Aufstieg durch Bildung
Schon seit mehr als zehn Jahren nehmen die Leistungen der Schülerinnen und Schüler laut Studien ab - und dann kam auch noch die Pandemie. © picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild / Patrick Pleul
Ein Versprechen droht zu scheitern
04:17 Minuten
Schule soll eigentlich ungleiche Startbedingungen ausgleichen. Hierbei ist die Bildungspolitik in Deutschland fast komplett gescheitert, kommentiert Manfred Götzke. Eine neue Studie zeigt, dass viele Grundschüler schlicht zu wenig können.
Ein Drittel der Viertklässler in Bremen erreicht nicht mal die Mindestanforderungen im Lesen. Fast die Hälfte der Berliner Grundschüler scheitert an den Mindestanforderungen in der Rechtschreibung, ein Drittel der Kinder in NRW an den absoluten Grundfertigkeiten in der Mathematik.
Wir müssen uns klarmachen, was das heißt: Diese Kinder können nach vier Jahren Schule quasi nicht lesen, schreiben, rechnen. Defizite, die sie ihr Schulleben lang nur sehr schwer werden aufholen können - wenn überhaupt. Eine verlorene Generation.
Politikversagen im Lockdown
Die neue Bildungsstudie des IQB offenbart damit im Grunde nicht mehr und nicht weniger als den Totalausfall des deutschen Schulsystems in der Coronakrise. Ein Totalversagen der deutschen Bildungspolitik, angemessen, fair und gerecht auf die Lockdowns, die coronabedingten Schulschließungen zu reagieren.
Die Bildungspolitikerinnen und -politiker fast aller Bundesländer haben sich an denjenigen schuldig gemacht, denen sie besonders verpflichtet sein sollten: den Kindern aus Familien, in denen nicht oder nur wenig Deutsch gesprochen wird, in denen die Euros nicht so locker sitzen – und Bücherregale seltener vorhanden sind.
Wenn es die Aufgabe, das Ziel von Schule und Schulpolitik ist, Unterschiede, die Kinder nicht qua Intellekt, sondern qua Herkunft haben, auszugleichen, dann ist sie fast komplett gescheitert.
Veränderungen verschlafen
Und zwar nicht erst während der zwei Jahre Coronakrise. Denn das zeigen die Untersuchungen des Instituts zur Qualitätssicherung im Bildungswesen auch: Corona hat in den Schulen lediglich einen Trend verschärft, der sich schon seit den ersten bundesweiten Bildungstests von 2011 abzeichnet.
Schon seit mehr als zehn Jahren nämlich nehmen die Leistungen der Schülerinnen und Schüler ab – vor allem derjenigen mit migrantischem oder bildungsfernen Hintergrund.
Die Politik hat also versäumt, auf veränderte gesellschaftliche Realitäten angemessen zu reagieren – in den letzten zehn bis 15 Jahren hat sich der Anteil an Zuwanderern deutlich erhöht. Einen Migrationshintergrund hatten 2011 ein Viertel der Viertklässler, zehn Jahre später sind es fast 40 Prozent. Auch die soziale Spaltung in der Gesellschaft hat sich verschärft.
Mut zum Realismus
Dass es auch anders gehen kann, zeigt das Bundesland Hamburg, das sich bei den Bildungsvergleichen jahrelang die untersten Ränge mit den anderen Stadtstaaten Berlin und Bremen geteilt hat, in denen der Anteil von Kindern mit Migrationsintergrund besonders groß ist.
Hamburg hat schon vor Jahren seine Politik erfolgreich an die gesellschaftlichen Veränderungen angepasst: durch Sprachtests und frühe Sprachförderung, durch eine Konzentration auf die Kernfächer- und auch durch evidenzbasierte Bildungspolitik: In keinem anderen Bundesland werden Kinder so häufig getestet, die Bildungsverantwortlichen wissen hier, was funktioniert und was nicht. Sie können reagieren.
Mangel an guten Lehrkräften
Dass andere Bundesländer dem Hamburger Beispiel folgen, aus ihren Fehlern der Vergangenheit schnell lernen – es ist leider nicht allzu wahrscheinlich. Es fehlt deutschlandweit an den Leuten, die es richten können: gute Lehrerinnen und Lehrer. Diesen so wichtigen Beruf attraktiv zu machen, langfristig genügend Menschen für ein Lehramtsstudium zu gewinnen – auch da hat die Politik leider versagt.
Schule – wenn sie ihrer ureigenen Aufgabe nachkommt – muss ungleiche Startbedingungen ausgleichen. Aufstieg durch Bildung hat man das mal genannt. Die Realität 2022 heißt: Abstieg durch Bildungspolitik-Versagen.