"Die linke Politik ist dabei, sich abzuschaffen"
Soziale Proteste erschüttern Frankreich – und bald vielleicht auch Deutschland, warnt Dramaturg Bernd Stegemann. "Wir sind zwei Minuten vor der Explosion." Verantwortlich dafür macht er auch die linken Parteien – zu denen er die Grünen nicht mehr zählt.
Die Linke steckt in der Krise. Sie gibt sich kosmopolitisch und weltoffen, hat ihre Stammklientel dabei aber aus den Augen verloren, die Arbeiterschaft.
Die Folge: Die Abgehängten und Modernisierungsverlierer wenden sich ab und wählen lieber rechts.
Die Folge: Die Abgehängten und Modernisierungsverlierer wenden sich ab und wählen lieber rechts.
Der Dramaturg Bernd Stegemann will das ändern und hat gemeinsam unter anderen mit der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht die Sammlungsbewegung "Aufstehen" gegründet. Seine Forderung: Die Linke muss endlich ihren überheblichen Moralismus ablegen. Und sich wieder auf ihr Kernthema konzentrieren: Den Kampf gegen soziale Diskriminierung.
Bernd Stegemann, geboren 1967 in Münster, arbeitet als Dramaturg am Berliner Ensemble und unterrichtet als Professor an der Ernst-Busch-Schauspielschule. Er ist Mitinitiator der Sammlungsbewegung "Aufstehen" und hat sich in mehreren Büchern kritisch mit der Linken auseinander gesetzt.
Deutschlandfunk Kultur: Unser Gast heute in Tacheles ist der Dramaturg Bernd Stegemann. Er fordert eine politische Erneuerung der Linken und hat deshalb die Sammlungsbewegung "Aufstehen" mit initiiert. Guten Tag, Herr Stegemann.
Bernd Stegemann: Guten Tag.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Stegemann, jetzt haben wir auf dem linken Flügel drei Parteien, wenn man so will: die Grünen, die SPD, die Linkspartei. Wozu brauchen wir da noch eine außerparlamentarische, überparteiliche Sammlungsbewegung?
Bernd Stegemann: Die Frage erübrigt sich ja, wenn man sich den Zustand der SPD anguckt. Das ist ja doch ein sehr ruinöser. Sie befindet sich im freien Fall und schließt sich damit an alle anderen europäischen sozialdemokratischen Parteien an, folgt also doch diesem traurigen Weg der Selbstabschaffung.
Die Partei der Grünen hat einen wahnsinnigen Aufwind gerade. Da kann man sich natürlich fragen: Woran liegt das? Und man könnte womöglich die These aufstellen, dass die Grünen sehr stark auf dem Weg in die Mitte sind, also vielleicht gar keine linke Partei mehr sind, sondern eher eine wertkonservative, um Nachhaltigkeit, um moderate Lösungen bemühte grüne CDU. Und dann haben wir diese kleine Linkspartei, die ja momentan bei acht Prozent liegt. Und damit ist ja nun kein Staat zu machen.
Nichtwähler im unteren Drittel der Gesellschaft
Deutschlandfunk Kultur: Und die Sammlungsbewegung "Aufstehen" soll aus dieser kleinen Linkspartei und den schrumpfenden oder auf Abwegen befindlichen anderen linken Parteien, die soll dieser kleinen Partei ein bisschen Beine machen, soll sie zu einer breiten Bewegung machen. Oder was erwarten Sie von dieser Sammlungsbewegung?
Stegemann: Na ja, nun kann man ja zwei Perspektiven darauf einnehmen. Die eine Perspektive sagt: In Deutschland ist sowieso Schwarz-Grün die Mehrheit der nächsten Jahrzehnte. Da gibt es ja nicht wenige, die sagen: CDU und Grüne zusammen bilden das deutsche Volk in einem sehr umfangreichen Sinne ab.
Jetzt kann man aber auch eine andere Perspektive darauf einnehmen und sagen: Es gibt einen immer größer werdenden Teil in der Gesellschaft, der von diesem Wohlstand und von sehr vielen anderen Errungenschaften dieser Gesellschaft weitestgehend abgehängt ist oder immer weiter abgehängt wird.
Wir wissen ja alle, dass in dem unteren Drittel der Gesellschaft, einkommenstechnisch betrachtet, immer mehr Nichtwähler, Nichtwählerinnen sind. Und in den anderen beiden Teilen der Gesellschaft, also, je wohlhabender die Menschen werden, desto höher ist die Wahlbeteiligung.
Das heißt also: Es gibt offensichtlich für Menschen, die sich nicht mehr zur Mitte der Gesellschaft zählen dürfen, weil sie nicht mehr über genügend Einkommen verfügen, momentan keinen politischen Raum, in dem ihre Stimme gehört werden würde und in dem diese Menschen die berechtigte Hoffnung haben könnten, dass sich für ihr Leben konkret etwas ändern kann.
Viele Parteilose in der Sammlungsbewegung
Deutschlandfunk Kultur: Und diesen Raum wollen Sie diesen Menschen geben?
Stegemann: Wir wollen zumindest versuchen, dass dieser Raum anfängt: im Radio und in der Öffentlichkeit und auf der Straße, in den vielen Lokalen; dass dieser Raum überhaupt vielleicht wieder mal thematisiert wird – und dass das Fehlen dieses Raumes thematisiert wird.
