen versuchter Republikflucht verhaftet wurde, begann Reinhard seine Familiengeschichte aufzuschreiben. Das half ihm 1988, Mareks sechsmonatige Haftstrafe wegen erneuter Republikflucht zu überwinden. Aber warum erzählt Reinhard Schramm über die Verfolgung seiner Familie in der Nazizeit ausgerechnet jungen Rechtsextremisten?
Im Jahr 2000 wohnte der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, Wolfgang Nossen, im oberen Stock des Gebäudes, in dem sich die Synagoge und das Büro der jüdischen Gemeinde befinden. Eines Abends im Frühling feierte er mit Gemeindemitgliedern in einem Hotel das Pessachfest:
"20. April 2000 war Erew Seder. Wir saßen im Kaisersaal und plötzlich kam jemand zu mir an den Tisch und bat mich nach draußen. Es stellte sich heraus, es war die Polizei und man teilte mir mit, dass ein Brandanschlag auf die Synagoge verübt wurde und ich sollte mal mitkommen."
Unbekannte hatten zwei Molotowcocktails auf das Gebäude geworfen, erfuhr Wolfgang Nossen:
"Eins ist in der Dachrinne gelandet und das zweite ist am Haus abgeprallt, direkt neben meinem Wohnzimmer. Einen halben Meter weiter wäre es durch die Scheiben, das wäre bitter gewesen."
Eine Nachbarin hat den brennenden Molotowcocktail ausgetreten und die Polizei informiert. Die Geschichte machte international Schlagzeilen, weil der Brandanschlag bewusst an Hitlers Geburtstag verübt wurde. Durch das Bekennerschreiben wurden die Täter bereits am nächsten Tag verhaftet. Nossen besuchte den Hauptverdächtigen, den 18-jährigen Dachdecker-Lehrling Andreas in der Untersuchungshaft. Ihm folgte sein Stellvertreter Reinhard Schramm.
"Er hat da vor mir gesessen wie so ein Häuflein Unglück im Gefängnis. Und da saß er da erst mal vor der Verurteilung gedrückt, weil er wusste ja nicht, was er für ein Urteil bekommt. Dann hatte er Angst gehabt vor einem Juden, dem er die Synagoge anbrennen wollte. Das hat man gespürt. Und hatte noch nie einen gesehen!"
Was hast Du gegen die Juden?
Reinhard Schramm ist Ingenieur für Elektrotechnik und Experte für Informationswissenschaft. Der frühere Leiter des Patentzentrums Thüringen glaubt an die menschliche Vernunft. Daher interessierte ihn beim Häftling Andreas eine Frage brennend: "Was kann der gegen Juden haben? Wir haben ihm doch nichts getan! Er kennt ja nicht mal einen! Und es war dann interessant als ich ihn dann fragte: ‚Was hast du denn gegen die Juden?' Er guckte mich ganz traurig an und sagte: ‚Die Juden sind unser Unglück‘! Dann sag ich: Wie kommst du da drauf? Ich meine, ich arbeite ordentlich, schon meine Großeltern haben ordentlich gearbeitet, wir benehmen uns ordentlich, wir sprechen nicht schlechter Deutsch als du und deine Kumpels. ‚Ja', sagt er, ‚in meiner Gruppe sagen das alle.‘"
Schramm war überzeugt, dass Andreas zum Nachdenken bereit sei. Daher schenkte er ihm ein Exemplar seine Buches "Meine Familie, meine Gemeinde – Weißenfelser Juden im Nationalsozialismus und danach." Diese Geschichte erzählt Schramm auch heute. Die zehn Jugendlichen und jungen Erwachsene im Seminarraum hören ganz genau zu:
"Und deswegen habe ich als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Thüringen als einer der ersten in Deutschland mich eingesetzt für die Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen. Das mag sein, dass Leute kommen, die aufgewachsen sind in einer Atmosphäre, wo man sich gegen Israel ausgesprochen hat und indirekt dann natürlich auch gegen Juden, teilweise auch direkt. Aber ich denke, das sind Menschen, die in Not sind, denen muss man helfen, so wie man uns 1938, uns Juden in Deutschland nicht geholfen hat."
Die Juristin Alexandra Göpel führt seit 2004 das Trainings- und Bildungsprogramm in Thüringer Jugendgefängnissen und begleitet seitdem Reinhard Schramm bei solchen Begegnungen. Viele Jugendliche mit denen sie arbeitet, leiden an Alkoholsucht, weisen psychische Krankheiten auf und kommen aus schwierigen sozialen Verhältnissen, sagt Göpel.
Die erste Begegnung mit einem Juden
"In der Regel ist das meist die erste Begegnung mit einem jüdischen Menschen, mit einem Juden. Die Jugendlichen sind sehr interessiert an seiner Geschichte und stellen da auch manchmal Nachfragen. Wir haben auch Jugendliche, die sich speziell dahingehend interessieren und fragen, ob sie das Buch von Herrn Schramm beispielsweise, wo man das beziehen kann, um sich einfach noch mehr zu vertiefen mit seiner Biografie."
Leider ist Schramms Buch längst vergriffen. Wie finden eigentlich die Häftlinge Reinhard Schramm?
"Ich finde es gut, dass Sie völlig selbstlos Ihren Teil der Geschichte immer wieder weitergeben, damit es nicht in Vergessenheit gerät."
Nach zwei Stunden verlässt Reinhard Schramm das Jugendgefängnis. Bald werden auch die zehn Jugendlichen auf freiem Fuß sein. Das Trainingsprogramm wurde aus finanziellen Gründen von zwei Wochen auf nur eine Woche gekürzt.