Aufschwung der Volksbewegungen

In 25 Texten untersuchen Fachleute die Entstehung und Entwicklung von sozialen Bewegungen in Lateinamerika sowie ihre Erfolge und ihre Grenzen.
"El pueblo unido jamás será vencido" ("Das vereinte Volk wird nie besiegt"): In den Siebzigerjahren, als das Kampflied aus Chile zum Hit wurde, wirkte Lateinamerika wie ein Kontinent im Aufbruch - trotz der Gewalt der Militärdiktaturen. Der Song verkörperte den rebellischen Geist unterdrückter Massen.

20 Jahre später, nach dem Ende der Diktaturen, war vom Elan der Völker nicht mehr viel zu spüren; Lateinamerika verschwand aus dem Fokus unserer Aufmerksamkeit. Zu Unrecht, denn der reiche südliche Subkontinent gilt als "die ungleichste Region der Welt". 40 Prozent der Einwohner – 230 Millionen Menschen - leben an oder unter der Armutsgrenze. Und von politischer Teilhabe bleibt die Mehrheit selbst in "demokratischen" Staaten ausgeschlossen.

Seit den späten Neunzigern, im Zeitalter der Globalisierung, scheint die Region erneut im Umbruch. Wieder melden sich organisierte Massen zu Wort, und die Unzufriedenen haben den Subkontinent bereits nachhaltig verändert: Viele Länder erlebten ab 2005 einen Linksruck.

Der Aufschwung der Volksbewegungen hat jetzt auch deutsche Forscher beflügelt. Gemeinsam analysieren sie in dem Sammelband "El pueblo unido?" das Phänomen - Soziologen, Politologen, Ökonomen und Historiker, Uni-Theoretiker und Praktiker der Entwicklungshilfe.

Sie schreiben über Kokabauern und Gewerkschafter, über Stadt-Guerilleros und die Madres de Plaza de Mayo, über alte und neue, friedfertige und brachiale Formen des Widerstands; sie schauen zurück (bis zum Jahr 1900) und nach vorn. Sie liefern erschöpfende Definitionen und diskutieren theoretische Ansätze zur Einordnung der "sozialen Bewegungen".

Aufbau und Methodik des Buchs erleichtern das Verständnis: In 25 Texten – darunter sind elf Länderbeiträge und elf Aufsätze zu überregionalen Eigentümlichkeiten - untersuchen Fachleute die Entstehung und Entwicklung von Bewegungen, ihre Erfolge, ihre Grenzen. Nachhaltig wird die Vielfalt der Bewegungen, ihre Buntheit, herausgearbeitet. Alle Beiträge zeigen eine ähnliche Gliederung; so lassen sich die Befunde vergleichen.

Überraschend ist der kritisch-distanzierte, meist auch ideologiefreie Zugriff aufs Thema. Wir lesen von "demokratiefeindlichen Mängeln" mancher Bewegungen, Castros Revolution heißt richtig "Staatsstreich", und nur selten wird die Utopie einer "gerechteren Gesellschaft" beschworen. Eindrucksvoll beschreiben die Autoren das Spannungsfeld zwischen linken Aktivisten und linken Machthabern. Es ist nur scheinbar ein Paradox: Die Mitte-Links-Regierungen versuchen genau jene Bewegungen zu neutralisieren, durch die sie erst ans Ruder kamen.

Wie geht es nun weiter mit den sozialen Bewegungen? Die Forscher sind vorsichtig: Alles sei denkbar, weiterer Aufschwung oder baldiger Abschwung. Fragezeichen zeugen von Skepsis: El pueblo unido? Vom Protest zur Partizipation? Bleiben die linken Länder überhaupt regierbar? Ein Autor schreibt drastisch über das Scheitern vieler Protestversuche. Und doch, das stellt er klar, haben soziale Bewegungen viel für die politische Kultur getan. Ohne sie wären Klientelismus, Korruption und Patriarchalismus noch viel krasser wirksam.

Das Buch ist eine Pionierleistung (denn die "Bewegungsgeschichte" liegt noch weitgehend im Dunkeln); ein nützliches Werk für Lateinamerika-Enthusiasten, mit Spannung zu lesen. Leider zeigt der Sammelband eine Schwäche, die auch anderen interdisziplinären Fachbüchern eigen ist: An Sprache und Stil wurde nicht so gefeilt wie am Inhalt. Schade.

Besprochen von Uwe Stolzmann

Jürgen Mittag, Georg Ismar (Hg.): ¿"El pueblo unido"? Soziale Bewegungen und politischer Protest in der Geschichte Lateinamerikas
Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2009
576 Seiten, 39,90 Euro.