Deutschlandfunk Kultur: Aber was ist überparteilich an einer Initiative, die maßgeblich von führenden Politikern der Linkspartei initiiert wird, neben Ihnen nämlich von Sarah Wagenknecht, von Oskar Lafontaine? Viele sagen, das ist ein Hebel für deren machtpolitische Zwecke. Ist das so falsch?
Stegemann: Ja, wenn Sie mich fragen. Für mich ist das natürlich total falsch, denn ich sehe mich auch als wichtigen Bestandteil dieser Bewegung – und mit mir natürlich viele von den Grünen. Marco Bülow war bis vor wenigen Tagen in der SPD, er ist es nicht mehr. Aber immerhin, auch aus der SPD oder aus dem parteilosen Teil dieses Landes sind ja doch einige Menschen dort engagiert. Und ich finde es auch immer ein bisschen respektlos, diesen vielen, vielen Menschen, die dort mitarbeiten, sehr viel mitarbeiten, zu sagen, sie seien nur ein Vehikel für Sarah Wagenknecht und Oskar Lafontaine.
Deutschlandfunk Kultur: Insgesamt aber überwiegt doch der Eindruck: Bei Grünen und SPD stoßen Sie mit dieser Initiative doch überwiegend auf taube Ohren.
Stegemann: Das war ja auch nicht anders zu erwarten, dass die Parteien natürlich nicht ihre Revierkämpfe jetzt gleich aufgeben, weil ein neues Kid on the Block ist, also, ein neuer Player im Raum ist. Unter unseren Mitgliedern gibt es ja ein Umfrageformular, an dem man freiwillig teilnehmen kann. Insofern weiß man nicht, inwiefern das stimmt, aber dort sind weit über achtzig Prozent der Menschen, die sich bei uns engagieren, parteilos.
Das heißt also, es ist erstmal eine Bewegung für Menschen, die nicht parteilich gebunden sind; die sich dem linken Spektrum zuordnen würden, weil, sonst wären sie nicht bei uns, aber die sich keiner Partei zugehörig fühlen. Und das ist natürlich der Sinn einer Bewegung, dass die Menschen, die noch nicht politisch engagiert sind und die noch nicht in einer Partei sind, überhaupt erstmal anfangen können, sich irgendwo einzubringen und ihrer Stimme Gehör zu verschaffen.
Dass die etablierten beiden anderen Parteien aus unterschiedlichen Gründen das schwierig finden, liegt ja auf der Hand.
"Wir haben ganz simple, konkrete Probleme"
Deutschlandfunk Kultur: Aber wie macht man aus so einem Aufruf, der erstmal auf dem Papier steht, wirklich eine Bewegung? Das ist ja auch eine Kritik, die von vielen kommt. "Aufstehen, das ist keine Bewegung. Das ist eine von oben gesteuerte Initiative und damit", sagen Kritiker, "zum Scheitern verurteilt."
Stegemann: Was man vorher immer weiß oder zu wissen glaubt – was zum Scheitern oder nicht zum Scheitern verurteilt ist –, da bin ich als Theatermensch etwas skeptisch. Weil, wir wissen nie vorher, wie es wird. Und trotzdem geben wir uns alle Mühe, dass es gut wird. Ich glaube, anders kann man in der Welt ja auch gar nicht überleben.
Natürlich ist die Initiative gestartet worden von einem Kreis von vielleicht hundert Menschen, die sich im ersten Halbjahr 2018 viele Gedanken gemacht haben über diese Möglichkeit einer solchen Bewegung. Dann ist es am 3., 4. September tatsächlich los gegangen. Also, es ist jetzt gerade mal gut drei Monate her, ein sehr, sehr kleiner Zeitraum also. Wir sind in der Phase der Organisationsfindung.
Und da wir keine Partei sind und auch keine Strukturen haben und vor allem auch gar kein Geld haben, was man immer wieder betonen muss. Wir sind ja nicht eine rechte Bewegung, die dann irgendwelche Großspender aus dem Ausland oder sonst woher hat, die quasi von vornherein sagen kann, wir bezahlen Menschen, die das für uns machen, wir können Räume anmieten.
Wir haben ganz simple konkrete Probleme. Wenn sich Menschen an irgendeinem Ort, uns sei es in Oranienburg oder in Gransee treffen wollen, dann müssen sie überhaupt erstmal einen Raum sich organisieren. Das sind die Dinge, mit denen sich momentan beschäftigt wird. Also, man ist tatsächlich an der Basis.
Soziale Frage statt Migrationsfrage
Deutschlandfunk Kultur: Wie, glauben Sie denn, können Sie dieser linken Bewegung, die so vor sich hin dümpelt, neues Leben einhauchen? Was kann da so eine Bewegung erreichen?
Stegemann: Ich glaube, wenn man das soziale Thema tatsächlich neu und sehr konkret wieder in die öffentliche Diskussion bringt, dann befreit es uns erstens mal von der leidigen Fragestellung, dass alles nur noch über die Frage der Migration momentan diskutiert, das hochgradig moralisch aufgeladen wird, das aber mit dem Leben der meisten Menschen ja gar nicht wirklich was zu tun hat.
Das heißt, wenn diese soziale Frage tatsächlich wieder zum Thema wird, dann hat man gesehen, als Martin Schulz damals Kanzlerkandidat der SPD wurde, hat er nur mal im Nebensatz anklingen lassen, dass er womöglich Hartz IV vielleicht abschaffen oder zumindest reformieren wolle. Und da schnellten die Umfragewerte an die Vierzig-Prozent-Marke heran.
