Aufschlussreiches Sammelwerk

Von den USA über Polen nach Birma, von Milošević über Grass bis zu Orwell - Timothy Garton Ash befasst sich mit unterschiedlichen Ereignissen, die in letzter Zeit für die westliche Welt wichtig waren. Allzu tiefe historische Bohrungen sollte man nicht erwarten.
Wenn man Timothy Garton Ashs "weltpolitische Betrachtungen 2000-2010" als solche ernst nimmt, muss man feststellen: Dass China im zurückliegenden Jahrzehnt seine Rolle als neue Weltmacht ein- und auszuüben begann, bekommt der Leser bei der Lektüre von Jahrhundertwende kaum mit. Ash daraus einen Strick zu drehen, wäre allerdings kleinlich. Denn der umtriebige Gelehrte, der eine Vorliebe für Lokaltermine samt persönlichen Gesprächen mit Mächtigen und Ohnmächtigen hat und das Etikett "Reporter" mit Stolz tragen würde, befasst sich in dem Sammelwerk mit genügend anderen Ereignissen, die für die Nordhalbkugel der Erde und zumal die westliche Welt wichtig waren.

Ash war dabei, als im Oktober 2000 in Belgrad Slobodan Milošević zurücktrat bzw. gestürzt wurde, und reflektiert auf die "samtenen", mehr oder minder gewaltfreien Revolutionen, die nach 1989 das alte, blutige Revolutionsmodell abgelöst haben. Er hat sich in Osteuropa umgesehen, zumal in Polen, und reflektiert auf den veränderten Charakter des Kontinents seit der EU-Erweiterung, wobei auch die komplizierte Frage geklärt wird, "warum Großbritannien zu Europa gehört". Er schreibt – natürlich – über "Islam, Terror und Freiheit". Ash untersucht die Lage der USA, die am Anfang des Jahrzehnts als "Hypermacht" erschienen, am Ende aber als wankender Riese, und berichtet im Tonfall einer bitter-wahren Satire von seiner Audienz bei George W. Bush.

Um dem Buch den stattlichen Rücken zu garantieren, den es hat, haben aufschlussreiche politische Reise-Essays zu Birma, dem Iran und Ägypten und auch profunde Aufsätze zu Günter Grass' SS-Vergangenheit, zu dem Film "Das Leben der Anderen" und zum Jahrhundertschriftsteller George Orwell Platz gefunden (Ash stellt sich als "leidenschaftlicher Orwellianer" vor).

Ash präsentiert gewichtige, längere Arbeiten gleichberechtigt neben kurzen Artikeln, was dazu führt, dass schwächere, mit Phrasen gekittete Texte umso deutlicher auffallen. Der humorvolle, manchmal sarkastische Autor schreibt nie abstrakt-akademisch. Er erliegt hier und dort seiner Formulierungslust ("Von fremden Pfeilen durchbohrt, blutete der weiße Adler und frischte die Nationalfarben Rot und Weiß immer von Neuem mit seinem Blut auf", heißt es über die Geschichte Polens). Er schätzt griffige Pointen ("Bei Grass ist das Fleisch Wort geworden") und gibt sich im politischen Urteil wie im Tonfall als entschiedener Liberaler zu erkennen. Nicht von ungefähr hat er ein USA-Kapitel mit "Lob der Ambivalenz" betitelt. Tatsächlich gehört die Fähigkeit, die innere Widersprüchlichkeit und Vorläufigkeit eigener Einschätzungen auszuhalten, zu Ashs Vorzügen. Dialektische Kniffe beherrscht er sowieso: Nicht der europäische Anti-Amerikanismus, sondern der "Antieuropäismus in Amerika" beschäftigt ihn.

Von "Jahrhundertwende" profitieren die Leser am meisten, die mit Ashs Weltsicht sympathisieren, eine "Geschichte der Gegenwart" ohne allzu tiefe historische Bohrungen erwarten. Doch das nutzt Ash aus: Viele seiner Aufsätze imponieren gerade durch ihre Frische.

Besprochen von Arno Orzessek

Timothy Garton Ash: Jahrhundertwende. Weltpolitische Betrachtungen 2000-2010
Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck
Carl Hanser Verlag, München 2010
496 Seiten, 25,90 Euro