Aufregend, aufwühlend, folgenlos?

Was kritisches Kino bewirken kann

 Leonardo DiCaprio "The Wolf Of Wall Street"
Feind- oder Vorbild? Leonardo DiCaprio in Martin Scorseses Film "The Wolf Of Wall Street" © dpa / picture alliance / Mary Cybulski - Universal
Von Hartwig Tegeler |
Die Wirklichkeit zeigt sich oftmals unbeeindruckt vom Kino. Doch Filme können Menschen bewegen - und sie können Menschen in Bewegung bringen. Ist damit Gesellschaftskritik im Film doch nicht zur Folgenlosigkeit verdammt?
So einer kann doch nur abschreckend sein in seiner hemmungslosen Gier, dieser Börsenmakler, grinsend auf seiner Yacht thronend. Millionen von Dollars um sich schmeißend. Ein Sinnbild für Exzess, Gier, Profit.
Es gibt diesen Moment in Martin Scorseses "The Wolf Of Wall Street", da kommt das Auseinanderklaffen zwischen Jordan Belforts Leben und der Realität der Menschen, denen er das Geld aus der Tasche zieht, auf den Punkt. Der FBI-Mann, der gegen den Finanzhai ermittelt, sitzt in der U-Bahn und sieht Menschen, die müde und erschöpft zur Arbeit fahren. Ein brutaler Kontrast zum Leben des Börsenmaklers, dessen Frühstück in einer Line Koks besteht.
Scorseses Film ist also Gesellschaftskritik, eindeutig! Eindeutig? Von wegen. Es ist zwar vorstellbar, dass einer sich nach dem Kino-Besuch zum Sitzstreik vor der nächsten Investment-Bank niederlässt. Möglich ist aber auch, dass Scorseses Hauptfigur - gespielt von Leonardo DiCaprio - wie auch 1987 dieser Gordon Gekko in Oliver Stones "Wall Street" vielen nicht abstoßend erscheint, sondern als Vorbild für das hemmungslose Leben in Macht und Luxus.
Kino hat eine Stärke, die, wenn's ums Politische geht, als Schwäche gelten kann: Bilder auf der Leinwand sind nie eindeutig. Das schafft immer Ambivalenzen.
Ein Superstar wie Leonardo DiCaprio als gieriger Geldmakler schafft automatisch Identifikation, wo doch die Distanzierung zu seiner Figur nötig wäre, damit die - hier einmal unterstellte - Gesellschaftskritik des Films Früchte trägt. Dann die standardisierte Hollywood-Dramaturgie, für die ein märchenhaftes Ende zum Kanon gehört, was bedeutet, dass der Held - gut oder böse - am Ende wie Phoenix aus der Asche aufzustehen hat.
Kritische Dokus auch im Kino erfolgreich
Es wäre also ziemlich naiv zu glauben, dass ein Spielfilm eine Aufforderung zur Veränderung der Gesellschaft proklamieren könnte, die dann der Kinogänger auch noch realiter umsetzt.
Aber auch der Dokumentarfilm hat es nur scheinbar leichter. Seit einigen Jahren sind kritische Dokus auch im Kino erfolgreich. Aber hat die Auseinandersetzung beispielsweise mit der industrialisierten Nahrungsmittelproduktion - Massentierhaltung, Gift in unseren Speisen etc. pp. - auch alltagspraktische wie politische Folgen? Die Zahl der Vegetarier nimmt zwar gefühlt zu, aber an den billigen Produktionsmethoden ändert sich kaum etwas. Aldi, Lidl & Co. haben gerade erst wieder die Eierpreise gesenkt. Also zeigt sich die Wirklichkeit vom kritischen Film unbeeindruckt?
Evident ist zunächst die Wechselwirkung zwischen Film und gesellschaftlichem Klima. Das Kino wird genährt von ihm, das ist bei "The Wolf Of Wall Street" ebenso wie bei Dokus à la "We Feed The World". Gleichzeitig geben diese Filme Impulse in die Gesellschaft zurück, die vom schauenden Individuum, sprich Kinogänger, aufgenommen werden. So kann ein Bewusstseinswandel entstehen.
Die Mehrheit der Bundesbürger mag nach wie vor nicht aufs Fleischessen verzichten und keine Bio-Eier kaufen, und doch wird unsere Nahrungsmittelproduktion zunehmend kritischer hinterfragt. Ebenso die Macht und Arroganz der Finanzindustrie.
Filme können Menschen bewegen
Außerdem ist im Medium der laufenden Bilder der Unterschied zwischen kognitivem und emotionalem Lernen entscheidend. Bilder rühren an unsere emotionale Wahrnehmung. Was sie am Ende bewirken, kann kein Statistiker messen.
Woher aber dann das Wissen, dass Filme Gesellschaft wie Individuum beeinflussen? Aus eigener Erfahrung.
Es kann nämlich schon mal passieren, dass ein Junge in der Enge eines norddeutschen Dorfes in einem politisch reaktionären Western die Totale einer Weite sieht, durch die wilde Indianer galoppieren, und einen Freiheits-Impuls verspürt, der Jahre später zum Ausbruch aus der Enge führt. Zeitverzögerung! Keine Eindeutigkeit! War das wirklich so? Nur Einbildung? Oder doch ein Bewusstseins-Impuls, den "Rio Grande" setzte?
Zeigt sich also die Wirklichkeit vom Kino unbeeindruckt? Auf den ersten Blick: Ja! Aber Filme können uns Menschen, die wir ins Kino gehen, bewegen, in Bewegung bringen. Getrieben von dem Film, der in unserem eigenen Kopf entstanden ist.
Hartwig Tegeler, geboren 1956 in Nordenham-Hoffe an der Unterweser, begann nach einem Studium der Germanistik und Politologie in Hamburg seine journalistische Arbeit bei einem Privatsender und arbeitet seit 1990 als Freier Hörfunk-Autor und -Regisseur in der ARD, schreibt Filmkritiken, Features und Reportagen.
Hartwig Tegeler
Hartwig Tegeler© privat