Er hatte ja zwischenzeitlich höhere Umfragewerte als Angela Merkel. Als er das dann alles wieder rückgängig gemacht hat, weil das Willy-Brandt-Haus und die Referenten ihm dort gesagt haben, "Nein, nein, Hartz IV, da wollen wir nicht rangehen, das finden wir nach wie vor eine super Sache", da stürzte er natürlich wieder ab.
Also, sprich: Es gibt, und das merken wir auch an dem Zuspruch, den wir erfahren, es gibt ein unglaubliches Bedürfnis, dass dieses Auseinanderdriften der Gesellschaft, und zwar das ökonomische Auseinanderdriften der Gesellschaft, dass dem ein Riegel vorgeschoben wird; und dass es eine starke politische Kraft gibt in Deutschland, die sagt: "Umverteilung heißt nicht Umverteilung von unten nach oben, sondern Umverteilung heißt von oben nach unten."
"Aufstehen", um nicht zu explosionsartigem Unmut zu kommen
Deutschlandfunk Kultur: Wir erleben zurzeit in Frankreich, wie soziale Bewegung entstehen kann. Man könnte fast meinen, wie aus dem Nichts organisiert sich dort eine Bewegung tatsächlich von unten – "Die Gelben Westen" – Auslöser: eine geplante Erhöhung der Ökosteuern, der Steuern auf Diesel und Benzin. Schauen Sie da neidisch ins Nachbarland und denken, "Mann, warum kriegen die das hin und wir hier nicht?"
Stegemann: Eigentlich im Gegenteil. Ich denke, wir sind Gott sei Dank noch zwei Minuten vor der Explosion, die gerade in Frankreich passiert. In Frankreich gibt es ja nun einen Präsidenten, der mit einem Zeitraffertempo versucht, dieses Land auf neoliberalen Kurs zu bringen. Und es fliegt ihm momentan um die Ohren, dass er gesagt hat: "Ich kenne weder rechts noch links, ich kenne sozusagen nur Erfolg und Misserfolg."
Und jetzt sagen die Demonstranten der Gelben Westen: "Okay, du kennst nicht mehr rechts noch links, dann sagen wir dir, wir sind nicht rechts und nicht links, wir sind einfach gegen dich." Und das ist eine Härte in der Konfrontation, die wie aus einem sozialen Sprengstoff heraus geboren wurde, wo sich diese Schicht des Macron, die Macron gewählt hat, immer weiter abgelöst hat von den realen Problemen dieser Menschen, die sagen, "Ich brauche aber mein Auto, um zur Arbeit zu kommen. Es kann doch nicht sein, dass ich jetzt hier eine Ökosteuer bezahlen muss und die Reichen, die das so gerne haben, die die Welt immer retten wollen, sich nicht darum kümmern, dass ich ja bis zum Monatsende kommen muss mit meinem Geld." Das ist der große Unmut, der sich dort Bahn bricht.
"Aufstehen" ist ja unter anderem auch der Versuch, dass es nicht zu so einer Art von Unmut kommt, dass der Druck im Kessel nicht so weit steigen muss, dass es zu explosionsartigem Unmut kommt, wie es jetzt gerade bei den "Gelben Westen" kommt.
Die Gelben Westen sind Groll
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt ist für viele noch gar nicht so ganz klar, was für einen Charakter hat diese Bewegung "Die gelben Westen". Ist es eine linke Bewegung? Wenn wir uns erinnern, Macron will die Ökosteuern erhöhen, um den Ausstoß von Treibhausgasen zu verringern. Das ist ja jetzt per se nichts Neoliberales. Warum sind die "Gelben Westen" links?
Stegemann: Die "Gelben Westen" sind weder links noch rechts, auch nach ihrem eigenen Verständnis nicht. Das ist das Problem. Sie sind ein Groll. Sie sind eine Wut. Und die ist erstmal etwas Außerpolitisches und etwas Vorpolitisches. Und das ist das Gefährliche daran.
Da muss man als Gesellschaft drauf aufpassen, dass die Wut sich nicht so weit steigert in bestimmten Teilen der Gesellschaft, dass sie sich in gewisser Weise unthematisch Bahn bricht. Das ist sozusagen die große Gefahr und das große Potenzial, was darin liegt. Man wird jetzt sehen, in welche Richtung die sich wirklich entwickeln. Das wissen die, glaube ich, können sie selber noch gar nicht wissen.
Und zu sagen, dass die Ökosteuer ein linkes Projekt ist, da kann ich nur sagen: Da muss man den Unterschied zwischen linksliberal, also schwarz-grün, und tatsächlich den sozialen linken Fragen wieder aufmachen. Natürlich ist es gut, sich um den Umweltschutz und die Klimaerwärmung zu kümmern. Aber warum müssen das denn nun gerade die Ärmsten der Gesellschaft machen? Warum kann man dann nicht sagen: Okay, dann besteuern wir mal das Flugbenzin für die ganzen Leute, die mit ihren Privatjets durch die Gegend fliegen. Oder warum erheben wir keine Vermögenssteuer? Oder warum machen wir nicht Dinge, die primär erstmal die reichen Menschen treffen? Warum muss es dann einfach sein, dass es überproportional die armen Menschen trifft?
"Dritter Weg" war Neoliberalisierung
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben gesagt, die sozialen Gegensätze wachsen. Gleichzeitig sehen wir sozialistische Parteien in Frankreich fast verschwunden, die SPD hier im Niedergang. Warum profitieren die da nicht? Warum finden die keine Ansprache mehr für diese Menschen, die Sie jetzt adressieren?
Stegemann: Na ja, ich würde erstmal sagen, weil sie die falschen Themen haben und weil sie die falschen Dinge groß machen. Das ist der Punkt. Die sozialdemokratischen Parteien haben sich durch die Agenda 2010 in Deutschland, ja ganz mit Händen zu greifen, aber auch Tony Blair in Großbritannien und überall, der sogenannte "Dritte Weg", wie es hieß Ende der 90er Jahre, war eine Neoliberalisierung der linken Politik.
Das heißt, man hat gesagt: "Wir können in einer globalen Marktwirtschaft mit nationalen wohlfahrtsstaatlichen Regelungen eigentlich gar nichts mehr ausrichten, weil, dann vermindern wir unsere Wettbewerbsfähigkeit im globalen Markt. Also verlagern wir unser Politikspektrum weg von der Sozialpolitik hin auf die sogenannte Anerkennungspolitik". Das heißt, alle Themen, die im Prinzip nichts kosten, aber den Menschen das Gefühl geben von Liberalisierung, also persönlicher Steigerung der Freiheitsrechte, das war das neue Programm des "Dritten Weges" der Sozialdemokratie.
Damit hat sie natürlich sich ganz klar in den neoliberalen Mainstream eingeklinkt und ganz klar gesagt: "Wir kämpfen nicht mehr gegen die gesteigerte Ausbeutung einer globalen Wirtschaft, sondern wir kleben so eine Art Trostpflaster überall drauf und sagen, ja ihr werdet alle irgendwie etwas liberaler leben, aber mehr Geld bekommt ihr nicht."
"Vermögensungleichverteilung größer als vorm Ersten Weltkrieg"
Deutschlandfunk Kultur: Seit 2005 geht es den meisten Menschen besser. Wir haben viel mehr Beschäftigung. Die Arbeitslosigkeit hat sich halbiert. Ist das so falsch?
Stegeman: Na ja, die Statistik sagt ja vor allem was anderes. Der Niedriglohnsektor ist immens gewachsen. Und das untere Drittel der Einkommen hat in den letzten zwanzig Jahren um zehn Prozent Einkommensverluste hinnehmen müssen im Gegensatz zum oberen Drittel der Gesellschaft, die viele Prozentpunkte gewonnen haben.
Das heißt, die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, nicht nur in den Einkommen, sondern auch im tatsächlichen Besitz. Wir wissen ja alle, dass irgendwie diese 45 Familien genauso viel besitzen wie die untere Hälfte der Gesellschaft. Diese Statistiken sind ja alle klar.
Und jedes Jahr erneut wird gesagt: "Die Schere ist noch wieder ein Stückchen mehr auseinander gegangen." Wir haben ja eine Vermögensungleichverteilung in Deutschland, die ist größer als vor dem Ersten Weltkrieg. Und niemand würde doch sagen, dass das Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg eine irgendwie gerechte, faire, egalitäre Gesellschaft gewesen wäre. Das war eine Dreiklassengesellschaft.
Deutschlandfunk Kultur: Das sind die Zahlen des französischen Wirtschaftshistorikers Thomas Piketty, die aber auch durchaus umstritten sind.
Stegemann: Ja, ist ja klar, dass sozusagen die Vertreter des Kapitals alle Mühe aufwenden, um irgendwie zu beweisen, dass das ja womöglich vielleicht alles gar nicht stimmen kann.
Die SPD und "Gratismut"
Deutschlandfunk Kultur: Wenn wir jetzt schauen, die SPD hat in den vergangenen Jahren ja doch einiges versucht zu unternehmen, auch um ihr Hartz-IV-Trauma zu bekämpfen. Sie hat den Mindestlohn eingeführt. Sie hat in der Rentenpolitik viel unternommen, will jetzt Sicherungslinien einziehen. Also, dass da gar nichts passiert, kann man eigentlich nicht mehr so sagen. Warum verpufft das trotzdem?
Stegemann: Es verpufft so lange, wie sie in der Regierung sind und immer wieder sagen: "Na ja, wir würden gerne was anders machen. Wir sind zwar in der Regierung, aber leider dürfen wir nicht."
Das ist eine sehr unbefriedigende Aussage. Und sie müssten den Mut haben und sagen: "Okay, dann gehen wir aus der Regierung raus. Wir erfinden uns tatsächlich neu" und nicht nur ein bisschen Korrektur und Minderung der größten Fehler von Hartz IV, sondern tatsächlich einer neuen linken Erzählung, um dann zu sagen: "Dafür wollen wir jetzt, verdammt noch mal, die Mehrheit in diesem Land hinter uns bekommen, damit wir das auch machen können."
Das ist dann sozusagen, früher hätte man gesagt, "Gratismut". Also, die tragen irgendwas vor und im nächsten Satz sagen sie: "Ja, aber die CDU lässt uns das nicht machen." Ja, was soll man denn dazu sagen?
Deutschlandfunk Kultur: Dann ist aber doch umso erstaunlicher, dass die Partei, die als schärfste Kritikerin seit Erfindung von Hartz IV aufgetreten ist, nämlich die Linkspartei, davon so überhaupt nicht profitieren kann. Wie kann das sein?
Stegemann: Ja, das ist tatsächlich ein großes Rätsel. Und das kann eigentlich nur daran liegen, dass die Linkspartei mit dieser Botschaft nicht mehr durchdringt, weil vielleicht andere Botschaften der Linkspartei momentan das auch übertönen. Also, das Stichwort der Flügelkampf zwischen dem sogenannten Kipping-Flügel und dem Wagenknecht-Flügel ist dafür ja relativ modellhaft, dass der Kipping-Flügel immer mehr wiederum auf die grünen Themen der Anerkennungspolitik setzt, und die Open-Border-Frage immer moralisch diskutiert, und dem sozialen Flügel, dem Wagenknecht-Flügel, sozusagen innerparteilich immer so in die Rolle des Aschenputtels zugeschoben wird. Es heißt: "Na ja, das ist ja das. Was die wollen, das will eigentlich die Linkspartei ja nicht."
Das heißt, ich treffe sehr viele Menschen, und zwar auch immer schon, schon seit vielen Jahren, die mir sagen: "Ich würde sehr gerne die Linkspartei wählen, aber ich wähle ja, wenn ich die Linkspartei wähle, gar nicht den Wagenknecht-Flügel, sondern genau den anderen Flügel. Und den will ich gerade nicht wählen, weil, wenn ich den wählen wollen würde, dann würde ich ja die Grünen wählen."
Soziale Frage - der Kern linker Politik
Deutschlandfunk Kultur: Herr Stegemann, Sie haben ein Buch geschrieben, gerade rausgekommen vor wenigen Tagen: "Die Moralfalle", Untertitel: "Wie die linke Politik befreit werden muss". Muss die linke Politik befreit werden? Und wenn ja, wovon?
Stegemann: Also, die linke Politik ist dabei, sich selber abzuschaffen. Wenn man mal SPD und Linkspartei zusammen rechnet, kommt man gerade, glaube ich, auf 22 Prozent bei den Umfragen.
Deutschlandfunk Kultur: Wenn man die Grünen noch dazu nimmt, sind es immerhin 40.
Stegemann: Gut, dann können wir die Merkel-CDU auch dazu nehmen. Also, die Grünen sind ja definitiv keine linke Partei mehr, sondern, wenn überhaupt, eine links-liberale Partei. Das linke Spektrum, darunter verstehe ich ein Spektrum, dessen Kern von Politik die soziale Frage ist – das ist der Kern von linker Politik seit dem 19. Jahrhundert. Also, es geht um die Eigentumsfrage. Es ist die Vermögensfrage. Es ist die Frage, wie gesellschaftlicher Reichtum sozialisiert wird, wie er verteilt wird und wie für alle Menschen möglichst gleichwertige Chancen für ihr Leben durch die Politik gestaltet werden kann. Das ist das Zentrum linker Politik, so wie ich es verstehe.
Und dieses Zentrum ist offensichtlich sehr stark in Vergessenheit geraten auf der linken Seite. Und es sind sehr, sehr viele Themen hinzu gekommen, die alle richtig sein mögen, aber die dieses Zentrum nicht mehr treffen.
Deutschlandfunk Kultur: Die Linkspartei stellt doch das gerade in den Mittelpunkt: höhere Hartz-IV-Sätze, Grundsicherung von tausend Euro, höhere Renten. Das ist ja alles schon da und das wirkt trotzdem nicht. Sind es vielleicht die falschen Folgerungen?
Stegemann: Das glaube ich nicht. Ich glaube, wie ich eben schon sagte: Die Linkspartei ist ja darin auch gespalten. Das heißt, wenn man die Linkspartei wählt, weiß man gar nicht so genau, ob man eigentlich so eine Art Kopie der Grünen wählt in Form des Kipping-Flügels, oder tatsächlich diese harten sozialen Forderungen in Form des Wagenknecht-Flügels.
Zweiter Grund, momentan, glaube ich, sogar noch der viel wichtigere ist, dass die Linkspartei ja überhaupt keine Machtoption hat. Das heißt, viele Menschen haben natürlich auch das Gefühl, wenn sie die Linkspartei wählen, ist ihre Stimme mehr oder weniger verloren, weil, eine 50-Prozent-Marke im Bundestag ist in so unendlich weite Ferne gerückt, dass es überhaupt für viele keinen Sinn zu machen scheint, das überhaupt noch zu wählen. Und dann bleiben sie vielleicht einfach zu Hause.
Wieviel vom Arbeitslohn bleibt beim Arbeiter?
Deutschlandfunk Kultur: Und wie kommt man da weiter?
Stegemann: Indem man die linke Politik, die sehr viele Menschen sich wünschen und wo sehr viele Menschen auch sehr von profitieren würden, wieder so kommuniziert; und indem man wieder eine linke Erzählung hat, die eingängig ist, die man verstehen kann, wo man sich dann anschließen kann und auch in gewisser Weise drin wiederfindet mit seinen eigenen Problemen. Diese linke Erzählung muss wieder neu formuliert werden und muss wieder neu öffentlich kommunizierbar gemacht werden.
Deutschlandfunk Kultur: Was heißt denn das konkret? Woran denken Sie? Rückkehr zu altmarxistischen Forderungen, wie sie vielleicht in den 70er Jahren gängig waren, das lockt doch hier keinen mehr hinter dem Ofen hervor.
Stegemann: Ich würde ja auch widersprechen, dass in den 70er Jahren altmarxistische Forderungen erhoben wurden. Die SPD hat ganz einfach Sozialstaatspolitik gemacht. Die Gewerkschaften haben gesagt: "Pass mal auf, wir wollen eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich." Das war eine konkrete Forderung. Da wusste jeder, der arbeitet, was damit gemeint ist. Der hat nämlich dann den Freitag früher frei und konnte sagen, "Prima, das finde ich sehr gut".
Und das ist der klassische Streitpunkt: Wieviel vom Arbeitslohn verbleibt sozusagen bei dem, der arbeitet? Und wieviel fällt in die Hände dessen, dem die Produktionsmittel gehören? Wenn Sie das "altmarxistisch" nennen, gut, ich finde, das ist einfach eine relativ simple Gesetzmäßigkeit der Wirtschaftsordnung, in der wir alle leben.
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt haben wir eine Globalisierung erlebt in den vergangenen Jahrzehnten, der sich auch ein Land wie Deutschland nicht ganz entziehen kann. Welche Rezepte haben Sie da, wenn es darum geht, anständige Löhne zu sichern, den Sozialstaat zu erhalten?
Stegemann: Die Globalisierung ist ja auch nicht vom Himmel gefallen. Das ist ja auch ein Produkt, was in den 90er Jahren so richtig Fahrt aufgenommen hat, wo überall neoliberale Regierungen an die Macht kamen, die sagten: "Weg mit den Grenzen, weg mit den Handelsbeschränkungen. Alle Wirtschaften sollen miteinander in Konkurrenz treten." Und wenn die Wirtschaftsräume miteinander in Konkurrenz stehen, dann stehen vor allem erstmal die Arbeitslöhne zueinander in Konkurrenz. Und da hat es natürlich eine unglaubliche Verschiebung in den ökonomischen Gewichten in der Welt gegeben. Da stehen wir mitten drin.
Und genauso wenig, wie das vom Himmel gefallen ist, fällt natürlich vom Himmel, dass man als Staat versucht, jetzt die größten sozialen Ungleichheiten, die daraus entstehen – und sie entstehen ja nicht nur in Deutschland, die entstehen ja global, es gibt ja global ein Auseinanderdriften des unteren Drittels oder der unteren Hälfte, muss man sogar sagen, der Menschen und dem Rest – und das ist sozusagen etwas, dem man natürlich auf jeder Ebene, auf der man überhaupt politisch aktiv werden kann, widersprechen muss.
Partei der Besserverdienenden
Deutschlandfunk Kultur: Die Grünen sind 2013 angetreten und haben gesagt: "Wir fordern höhere Steuern, um zum Beispiel mehr Geld für Bildung zu haben, den Klimaschutz zu finanzieren" etc. Sie sind damit fürchterlich abgestraft worden. Und dann haben sie es sein gelassen. Das heißt, mit dem, was sie fordern, mehr Staat, mehr soziale Fürsorge, was ja auch mehr Geld kostet, was dann vielleicht auch höhere Steuern bedeutet, damit sind schwer Wahlen zu gewinnen.
Stegemann: Na ja, ich würde ja sagen, die Grünen sind immer sehr schnell darin, Positionen aufzugeben, die womöglich nicht mehr ganz so populär sind. Man erinnere sich an die Vermögenssteuer, die sie auf ihrem Parteitag beschlossen haben. Und das war, glaube ich, der allererste Punkt, den sie bei den Koalitionsverhandlungen mit Schwarz-Gelb aufgegeben haben.
Also sprich: Immer wenn die Grünen das Gefühl haben, ach je, das ist vielleicht nicht so populär, dann sind sie seit einiger Zeit auf dem Trip, dass sie denken: "Wir müssen das alles so formulieren, dass es alle gut finden." Und Robert Habeck ist ja auch ein Weltmeister darin, alles so zu formulieren, dass es für alle gut klingt.
Warum die Grünen abgestraft wurden für höhere Steuern, kann man nur sagen: Das war vielleicht etwas diffus formuliert mit den höheren Steuern. Man hätte nämlich klar sagen müssen, es sind höhere Steuern nicht für die unteren Einkommensklassen, sondern natürlich für die oberen Einkommensklassen, also sprich, die Steuerprogression hätte man verändern müssen. Dann hätten sozusagen die Grünen-Wähler, und das ist natürlich das Problem, das die Grünen haben: das höchste Durchschnittseinkommen der Wähler liegt bei den Grünen. Das heißt, die Grünen sind eine Partei der Besserverdienenden. Damit haben sie natürlich ihrer eigenen Klientel widersprochen. Darum sind sie abgestraft worden.
Das zeigt aber nur, dass die Grünen keine linke Partei sind, sondern sie sind sozusagen eine Partei des Linksliberalismus, also eine Partei, die sozusagen den Besserverdienenden in den besseren Vierteln, mit höheren akademischen Ausbildungsgraden, ein Gefühl von Nachhaltigkeit, von moralischer Integrität und so weiter vermitteln. Aber es sind keine Menschen und keine Wähler, denen die soziale Frage tatsächlich irgendwie am Herzen läge.
Deutschlandfunk Kultur: Aber sie sind damit erfolgreich. Und so ganz haben sie die vielleicht auch noch nicht aus dem Blick verloren. Wie die Linkspartei fordern auch die Grünen eine Mindestsicherung von 1000 Euro.
Stegemann: Ja, das ist jetzt ein ganz nagelneuer Vorschlag von Robert Habeck. Da muss man erstmal gucken, wie die Grüne Partei darüber diskutiert. Und man muss vor allen Dingen mal gucken, was damit tatsächlich gemeint ist.
Deutschlandfunk Kultur: Wäre das ein Ansatz, wo Sie sagen, das könnte ein Schritt sein, um die sozialen Belange wieder in den Mittelpunkt zu rücken?
Stegemann: Ja, es wäre zu hoffen. Ja. Aber dafür ist, zumindest meiner Kenntnis nach, der Vorschlag noch ein wenig zu neu.
Gleichheit oder Chancengleichheit?
Deutschlandfunk Kultur: Versuchen wir es trotzdem konkret zu machen. Sie haben die Kluft auch bei den Vermögen, bei den Einkommen angesprochen. Wie kommt man dem bei? Wie kommen wir wieder zu mehr Egalität, zu mehr Gleichheit? Ist das überhaupt ein Ziel, das man verfolgen muss? Oder wäre nicht schon auch viel erreicht, wenn wir sagen, wir haben ähnliche Chancen, wir haben die Möglichkeit für alle, tatsächlich hier auch was zu werden?
Stegemann: Es geht natürlich erstmal um die Chancengleichheit bei den Lebensbedingungen. Und da wieder nur eine berühmte Statistik: Wenn nur zwanzig Prozent der Kinder von Nichtakademikern, aber achtzig Prozent der Kinder von Akademikereltern das Abitur machen, dann ist einfach eine gigantische Ungleichheit in den Startbedingungen.
Ich kann nicht glauben, dass es genetische Gründe haben soll, warum Kinder von Akademikereltern so viel intelligenter sind als die Kinder von Nichtakademikereltern. Sprich: Da hat der Staat, da hätte eine Gesellschaft, die überhaupt so etwas wie Gleichheit und liberales Leben sich auf die Fahne schreibt, doch ganz massiv versagt. Und das kann man auf alle anderen Bereiche ausdehnen.
Es gibt eine große Chance, es gibt eine viel höhere Sterblichkeit in den unteren Klassen der Gesellschaft. Es ist sozusagen eine viel höhere Lebenserwartung, je reicher man wird in diesem Land. Also, es gibt auf jeder Ebene, sowohl was die ganz schlimmen Dinge wie den eigenen Tod anbelangt als auch, was die Bildung anbelangt, also auch, was sozusagen die Chancen, bestimmte Berufe ergreifen zu können usw. usw., gibt es doch, was Luhmann so schön sagt, "die gebündelte Ungleichverteilung".
Und da kann man doch als Gesellschaft, die sich irgendwie einer sozialdemokratischen Hoffnung, Utopie immer noch verschrieben hat, nicht einfach die Hände in den Schoß legen und sagen: "Wir leben in einer globalisierten Welt. Wir stehen in Konkurrenz mit China. Also muss im Prinzip auch ein Drittel unserer Gesellschaft so leben wie die chinesischen Wanderarbeiter."
"Verlust einer Hoffnung"
Deutschlandfunk Kultur: Wie wird aus moralischer Empörung Bewegung, politische Kraft?
Stegemann: Ich hoffe nicht, dass ich moralisch empört klang. Das ist nicht eine Frage der Moral, sondern es ist erstmal eine Frage einer relativ materiellen Analyse der Realität und dann ein simples Aufzeigen von Ungleichheit.
Jetzt kann man sich natürlich politisch auf den Standpunkt stellen wie Friedrich Merz und sagen: "Na ja, Ungleichheit ist halt so. So sind die Menschen halt, sind halt ungleich." Oder man kann sagen: "Ja gut, natürlich sind die Menschen ungleich, sind alle Individuen, aber sie mögen doch bitte dieselben Chancen haben, ihre Individualität so entwickeln zu dürfen, wie es ihnen gemäß ist."
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt sehen wir bei den letzten Wahlen, dass diejenigen, die sich von den linken Parteien nicht mehr angesprochen fühlen, zunehmend zur Rechten, zur AfD überwechseln, in Frankreich zum Front Nationale. Ist das die neue Heimstatt der sozial Schwachen, der Abgehängten?
Stegemann: Ja, definitiv, also, zumindest für Teile. Und das ist eine ganz, ganz schlimme Entwicklung, dass diese Menschen offensichtlich sich so ohnmächtig fühlen und so enttäuscht sind von den linken Parteien. Ich sage mal so: Wenn man sich als sozial Schwache sich den rechten Parteien zuwendet, dann ist das ja vor allem erstmal ein Zeichen dafür, dass er kein Vertrauen mehr hat in den Gesamtzusammenhalt einer Gesellschaft.
Weil das, was die rechten Parteien in Deutschland, aber auch in Frankreich auszeichnet, ist ja eine Art von Fundamentalopposition. Sie wollen ja gar nicht – zumindest die AfD und Le Pen sehr wahrscheinlich vielleicht auch nicht – wirklich regieren, sondern sie wollen einfach ein permanentes Vors-Schienenbeintreten-der-Gesellschaft.
Das ist Wut. Das ist sozusagen der Verlust einer Hoffnung, dass es für einen selber noch irgendwie schön werden könnte oder gut werden könnte in dieser Gesellschaft. Also, sprich: Sie katapultieren sich in gewisser Weise in ein Außerhalb. Das ist natürlich gesellschaftspolitisch eine Katastrophe, dass man Menschen, die sich schon ausgeschlossen fühlen, jetzt auch noch ein parteipolitisches Angebot machen lässt, was diesen Ausschluss in gewisser Weise radikalisiert und zu einer wirklichen Feindseligkeit der Gesellschaft und der Solidarität gegenüber übersteigert.
Für einen starken Sozialstaat
Deutschlandfunk Kultur: Es heißt dann immer, das sind Protestwähler. Das suggeriert, die meinen das eigentlich gar nicht so und die kriegen wir wieder zurück. Wenn man sich das anschaut, sieht man aber sowohl beim Front National wie auch bei der AfD, da gibt es sowas wie einen national-sozialen Flügel, der sagt: "Wir tun was für euch. Wir wollen höhere Renten. Wir schützen euch. Wir wollen keine Globalisierung. Wir ziehen die Mauern um dieses Land sehr hoch" – das Ganze grundiert dann mit einem rassistischen oder ausländerfeindlichen Unterton. Also, diese Hoffnung, dass die zurückkommen, könnte trügen.
Stegemann: Na ja. Wenn sie allzu lange dort belassen werden und sie allzu lange nicht die Chance darauf haben, wirklich wieder andere Angebote zu bekommen, verfestigt sich das. Das ist klar.
Umso dringlicher ist es, dass sie Gegenangebote bekommen, dass sie Angebote bekommen, die sagen: Wir sind für einen starken Sozialstaat, aber ohne die nationalistische Komponente. Wir sind für eine gleichberechtigte Lebensform, aber gleichberechtigt für alle Menschen, die hier leben, und nicht nur für alle mit dem deutschen Pass. Das sind Angebote, die sind meiner Meinung nach emotional auch sehr gut verständlich und die würden auch erstmal den Menschen froher machen, wenn er sie annehmen könnte, als wenn er sozusagen den Kampf um seine eigene Existenz immer verbinden muss mit dem Ausschluss von Fremden, von anderen und immer sozusagen begleiten muss mit einer großen Aggression dem anderen gegenüber. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass man damit glücklich leben kann.
Deutschlandfunk Kultur: Kann es sein, dass die Modernisierungsverlierer bei der AfD ein überzeugenderes Konzept gegen Globalisierung, gegen Wettbewerb, in dem sie nicht mithalten können, finden?
Stegemann: Nein, das glaube ich nicht.
Deutschlandfunk Kultur: Die AfD, wenn wir vielleicht auch noch Donald Trump zitieren, …
Stegemann: Ja, ja, ist schon klar.
Rechtspopulismus und Neoliberalismus
Deutschlandfunk Kultur: ... also, "wir müssen nur noch auf uns schauen, dann geht es allen besser. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass Industrie abwandert". Ob das dann tatsächlich funktioniert, ist eine andere Frage. Aber dieses Beziehen auf das rein Nationale als Versprechen, dass es allen besser gehen könnte, das klingt fantastisch.
Stegemann: Na ja. Das ist da, aber da sehen wir uns wirklich im Kern des Rechtspopulismus. Das ist natürlich eine berühmte einfache Lösung für ein sehr komplexes Problem. Und sie mag für bestimmte Ohren irgendwie verführerisch klingen. Aber wie jetzt ja man an allen Rechtspopulisten sehen kann, der Rechtspopulismus ist natürlich der reaktionäre Arm des Neoliberalismus. Also, Donald Trump hat als erstes mal die Steuern der Superreichen gesenkt. Das war das Erste, was er gemacht hat. Und er hat nicht dafür gesorgt, dass neue Industriearbeitsplätze im Rust Belt entstehen. Er hofft dann irgendwie, dass das daraus vielleicht entstehen könnte. Das tut es aber voraussichtlich gar nicht. Also, sprich: Die Menschen sind natürlich oft zutiefst enntäuscht in dem, weswegen sie ihn gewählt haben.
Und das wird kompensiert dann mit diesen krassen rassistisch-nationalistischen Sprüchen. Damit wird sozusagen wieder auch eine Form von Anerkennungspolitik betrieben, nämlich die Anerkennung sozusagen für Feindseligkeit, für Aggression und so weiter
Deutschlandfunk Kultur: Was ist die Antwort von "Aufstehen"? Was kann sie sein? Muss sie radikaler werden, um gehört zu werden?
Stegemann: Na ja, "Aufstehen" ist ja, wie wir jetzt gerade schon gehört haben, erst drei Monate alt: also, noch ein sehr, sehr kleines Kind, was gerade beginnt Laufen zu lernen. Und wir haben eine Gruppe seit einigen Wochen gebildet, die an einer Art – wir nennen das – "Regierungsprogramm" arbeitet, die tatsächlich diese linke Erzählung versucht in den unterschiedlichen Bereichen, die wir haben – Sozialpolitik, Europapolitik, Umweltpolitik. Und dann würden wir mit dieser neuen linken Erzählung tatsächlich versuchen, in die Öffentlichkeit zu gehen, und versuchen, dafür eine Mehrheit zu gewinnen.
Deutschlandfunk Kultur: Regierungsprogramm heißt, Sie wollen nicht nur mobilisieren, sondern Sie zielen darauf ab, auch umzusetzen, politische Mehrheiten zu finden. Da sind wir wieder bei der Frage: Wer sind denn da Ihre Bündnispartner?
Stegemann: Wir haben ja immer noch aus den drei Parteien – den zwei linken und der einen linksliberalen Partei – Mitglieder bei "Aufstehen". Und es gibt ja auch viele Parteilose bei uns. Aber es ist ja nicht ausgeschlossen, dass man als parteiloser Mensch auch in der Politik Einfluss bekommt. Also, das ist ja kein Widerspruch.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Stegemann, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Stegemann: Ja. Danke!
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